März 1986, Achim

Die Hebamme verließ wortlos den Raum, eine Krankenschwester kam, um Karis Bett aufzuschütteln. Auch sie war schweigsam und redete nur das Allernötigste. Keine Frage, Kari war in Ungnade gefallen. War sie vorher noch die interessanteste aller Mütter gewesen, die Frau von Mike Heiser, die sich inkognito in der Knut-Augustin-Stiftung aufhielt, wurde sie jetzt angesehen wie eine Frau, deren schlechter Ruf dem Haus schaden konnte. Kari ertrug es wortlos, ohne eine Erklärung abzugeben, ohne sich zu beschweren und ohne zu klagen. Den größten Teil der Zeit verbrachte sie mit geschlossenen Augen, wurde nur aufmerksam und geradezu wachsam, wenn jemand kam, um Alisia zu holen, sie zu wickeln oder sie Kari in den Arm zu legen. Die Angst, man könne die Kleine schlecht behandeln, weil sie anders aussah als erwartet, war schon in dem Augenblick entstanden, in dem sie ihr kleines Mädchen zum ersten Mal sah. Wie eine Stichflamme war ihr Wunsch emporgeschossen, Alisia zu beschützen, und genauso hoch war die Flamme ihrer Angst gelodert, Alisia könnte ungerecht behandelt werden, unter ihrem Aussehen leiden müssen und kein glückliches Leben erwarten, weil sie nicht so aussah, wie Mike Heisers Tochter auszusehen hatte.

Als Indra sich in den Raum drückte, öffnete Kari die Augen und lächelte zum ersten Mal. »Schön, dass du mich besuchst.«

Indra wirkte verlegen, als wäre sie nicht sicher, wie Kari auf ihren Besuch reagieren könnte. »Wie geht’s dir?«, fragte sie so leise, als hätte sie das Zimmer einer Schwerkranken betreten.

Kari setzte sich auf. »Du hast schon gehört, dass bei mir etwas anders gelaufen ist als erwartet?«

Indras Gesicht wurde ängstlich. »Es stimmt also? Die Kleine ist krank?«

Nun lachte Kari verächtlich. »Wenn eine dunkle Hautfarbe eine Krankheit ist – dann ja.«

Indra runzelte die Stirn, sie verstand nicht, was Kari sagen wollte. Mit einem großen Schritt ging sie zu dem Babykörbchen und sah hinein. »O Gott, wie süß!« Mit verzückter Miene streichelte sie Alisias kleine Händchen. Dann richtete sie sich auf und sah Kari an. »Du hast gesagt, du wüsstest nicht …«

Kari ließ sie nicht zu Ende reden. »Ich weiß es immer noch nicht.«

»Aber …« Indra dachte eine Weile nach, dann ergänzte sie: »Gibt es mehrere Männer, die infrage kommen?«

Kari nickte. »Ich habe dir ja erzählt, dass es auf der Party von Mike im Juni passiert sein muss. An diesem Abend habe ich ihm angeboten, mich zu heiraten, damit endlich die Gerüchte von seiner Homosexualität verstummen. Ein ganz normales Geschäft. Wir haben einen Vertrag gemacht, jeder von uns hat Rechte und Pflichten. Als sich herausstellte, dass ich schwanger war, wurde alles noch besser für Mike. Einen deutlicheren Beweis für seine Heterosexualität gab es ja nicht. Jedenfalls: Auf dieser Party muss es passiert sein.«

»Du bist ganz sicher?«

»Ja, ganz sicher. Ich hatte einen totalen Filmriss und kann mich nicht mehr erinnern.«

»Kann es dann nicht auch bei einer anderen Party passiert sein?«

»Einen solchen Filmriss hatte ich schon lange nicht mehr. In den zwei, drei Monaten vor der Party jedenfalls nicht. Und danach erst recht nicht mehr. Vorher und hinterher habe ich mit keinem Mann geschlafen. Alisia kann nur auf dieser Party entstanden sein.«

»Wie viele Männer kommen denn infrage?«

Kari stieß ein bitteres Lachen aus. »Leider einige …« Als sie Indra erzählte, dass insgesamt sechs Männer mit dunkler Hautfarbe auf dieser Party gewesen waren, wurde sie sogar ein wenig verlegen. »Hast du schon mal von den Half Brothers gehört?«

»Die Jazzband?« Indra runzelte nachdenklich die Stirn. »Das sind fünf schwarze Männer mit einer blonden Frau.«

»Es war noch ein weiterer Mann da, der infrage käme. Ich habe ihn selbst mitgebracht.« Sie stand nun auf und stellte sich neben Indra vor das Babykörbchen, in dem Alisia schlief. »Mein Cappuccinchen! Könnte dieses Kind schöner sein, wenn es weiß wäre?«

»Nein, niemals!« Indra war voller Überzeugung.

Alisia schmatzte leicht, regte sich, versuchte, die Augen zu öffnen, was ihr aber nicht gelang. Ihre braunen Händchen griffen in ihr Gesicht, sie verzog den Mund und gab ein paar winzige Laute von sich. Dann entspannte sie sich wieder, die kleine Faust sank herab, der Schlaf hatte sie wieder.

Kari strich über ihren schwarzen Flaum, der sich schon jetzt leicht lockte. »Hans-Josef Keller stammt aus Äthiopien«, erzählte sie Indra leise. »Er gefällt mir sehr.«

Indra wiederholte den Namen erstaunt. »So heißt ein Mann, der aus Äthiopien stammt?«

»So heißt einer, der von deutschen Eltern adoptiert wurde. Sie wollten mit seinem Namen anzeigen, dass er durch und durch Deutscher ist, hier aufgewachsen, hier sozialisiert, hier zur Schule gegangen. Er ist mir gleich aufgefallen, als mein Vater ihn eingestellt hatte. Er nennt sich übrigens Hajo. Dieser Name passt wirklich besser zu ihm als Hans-Josef.«

»Und er könnte Alisias Vater sein?«

Kari flüsterte nun: »Ich wünschte, es wäre so. Wenn da nur nicht noch diese fünf Half Brothers wären …«

»Was wird dein Mann sagen, wenn er Alisia sieht?«

Kari schluckte. »Hoffentlich kommt er nicht gleich mit der ganzen Pressemeute hier an. Ich muss unbedingt mit ihm allein reden.«

»Natürlich wird er erst ohne die Presse zu dir kommen wollen. Niemand würde etwas anderes erwarten.«

»Aber was soll dann geschehen? Wenn diese Leute schon im Hotel darauf warten, hier ihre Fotos schießen zu dürfen …« Kari ließ sich wieder auf die Bettkante sinken. »Was soll Mike ihnen sagen, wenn daraus nichts wird? Das Kind ist krank? Die Mutter ist krank? Etwas anderes fällt mir nicht ein. Aber beides würde die Neugier der Schmierenpresse nur anstacheln.«

Indra lächelte mit einem Mal hintergründig. »Ich hätte da eine Idee …«