März 1986, Achim
Nicole saß vor ihrer Schreibmaschine, Romy den Rücken zugewandt, und starrte auf die Tasten, als dächte sie über die Rechtschreibung eines Wortes nach. Sie trug an diesem Tag eine neue Hose, eine Karottenhose, auf die sie sehr stolz zu sein schien. Hellgrün war sie und betonte ihren breiten Unterkörper nicht gerade vorteilhaft. Zum Glück hatte sie darüber eine weite Bluse angezogen, neongelb, die ihre ausladendste Problemzone verdeckte und durch dicke Schulterpolster die Blicke auf einen Punkt richtete, an dem Nicole einigermaßen schmal gebaut war. Trotzdem überlegte Romy, ob sie ihrer jungen Kollegin den Tipp geben sollte, ihren Körper anders zu betonen, unterließ es dann aber. Nicole hatte ihr schon kurz nach dem Arbeitsantritt erzählt, dass sie am Abend zu einer Party eingeladen war. Von André, einem Freund ihres Bruders, in den sie schon seit Langem verliebt war. Endlich schien er angebissen zu haben. Er hatte sie bereits einmal in ein Café in Bremen eingeladen und ihr sogar Sekt spendiert. Und nun diese Einladung zur Party! Nicole war voller Vorfreude. Verunsicherung durch Kritik an ihrem Outfit, mochte sie auch noch so gut gemeint sein, konnte sie jetzt nicht gebrauchen.
Nun drehte sie sich um. »Ich würde so gern Karis Baby sehen.«
»Später.« Romy griff nach einer Akte und blätterte sie durch, als gäbe es viel zu tun. Brit hatte ihr am Abend vorher das Versprechen abgenommen, über Alisias Hautfarbe zunächst zu schweigen. Ehe es die Familie in Riekenbüren erfuhr, wollte sie erst wissen, wie Mike damit umging, ob mit sofortiger Scheidung zu rechnen war oder ob er womöglich bei der Schmierenkomödie blieb, die er der Presse vorgeführt hatte, indem er Kari ein weißes Baby in den Arm legte. Es war nicht auszuschließen, dass Mike die Wahrheit so lange vertuschen wollte, bis seine Fernsehshow angelaufen und ein Erfolg geworden war. Vielleicht spielte es dann keine Rolle mehr, dass seine Frau ein dunkelhäutiges Kind bekommen hatte.
Aber dieser Plan konnte natürlich nur gelingen, wenn so wenige Menschen wie möglich Alisia zu Gesicht bekamen. »Du hast die Kleine doch schon in der Zeitung gesehen.«
Ehe Nicole darauf antworten konnte, öffnete sich die Tür, und Samy Angermann kam herein. Ein blendend aussehender Mann, der nicht nur wegen seiner guten Stimme, sondern auch wegen seiner Attraktivität Karriere gemacht hatte.
Romy warf sich sofort in Positur. »Was können wir für Sie tun? Wie geht’s Indra und dem Baby?« Ihr Strahlen fiel in sich zusammen. »Gibt’s ein Problem?«
Ihre Frage war verständlich, denn Samy Angermann, sonst immer souverän, mit dem Lächeln auf den Lippen, das er auch trug, wenn er sich vor seinem Publikum verbeugte, wirkte jetzt nervös. Aber er gab sich Mühe, seine Unruhe zu verbergen. Er wirkte so, als wäre er nur in ihr Büro gekommen, um etwas zu besprechen. Trotzdem fiel Romy auf, dass er immer wieder aus dem Fenster blickte, als wäre er auf dem Sprung und als würde er die Flucht ergreifen, wenn draußen ein Auto vorfuhr.
»Ich wollte schon seit Längerem mal mit Ihnen sprechen«, behauptete er jetzt und strich sich fahrig über das volle dunkle Haar. Dabei sah er nicht Romy, sondern Nicole an. »Ich habe neulich mitbekommen, dass Sie Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten haben.«
Nicole lief rot an wie immer, wenn sie auf ihr Defizit angesprochen wurde.
»Man hat Sie deshalb auf die Sonderschule geschickt?«
Romy wollte Nicole beistehen. »Dabei ist sie in allen anderen Fächern gut. Die rechnet Ihnen jeden Dreisatz im Kopf aus.«
»Das glaube ich.« Samy ging zum Fenster und sah hinaus. »Wissen Sie, womit ich mein Geld verdient habe, bevor ich ins Showgeschäft einstieg?« Er drehte sich wieder um.
Romy schüttelte den Kopf, Nicole starrte ihn nur an.
»Ich bin Psychologe. Als Schulpsychologe habe ich gearbeitet. Und dabei sind mir viele Fälle junger Menschen mit Lese- und Rechtschreibproblemen begegnet.« Wieder sah er Nicole eindringlich an. »Man hat Ihnen eingeredet, dass Sie für den Besuch einer Regelschule nicht geeignet sind?«
»Ich bin zu dumm«, flüsterte Nicole.
»Bist du nicht«, fuhr Romy sie an. »Das habe ich dir schon oft gesagt.«
»Frau Wimmer hat recht«, bestätigte Samy Angermann und sah mit langem Hals aus dem Fenster, als erwartete er jemanden. »Sie sind nicht dumm, Sie sind Legasthenikerin.«
Nicole starrte ihn mit offenem Mund an. »Was?«
»Das habe ich noch nie gehört«, meinte auch Romy.
»Dabei wird schon seit den Dreißigerjahren diesbezüglich geforscht«, erklärte Samy Angermann. »Legastheniker sind nicht dumm. Sie haben nur Probleme mit der Umsetzung von gesprochener Sprache in geschriebene Sprache.«
Nicoles Miene erhellte sich, fiel aber gleich wieder in einen Schatten. »Ich bin … krank?«
Samy Angermann kam nicht dazu, ihr zu antworten. Wieder warf er einen Blick aus dem Fenster, diesmal erschrak er. »Gibt’s einen hinteren Ausgang?«
Er wartete eine Antwort nicht ab, sondern hatte schon selbst die Tür entdeckt, die dem Eingang gegenüberlag. »Indras Eltern sind gekommen. Besser, ich begegne ihnen nicht.«
Im Nu war er verschwunden. Romy und Nicole hörten seine Schritte auf dem Gang, dann eine weitere Tür klappen. Jetzt musste er im Garten angekommen sein.
Die beiden starrten sich noch immer verblüfft an, als sich die Eingangstür öffnete und ein Ehepaar eintrat. Die beiden mochten Mitte vierzig sein, waren gut und teuer gekleidet, hatten angenehme Manieren. Höflich grüßten sie und baten darum, eine Frage stellen zu dürfen. Der Mann rückte seine Brille zurecht, die Frau warf den Kopf zurück und ließ ihre blonden Haare fliegen. Beide lächelten verbindlich.
»Wiemann«, stellte der Mann sich vor. »Wir sind die Eltern von Indra.«
Romy erhob sich und reichte ihnen die Hand. »Wie schön! Herzlichen Glückwunsch zum Enkelkind.«
Nun wurde sein Lächeln verkniffen, seiner Frau traten sogar Tränen in die Augen. »Wir haben den Verdacht, dass Indra hier Herrenbesuch empfangen hat«, sagte Herr Wiemann vorwurfsvoll.
Romys anfängliche Sympathie für die beiden bröckelte. »Jede junge Mutter, die hier lebt, kann Besuch empfangen, wie sie möchte.«
Herr Wiemann zog ein paar lederne Handschuhe aus seiner Manteltasche und hielt sie Romy hin. »Das sind eindeutig Männerhandschuhe. Indra wollte uns weismachen, dass sie ihr gehören, aber natürlich sind sie ihr viel zu groß.«
»Das werden Handschuhe ihres Onkels sein«, sagte Nicole. Romy fing einen Blick von ihr auf und gab ihn zurück, indem sie ihr mit den Augen sagte: Ja, wir halten zu Indra und Samy Angermann.
Das Gesicht von Herrn Wiemann lief rot an. »Onkel?«
Romys Sympathien hatte er jetzt sämtlich verscherzt. »Der Einzige in Ihrer Familie, der sich bisher um Indra gekümmert hat«, sagte sie scharf. »Hätte er sie nicht regelmäßig besucht, wäre Indra während ihrer ganzen Schwangerschaft allein geblieben.«
»Onkel?«, wiederholte Herr Wiemann noch einmal. »Indra hat überhaupt keinen Onkel.«