März 1986, Achim
Die Nacht hob ihren Schleier. Ein grauer Morgen kam dahinter zum Vorschein. Auf den Wiesen glitzerte der Tau, das einzig Leichtlebige, das dieser Morgen zu bieten hatte. Der Rest war farblos, schwer, niedergedrückt. Die Kälte stand hinter den Fenstern, sie war zu erkennen in den starren Spitzen der Büsche, in der Bewegungslosigkeit, der Apathie, die noch in der Natur herrschte. Der Frühling wollte sie noch nicht wecken.
Kari stand am Fenster ihres Zimmers und starrte hinaus, bewegungslos. Sah nur sie das Starre, Kalte da draußen, weil es in ihrem Herzen ähnlich aussah? Weil sie unfähig war, an Frühling, Wärme, frische Blüten und Knospen zu denken? Ihre Hand, die den Zettel hielt, war herabgesunken, jetzt hob sie ihn wieder vor die Augen. Was sollte sie tun? Wer konnte ihr helfen? Gab es überhaupt jemanden, von dem sie Hilfe erwarten konnte? Mike, ihr Mann? Ihre Mutter, ihr Vater, der nicht ihr Vater war? Alisias Vater, von dem sie nicht ahnte, wer es war und der nichts von seinem Kind wusste? Sie drehte sich um und ging zur Tür. Aber sie brauchte Hilfe. Allein würde sie es nicht schaffen.
Niemand sah sie, als sie den Flur hinunterging. Die Schwestern waren im Säuglingszimmer beschäftigt, andere in der Küche. Schwacher Kaffeeduft drang bereits auf den Gang. Ein Baby fing hinter einer Tür zu schreien an, die verschlafene Stimme der Mutter antwortete. Die Tür des Schwesternbüros war geöffnet, aber der Schreibtischstuhl leer. Kari verließ das Entbindungsheim, ohne gesehen worden zu sein. Die Luft, die sie empfing, war nicht so kalt, wie sie erwartet hatte. Der Frühling lag doch schon auf der Lauer. Noch ein wenig Geduld, dann würde er dem Winter die starren Baumspitzen abjagen und sie mit frischem Grün polstern.
Sie lief so schnell sie konnte, weil sie vergessen hatte, eine Jacke überzuziehen und sich durch zügiges Tempo warm halten wollte. So war sie bald am Haus für gefallene Mädchen angekommen. Vor dem Eingang stand ein Taxi, einige Koffer wurden aus dem Haus getragen, die ersten Hotelgäste brachen zur Rückreise auf.
Der junge Mann an der Rezeption schien sich zu fragen, woher er sie kannte. Stirnrunzelnd sah er ihr entgegen. »Sie wünschen?«
Die Lähmung war nun von ihr abgefallen, die Ruhe, die dahinter zum Vorschein gekommen war, schien dem Rezeptionisten unheimlich zu sein. Es war eine eiskalte Ruhe, nichts Friedliches, keine Beherrschtheit oder Gelassenheit, nur Erstarrung.
»Ich will zu Mike Heiser«, sagte sie und hörte, dass ihre Stimme klirrte. »Zu meinem Mann.«
»Es ist noch sehr früh.«
»Das weiß ich. Rufen Sie ihn bitte auf seinem Zimmer an und sagen Sie ihm, dass ich auf dem Weg bin.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern ging zum Aufzug und stieg ein. Bevor die Türen sich schlossen, sah sie, dass der Rezeptionist zum Telefonhörer griff.
Sie musste mehrmals klopfen, bis sie Mikes Stimme hörte und er endlich öffnete. Er stöhnte auf, als er sie einließ. »So früh?«
Er trug geblümte Boxerhorts und ein weißes Shirt. Seine Haare waren zerdrückt, seine Augen verklebt, in seinen Mundwinkeln war Speichel getrocknet. Ihr Ehemann! Für ihre freundschaftlichen Gefühle musste sie wohl bekifft gewesen sein. Seit sie keine Drogen mehr angerührt hatte, konnte sie nicht verstehen, dass sie ihn mal sehr gerngehabt hatte.
»Ich muss mit dir reden.«
»Du hast dir überlegt, wie wir mit der Situation umgehen?« Er ging zur Badezimmertür. »Moment, bin gleich wieder da.«
Kari wartete geduldig, bis die Toilettenspülung und anschließend das Wasser rauschte. Sie ging zum Fenster und stellte fest, dass der gleiche Blick von hier oben ganz anders wirkte als aus dem Fenster im Erdgeschoss. Heller, aber noch kälter, schöner, als brächte die Distanz etwas hervor, was aus der Nähe nicht zu erkennen war.
Mike kam aus dem Bad. Kari war froh, dass er sich das Gesicht gewaschen und die Haare gebürstet hatte. Mit einem Mike zu reden, der ihr wie ein Ehemann gegenübertrat, wäre ihr schwergefallen. Sie wollte nicht mit ihm zusammen sein, wenn er gerade erst erwacht war, sie wollte die Distanz zu ihm wahren. Sie galt zwar als seine Ehefrau, aber sie war es nicht.
Offenbar hatte er im Bad auch seinen Denkapparat angeworfen. »Wir müssen dafür sorgen, dass die Öffentlichkeit kein Interesse mehr an dem Baby hat, dann …«
Kari unterbrach ihn, indem sie ihm den Zettel mit einer so herrischen Bewegung hinstreckte, als wäre er eine Waffe. »Lies!«
Mike nahm das Blatt entgegen, überflog es und ließ sich auf die Bettkante sinken. »O Gott!«