März 1986, Achim

Brit hatte keinen Appetit. Nach dem Frühstück würde sie zu Kari gehen müssen. Womöglich traf sie dort ihren Schwiegersohn an. Was sollte sie ihm sagen? Was sollte sie Kari sagen? Und was würde sie von ihr zu hören bekommen?

Direkt nach dem Erwachen hatte sie zum Telefon gegriffen und noch einmal mit Olaf gesprochen. Er war der Meinung gewesen, sie solle sich mit Beurteilungen und vor allem mit Verurteilungen zurückhalten, sich so wenig wie möglich einmischen und sich immer wieder sagen, dass dieses Problem vor allem ein Problem zwischen den Eheleuten sei. Olaf hatte gut reden! Noch immer war er nicht bereit, nach Achim zu kommen und das König Augustin allein zu lassen. Nun noch weniger als vorher. Brit glaubte durchschaut zu haben, dass er ganz froh war, sich außerhalb der Gefechtszone aufzuhalten und in Sicherheit vor haltlosen Anschuldigungen, unvorsichtigen Entgegnungen, fahrlässig formulierten Vorwürfen und Kränkungen jeglicher Art zu sein. Jetzt jedoch war sie zufrieden damit, dass Olaf nicht an ihrer Seite war. So sehr sie sich einerseits seinen Beistand wünschte, so war andererseits die Angst davor, dass Olaf mit einer unbedachten Äußerung die fragile Beziehung zu Kari vollends zerstören konnte, noch größer. Er war ein so geradliniger Mann, der nicht viel von Diplomatie hielt. Er würde Kari womöglich vorhalten, was sie ihrem Kind antat, das aufwachsen musste, ohne zu wissen, wer sein Vater war. Und dann würde unverzüglich Karis Antwort kommen, in der sie Brit und Olaf vorhielt, dass sie es selbst nicht anders gehalten hatten. Und sie hatte ja recht. Brit durfte ihrer Tochter nicht mit Vorhaltungen kommen. Es ging jetzt nur um die kleine Alisia, die die Liebe ihrer Eltern und Großeltern brauchte. Und natürlich um Karis Ehe, die aber vermutlich mit dem Augenblick der Geburt bereits zerrüttet war. Doch Brit wusste auch, wie wichtig Mike seine Karriere war, seine Fernsehshow und damit seine untadeligen familiären Verhältnisse. Aber wie sollte das alles zu bewerkstelligen sein, wenn die Presse Wind davon bekam, dass das Baby, das heute durch alle Gazetten ging, das Kind von Indra Wiemann war? Olaf war der Meinung gewesen, dass Kari dieser Betrug an der Öffentlichkeit nicht angelastet werden konnte. Die Öffentlichkeit war ja selbst schuld! Durch ihre Neugier, durch diese widerliche Schlüssellochguckerei, wie Olaf es nannte, provozierte sie solchen Schwindel ja geradezu. Was blieb Prominenten anderes übrig, als zu lügen, wenn sie ihr Privatleben schützen wollten?

Brit hörte auf, sich Gedanken zu machen, und versuchte auch nicht mehr, etwas zu essen, obwohl sie andererseits glaubte, dass sie an diesem Tag viel Kraft nötig haben würde. Sie schob den Teller beiseite und erhob sich … aber sank auf ihren Stuhl zurück, als sie die Stimmen hörte, die aus der Lobby kamen. Ein Mann, der nach Brit Rensing fragte! Und dann die Stimme des Rezeptionisten, der ihm beschied, dass eine Frau Rensing nicht in diesem Hotel zu Gast sei.

Die Stimme von Edward Heflik wurde lauter. »Sie muss hier wohnen.«

Brit sprang auf und lief in die Lobby. Ihr Vater hatte sich wohl entschlossen, so lange auf den Rezeptionisten einzureden, bis dieser zugab, dass Brit Rensing im Haus für gefallene Mädchen wohnte, während Brits Mutter mit leiser Stimme versuchte, ihn davon abzubringen. »Wenn er sagt, sie wohnt hier nicht, dann wird das wohl so sein …«

»Mama! Papa!« Brit lief auf die beiden zu, so schnell, als könnte sie noch irgendetwas verhindern, als könnte sie die Worte ihres Vaters ungesagt machen. Sie gab dem Mitarbeiter an der Rezeption ein Zeichen, murmelte ihm ein »Danke« zu und zog ihre Eltern mit sich.

»Wieso kennt dich hier niemand?«, fragte ihr Vater aufgebracht.

Brit warf einen Blick zurück und bemerkte, dass die Augen des Rezeptionisten sehr nachdenklich auf ihr ruhten. Als er sich der Tür zuwandte, die ins Büro des Hoteldirektors führte und dort anklopfte, seufzte sie tief auf. Sie würde hier niemandem mehr weismachen können, dass sie wirklich Brit Heflik hieß.

Sie dirigierte ihre Eltern nach draußen und erklärte ihnen kurz, warum sie inkognito hier abgestiegen war.

»Das konnten wir ja nicht wissen«, tönte ihr Vater, obwohl ihm kein Vorwurf gemacht worden war.

»Wir wollen doch nur Kari besuchen«, sagte ihre Mutter leise und rang die Hände, als wollte man sie von Enkel- und Urenkeltochter fernhalten.

Brit betrachtete ihre Eltern. Den vierschrötigen Vater, der das Lächeln nun wohl endgültig verlernt hatte, die zaghafte Mutter, die im häuslichen Bereich an Kraft und Bedeutung zugenommen hatte, jedoch hier, in der ungewohnten Atmosphäre eines Hotels, so mutlos wirkte wie in ihrer Jugend.

»Natürlich könnt ihr Kari besuchen«, sagte Brit begütigend. »Kommt, wir gehen gemeinsam zu ihr.«

Frida sah ihre Tochter ungläubig an. »Du hast so komisch geklungen am Telefon. Und eigentlich wolltest du nicht, dass wir herkommen. Da dachten wir … Es hörte sich so an … Also …«

»Ja, ich hätte es euch gern erspart.« Brit ging den beiden voraus auf die Straße und wandte sich nach links, wo es nach etwa hundert Metern in das Anwesen der Knut-Augustin-Stiftung ging.

Frida folgte ihr eilig. »Es stimmt also? Mit dem Baby ist was nicht in Ordnung?«

Edward fiel zurück. »Habt ihr vergessen, dass ich ein lahmes Bein habe?«

Brit blieb stehen und entschuldigte sich. Dann wandte sie sich an ihre Mutter. »Ob mit dem Baby alles in Ordnung ist, darfst du gleich selbst entscheiden …«