März 1986, Bremen
Nicole war glücklich, so glücklich wie noch nie. Endlich gehörte auch sie dazu. Nicht zu den Pfadfindern von Riekenbüren, der Jugendgruppe der Pfarrei oder dem Handarbeitskurs, der im Advent die Kirche schmücken durfte. Nein, sie ging mit André zu einer Party, die sicherlich ganz anders war als das, was in Riekenbüren gefeiert wurde. André hatte ihr geraten, ein paar Sachen einzupacken, damit sie dort übernachten konnten, denn natürlich würde keiner nüchtern genug sein, um Nicole in der Nacht von Bremen nach Riekenbüren zu fahren.
Ihre Mutter war voller Zweifel gewesen, aber Dennis, der einen kurzen Besuch im Elternhaus machte, hatte ihr erklärt, dass es völlig normal sei, nach einer solchen Party bis zum Morgen zu bleiben. Das seien alles dufte Typen, er könne für jeden die Hand ins Feuer legen. Und überhaupt würde er alle kennen, die dort eingeladen waren. »Die sind total in Ordnung.«
So waren Halina und Hasso schließlich beruhigt gewesen. Sie schienen zu glauben, auch Dennis würde auf diese Party gehen und ein Auge auf seine Schwester haben. Das hatte Dennis nicht ausdrücklich bestätigt, aber auch nicht bestritten. Nicole wusste, dass er diesen Abend woanders verbringen würde, vermutlich vor einem Automaten seiner zurzeit bevorzugten Spielhalle.
»Ah, du gehörst zu André!« So wurde sie von mehreren begrüßt, und jedes Mal nickte sie strahlend. Ja, sie gehörte zu André, jedenfalls an diesem Abend. Die Wohnung, in der gefeiert wurde, lag im Erdgeschoss eines heruntergekommenen Hauses in Osterholz, das bald abgerissen werden sollte, und Nicole war froh, dass ihre Eltern nicht sehen konnten, wie ungepflegt alles war. Eine WG lebte dort, die aus zwei Männern und einer jungen Frau bestand. Gefeiert wurde scheinbar an jedem Wochenende. Wer kam, brachte Alkohol, Gras oder andere Drogen mit, wer heiße Pizza oder Hotdogs im Gepäck hatte, wurde jubelnd begrüßt. Kurz vor Mitternacht befanden sich mindestens fünfzig Jugendliche in dieser Wohnung, angetrunken oder volltrunken und die meisten high.
Bald fühlte Nicole sich nicht mehr wohl. Sie wollte sich weder betrinken noch wollte sie koksen oder kiffen. Eigentlich hatte sie gedacht, sie würde mit André schicke Cocktails trinken und zu schmusiger Musik tanzen. Ganz im Geheimen hatte sie natürlich auch davon geträumt, anschließend die Nacht mit ihm zu verbringen, mit André in einem Bett zu schlafen und sich dort von ihm herrliche Liebesgeständnisse ins Ohr flüstern zu lassen. Aber die drei Betten, über die die Wohnung verfügte, waren schnell belegt. Eins von einem Paar, das ungeniert Sex hatte, obwohl ständig irgendwelche Leute rein- und rausgingen, die beiden anderen von zwei Jungen, die schnell betrunken geworden waren und sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten.
Wo sollte sie hier übernachten? Nicole wurde immer unsicherer, je später der Abend wurde. Insgeheim überlegte sie sogar, ob sie nicht doch noch einen Bus nach Riekenbüren erwischen konnte, um zu Hause zu schlafen, wo es ruhig und sauber war.
André schien zu merken, dass sie sich nicht wohlfühlte. Er zog sie in eine schummrige Ecke des sogenannten Wohnzimmers, schlang seine Arme um ihre Hüften und tanzte dort mit ihr zu brüllender Musik. Raunend erklärte er ihr, dass das ganze Haus, auch die oberen Etagen, leer stünde. »Da oben wohnt keiner mehr, die Bude wird bald abgerissen. Sonst hätten wir ja schon die Nachbarn und die Polizei am Hals.«
»Und wir können einfach irgendwo schlafen?«, fragte Nicole skeptisch.
»Komm mit, ich zeig’s dir.« André nahm ihre Hand und zog sie aus der Wohnung. Er dachte sogar daran, nicht nur ihre kleine Reisetasche, sondern auch ihre Handtasche mitzunehmen. »Die finden wir morgen sonst nicht wieder.«
Auf dem Speicher des Hauses hatte er eine kleine Ecke eingerichtet, in der sie schlafen konnten. Sauber war es auch dort nicht, und die Matratze, die auf dem nackten Boden lag, sah nicht besonders vertrauenerweckend aus, aber wenigstens war es ruhig hier oben, und sie waren allein.
Auch André hatte eine Tasche mitgenommen, die er hinter der Tür versteckt hatte. »Man muss aufpassen. Wer Decken oder Bettzeug dabeihat, ist es schnell los. Irgendwann wollen sich alle irgendwo verkriechen und pennen. Ob unter einer eigenen oder unter der Decke eines anderen, ist dann egal.«
André holte ein helles Laken hervor und breitete es auf der Matratze aus. »Extra frisch gewaschen«, sagte er lächelnd.
Er ließ sich auf der Matratze nieder und wollte Nicole zu sich herabziehen.
Aber sie zögerte noch immer. »Kann man die Tür abschließen?«
André schüttelte den Kopf. »Aber hier wird keiner hochkommen. In spätestens zwei, drei Stunden sind alle so breit, dass sie die Treppe gar nicht mehr schaffen.«
»Ich möchte mich waschen«, flüsterte Nicole. »Und Zähne putzen.«
André lachte. »Das wird schwierig. Aber immerhin ist am Ende des Gangs eine Toilette. Vielleicht funktioniert das Wasser dort noch.«
Zum Glück lief es tatsächlich, aber Nicole ekelte sich schrecklich vor der schmutzigen Toilette. Die Sache mit der gründlichen Intimwaschung und der duftenden Bodylotion konnte sie vergessen. Sie würde so, wie sie war, zu André unter die Decke kriechen müssen. Nicole zauderte lange. Bei dem Gedanken daran, dass die kommende Nacht wohl ihre erste Liebesnacht mit André werden würde, hatte sie gemischte Gefühle. Die äußeren Umstände waren nicht gerade so, wie sie es sich gewünscht hatte. Aber jetzt einen Rückzieher zu machen kam ihr auch falsch vor. Was würde er von ihr denken, wenn sie jetzt plötzlich kniff? Und: Wohin sollte sie auch sonst gehen, jetzt, mitten in der Nacht?
Nicole schlich den Gang zurück und öffnete die Tür zu der Dachkammer, in der André auf sie wartete, so leise wie möglich. Ein wenig hoffte sie tatsächlich darauf, dass André schon eingeschlafen war und sie sich unbemerkt neben ihn legen konnte. Aber sie hatte sich getäuscht. André war noch wach, hellwach sogar.
»Endlich«, flüsterte er. »Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.« Etwas lauter sagte er: »Stell deine Tasche neben die Tür. Griffbereit! Das ist hier in Osterholz wichtig. Wenn die Polizei doch mal auftaucht, muss man sich sofort alles schnappen, was einen verraten kann.«