März 1986, Achim
Kari weinte. Verzweifelt strich sie über das Gitter des leeren Kinderbettes, wieder und immer wieder, glättete das kleine Kopfkissen, zupfte die Bettdecke zurecht … wieder und immer wieder. Der Tag ging zur Neige, die Dämmerung stieg aus den Wiesen auf, Nebelschwaden lösten sich in der Dunkelheit auf. In anderen Zimmern gingen die Lampen an, Kari wollte kein Licht. Die Hebamme kam herein, strich ihr über den Rücken und murmelte tröstende Worte. »Nur gut, dass es wenigstens mit dem Abstillen so problemlos klappt. Eine Brustentzündung fehlte jetzt noch.«
Schwester Roswitha folgte schon bald, auch sie versuchte, Kari mit liebevollen Worten aufzumuntern. Aber erst als Indra Wiemann in ihr Zimmer schaute, blickte sie auf.
»Störe ich?«, fragte Indra. »Willst du lieber allein sein?«
Kari schüttelte den Kopf. »Komm rein.«
Indra hatte den kleinen David auf dem Arm und legte ihn in das leere Kinderbett.
»Hast du was von deinen Eltern gehört?«, fragte Kari.
Indra schüttelte den Kopf. »Sie haben ein Riesentheater gemacht, weil sie Männerhandschuhe bei mir gefunden haben.«
»Sie glauben, Davids Vater hat dich besucht?«
Indra grinste, wie eine Fünfzehnjährige eben grinste, der ein Streich gelungen war. »Klar! Aber den Namen haben sie trotzdem nicht erfahren.« Ein Schatten zog über ihr Gesicht. »Dummerweise sind sie zu der Leiterin der Stiftung gegangen.«
»Romy?«
»Ja, die hat von dem Onkel gesprochen, der mich regelmäßig besucht. Sie hat meinen Eltern sogar vorgeworfen, dass nur dieser Onkel sich um mich kümmert.«
»Hat sie seinen Namen genannt?«
»Diese Romy Wimmer ist echt ganz schön gewieft. Sie hat gleich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Meine Eltern haben ihr vorgehalten, dass ich gar keinen Onkel habe …«
»Oh, Schreck!«
»… aber sie hat daraufhin behauptet, sie kenne den Namen dieses sogenannten Onkels nicht.«
»Und Nicole?«
»Die hat auch nichts gesagt.«
»Also sind deine Eltern genauso schlau wie vorher.«
Indra nickte. »Aber ich muss damit rechnen, dass sie unangemeldet hier auftauchen, um zu sehen, wer dieser ominöse Onkel ist.« Sie beugte sich vor, strich zärtlich über Davids Wange und schwieg. Kari, in Gedanken bei Alisia, sagte auch nichts mehr. Beide saßen sie da und starrten das schlafende Kind an.
»Alles wird gut«, flüsterte Indra. »Ich bin ganz sicher.«
»Mike hat sich noch nicht gemeldet«, flüsterte Kari zurück. »Er will sofort Bescheid sagen, wenn der Entführer anruft.« Schluchzend drängte sie sich an Indras schmalen Körper. »Hoffentlich ist der Kerl gut zu meiner Kleinen.«
Indra legte den Arm um sie und weinte nun ebenfalls. Worte des Trostes fand sie in diesem Augenblick nicht.
Als es dunkel geworden war, wurde der kleine David unruhig, steckte seine Fäustchen in den Mund und schmatzte. Es dauerte nicht lange, und er begann leise zu weinen.
Indra hob ihn aus dem Bett, öffnete ihre Bluse und begann ihn zu stillen. Leise fragte sie: »Kann es sein, dass ich heute Alisias Vater gesehen habe?«
Kari zögerte. Alisias Vater! Das hörte sich gut an, sehr gut. Sie nickte. »Eigentlich weiß ich es ja nicht, aber …« Ja, sie wünschte sich, Hajo wäre der Vater. Sie wünschte es sich so, so sehr.
»Wegen der Half Brothers ?«
»Sein Aftershave ist mir in Erinnerung geblieben, als ich es heute wieder gerochen habe, hat das etwas in mir ausgelöst …« Kari wollte nicht davon sprechen, welche Erinnerung sie an seinen Körper hatte, das war ihr zu intim. Aber wenn sie an die Half Brothers dachte, an die riesigen Männer mit ihren breiten, muskulösen, schweren Körpern, dann konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie sich täuschte. Der männliche Körper, an den sie sich erinnerte, war nicht schwer gewesen, keine Last, nichts, was sie bedrängt oder ihr die Luft genommen hatte. Er war warm und geschmeidig gewesen, vollkommen im Einklang mit ihrem eigenen Körper. Er hatte gewollt, was sie selbst wollte, und sie war seinen Bewegungen gefolgt.
»Ich musste Mike versprechen, ihm nichts zu verraten. Er will auf keinen Fall eine Auseinandersetzung mit dem leiblichen Vater, es ist alles so schon kompliziert genug. Mike hat Angst vor Forderungen, möglicherweise Erpressung …« Kari sah nachdenklich auf Davids Köpfchen, das in Indras Armbeuge lag. »Er hat recht. Hajo würde sich nicht damit abfinden, dass seine Tochter den Namen Heiser trägt. Er ist so ein … aufrichtiger Mann. Meine Mutter hat es auch schon gesagt. Hajo Keller ist durch und durch integer.«
»Das sagst du, obwohl du ihn kaum kennst?«
Kari dachte nach. »Ja«, antwortete sie dann schlicht. »Ich bin sicher, dass ich recht habe.« Wieder sah sie einen Augenblick lang nachdenklich vor sich hin. »Er würde mir helfen, ihm könnte ich vertrauen, er würde alles tun, um Alisia so bald wie möglich aus den Händen des Entführers zu retten.«
»Und Mike?«
Kari zögerte. »Mike nicht. Er weiß noch immer nicht, wie er das viele Geld flüssigmachen kann.«
»Er ist doch reich.«
»Aber sein Geld ist gut angelegt. Er hat kein Konto, auf dem zweihunderttausend Mark liegen.«
»Aber …«
Kari unterbrach sie. »Natürlich kann er das Geld trotzdem auftreiben. Er scheint wohl erst mal klären zu wollen, wo ihm am wenigsten Verlust droht. So was würde ein Vater nicht tun. So was macht nur ein Mann, der den Vater spielt.«
David war satt, ihm fielen die Augen zu, als Indra ihn von der Brust nahm. »Wie stellst du dir die Zukunft vor?«
Kari seufzte. »Darüber werde ich erst nachdenken, wenn Alisia wieder bei mir ist und wenn Mike weiß, wie er mit der Kleinen umgehen will. Wenn ich sie vor der Welt verstecken muss, kann ich nicht mehr in seinem Haus leben.«
»Das werden seine Fans schnell spitzkriegen.«
»Dann kriegen sie auch schnell spitz, dass seine Tochter einen anderen Vater hat.«
»Eins so schlimm wie das andere.«
Kari nickte. »Womöglich wäre es Mike am liebsten, Alisia käme nicht zurück.« Sie erschrak über ihre eigenen Worte, die es bisher nur in ihrem Kopf gegeben, die sie noch nie ausgesprochen hatte. Dann bekräftigte sie: »Diese Lösung wäre für Mike auf jeden Fall die einfachste.«
Indra sah sie entgeistert an. »Du glaubst wirklich, dass er es darauf anlegt?«
Das wollte Kari nicht bejahen. Nein, Mike war kein schlechter Mensch. Er war großzügig und verlässlich, vorausgesetzt, beides verlangte keine Opfer von ihm. Er konnte aber auch berechnend sein, wenn es darum ging, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Zurzeit war sein Ziel die Fernsehshow. Er würde sie sich nicht so kurz vor dem Ziel wegnehmen lassen.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Nun roch sie es wieder, den Duft des Mannes, der Alisias Vater war. Und wenn sie sich konzentrierte, spürte sie wieder seine Hände, seinen Körper, seine Nähe. Er war so sanft gewesen, zärtlich, nicht fordernd und dennoch ein Mann, der wusste, was er wollte. Sie hörte sein Flüstern an ihrem Ohr, ohne sich zu erinnern, was er ihr zugeraunt hatte. Sie war schön, diese Erinnerung. Nur … zu wem gehörte sie? Zu Hajo Keller? Sie wünschte es sich sehr und dachte doch im gleichen Augenblick, dass jeder Wunsch sinnlos war. Er ließ sich nicht erfüllen. Mike Heiser war Alisias Vater und musste es bleiben. Hajo Keller würde nie erfahren, dass er vielleicht Vater geworden war. Vielleicht …