März 1986, Bremen

Dennis hatte gerade mit der Arbeit an der Hobelbank begonnen, als sein Chef zu ihm trat. »Ein Anruf für dich«, rief er gegen den Lärm an. »Du weißt, dass ich es nicht leiden kann, wenn während der Arbeitszeit telefoniert wird.«

Er wurde etwas zugänglicher, als er in Dennis’ erschrockenes Gesicht sah. Die Sorge in dessen Augen war echt. »Meine Familie? Meine Cousine?«

»Keine Ahnung«, gab der Chef zurück. »Geh ran, dann weißt du es.« Er versetzte Dennis einen kleinen Stoß, nahm den Hobel auf und machte mit der Arbeit weiter, die Dennis begonnen hatte.

Am Ende der Werkstatt gab es einen kleinen Raum, das Büro, in dem tagsüber selten jemand saß. Das Telefon, das dort stand, war nur deshalb zu hören, weil der Schreinermeister dafür gesorgt hatte, dass das Klingeln über eine Glocke verstärkt wurde. Es läutete dann überall in der Werkstatt.

Der Hörer lag neben dem olivgrünen Apparat. Dennis atmete tief durch, ehe er ihn ergriff und ans Ohr drückte. »Ja?«

André war am anderen Ende. »Ich muss mit dir reden.«

»Bist du verrückt? Ich kriege Ärger mit dem Chef. Der ist sowieso schon sauer auf mich, weil ich in letzter Zeit so oft gefehlt habe.«

»Es ist wichtig«, zischte André. »Henk habe ich schon Bescheid gesagt. Der meint auch, du musst das wissen.«

»Was?«

»Der Zettel hängt an der Bushaltestelle.«

Es blieb eine Weile still in der Leitung. An Dennis’ Ohr rauschte es, als stünde André in einem Meer von Verkehrslärm. »Das kann nicht sein«, gab er schließlich hilflos zurück. »Wir haben das falsche …« Das letzte Wort verschluckte er, weil er nicht sicher war, ob jemand mithören konnte.

»Henk und ich verstehen das ja auch nicht. Sollen wir die Nummer wählen?«

»Wartet!«, gab Dennis zurück. »Ich muss überlegen. Am besten, ich fahre nach Riekenbüren. Vielleicht kann ich dort was rauskriegen.«

»Also gut. Aber eigentlich kann es doch nicht sein, dass eine andere Mutter auf unsere Forderung eingeht. Die in der Stiftung leben, haben doch keine zweihunderttausend auf der hohen Kante.«

Das konnte Dennis sich auch nicht vorstellen. Aber eine Erklärung hatte er beileibe nicht. »Ich werde mir noch mal freinehmen. Todesfall in der Familie oder so …«

»Besser eine schwere Krankheit«, gab André zurück. »Sonst wirst du später nach der Beerdigung gefragt.«

Das sah Dennis ein. Als er zur Hobelbank zurückkehrte, war seine Miene derart verwirrt, dass sein Chef ihn zur Seite nahm. »Ist was passiert?«

»Mein Opa. Ich muss nach Riekenbüren …«

Er war froh, dass er nicht nach Einzelheiten gefragt wurde. Der Chef schob ihn kurzerhand zur Tür. »Fahr vorsichtig. Wenn man eine schlechte Nachricht bekommen hat, baut man leicht einen Unfall.«

Dennis lief in die Umkleide, warf sich seine Jacke über und trat aus der Werkstatt. Helle, klare Luft empfing ihn. Kalt war sie, und er musste an das Baby denken, das sie am vergangenen Abend auf die Stufen des Pfarrhauses gelegt hatten. Hoffentlich war es rechtzeitig gefunden worden.