März 1986, Achim

Nicole kannte nur noch ein Thema: Karis Baby! Romy konnte ihre Fragen längst nicht mehr hören, vor allem die Frage nicht, warum Nicole noch immer nicht das Baby hatte sehen dürfen, obwohl sie doch nun das Geheimnis kannte. »Ich weiß jetzt, dass die Kleine dunkelhäutig ist, und ich werde nicht darüber reden. Warum darf ich Alisia nicht auf den Arm nehmen?«

Romy fielen keine Antworten mehr ein. Nicole war nicht einmal mehr damit abzulenken, dass Indra Wiemann einen Schlagerstar als ihren Onkel bezeichnet hatte, der angeblich nicht mal mit ihr verwandt war. Stundenlang hatten die beiden sich darüber gefreut, dass sie es geschafft hatten, den Namen nicht preiszugeben. Am Ende hatten Indras Eltern sich damit abfinden müssen, dass ihre Tochter Besuch von einem Mann bekommen hatte, der namentlich nicht bekannt war. Davids Vater? Der Verdacht stand im Raum, aber weder Romy noch Nicole hatten dazu etwas gesagt. Nun aber war dieser kleine Skandal, der das Büro der Knut-Augustin-Stiftung und vor allem Nicole Heflik erschüttert hatte, von einem weit größeren übertroffen worden. Kari war als untreue Ehefrau entlarvt worden, die mit einem weißen Mann verheiratet war, aber von einem schwarzen ein Kind bekommen hatte. Nicole war nach wie vor fassungslos.

Mittlerweile fand Romy, dass Nicole die ganze Wahrheit wissen sollte. Sie war verschwiegen, sie würde nicht darüber reden, dass Karis Baby entführt worden war. Aber Brit war bei ihrer Forderung geblieben: Niemand sollte etwas von der Entführung erfahren, der es nicht unbedingt wissen musste. Ihrer Meinung nach waren das sowieso schon zu viele. Wenn nur eine einzige Säuglingsschwester den Mund nicht halten konnte …

Romys Gedanken wurden durch heftiges Pochen unterbrochen. Die Tür sprang auf, ehe Romy oder Nicole reagieren konnten. Zwei Polizisten erschienen im Raum, laut und imperatorisch, aber gleichzeitig lachend und freundlich, sodass sich Romys heißer Schreck schnell abkühlte. Eine nadelfeine Angst blieb trotzdem. »Kommen Sie mit schlechten Nachrichten?«

War Alisia etwas zugestoßen? Hatte die Polizei das Kind gefunden? War sie etwa …?

»Nein, nein«, beruhigte der ältere der beiden Beamten sie. »Wir wollen uns nur erkundigen, ob bei Ihnen ein Baby fehlt.«

Romy starrte ihn sprachlos an. »Wie bitte?«

Die beiden Uniformierten wurden gesprächiger, als ihnen Kaffee angeboten worden war. »Vor der Achatius-Kirche ist ein Baby abgelegt worden. Ein Findelkind!«

»Von der Mutter?« Nicole machte große Augen.

»Höchstwahrscheinlich«, bestätigte der jüngere Beamte. »Wir suchen in einem solchen Fall immer nach der Mutter. Eigentlich hat sie sich strafbar gemacht, sie verletzt ihre Unterhalts- und Fürsorgepflicht. Aber solche Mütter werden selten strafrechtlich verfolgt. Es geht vielmehr darum, sie zu finden, damit man ihr helfen kann. Viele bereuen es später, ihr Kind weggegeben zu haben, dann, wenn es keinen Weg mehr zurück gibt.«

Romy betrachtete ihn kopfschüttelnd. »Aber wieso kommen Sie zu uns? Hier finden Mütter Hilfe, die sich allein nicht um ihre Kinder kümmern können. Keine unserer Mütter käme auf die Idee, aus ihrem Baby ein Findelkind zu machen.«

»Schon klar.« Die beiden Polizisten nickten. »Wir haben überhaupt keine Hinweise auf die Mutter. Die Kleidung des Kindes, seine Ausstattung, die Decke, in die es gewickelt war … es gibt keinerlei Indizien. Da dachten wir, es könnte vielleicht mal eine Schwangere zu ihnen gekommen sein, die Beratung brauchte. Womöglich hat sie sich dann trotzdem gegen ihr Kind entschieden.«

Romy zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Ich erkenne ein Baby nicht wieder, das ich im Bauch der Mutter kennengelernt habe.« Sie lachte, weil sie fand, dass sie sich witzig ausgedrückt hatte.

Aber die Polizisten lachten nicht mit. »In diesem Fall vielleicht doch. Das Kind hat nämlich eine dunkle Hautfarbe. Ein Mischling. War mal eine schwarze Frau bei Ihnen, die eine Beratung brauchte? Sie könnte die Mutter sein.«

Romy wurde von blankem Entsetzen geschüttelt. Alisia! Was hatte das zu bedeuten? Warum hatte der Kidnapper sie ausgesetzt? War es nun ungefährlich, über die Entführung zu reden? Musste man nun noch der Forderung des Entführers nachkommen und schweigen? Aber das Kind war ja in Sicherheit …

Romy machte eine schnelle Geste in Nicoles Richtung, die gerade zu einer Entgegnung ansetzte. Sie warf ihr einen warnenden Blick zu, sodass Nicole den Mund wieder zumachte. Sie verstand Romy nicht, war aber zum Glück bereit zu schweigen.

»Die Kleine trug ein rosa Mützchen«, erläuterte der Polizist weiter, als könnte damit Romys Erinnerungsvermögen angeschoben werden. »Einen rosa Strampler mit weißen Punkten und weiße Söckchen.«

»Ich muss mal überlegen …« In Romys Kopf ging alles durcheinander. Wenn sie den Polizisten erzählte, dass aus ihrer Stiftung ein dunkelhäutiges Kind entführt worden war, würden sie die Personalien der Mutter und in diesem Fall auch des Vaters aufnehmen, ehe sie das Findelkind zurückbrachten. Wie würde Mike Heiser darauf reagieren? Und war das in Karis Sinn? Würde sie wollen, dass die Öffentlichkeit sich auf diese neue Sensation stürzte? Und wie würde ihre Zukunft aussehen, wenn Mike Heiser durch sie seine Fernsehshow verlor? Mal ganz abgesehen davon, dass Kari ja gar nicht sicher sagen konnte, wer der Vater war …

»Die Achatius-Kirche?«, vergewisserte sich Romy. »Ist das Baby dort geblieben?«

Die Polizisten bestätigten es. »Die Haushälterin des Pfarrers hat sich seiner angenommen. Wenn sich die Eltern nicht finden lassen, wird das Kind in den nächsten Tagen in ein Heim gebracht. Aber zunächst mal wird es dort gut versorgt. Wir haben zurzeit keinen freien Heimplatz.«

Nicole verließ das Büro ohne ein Wort und kehrte erst zurück, als die Polizisten bereits wieder gegangen waren. »Warum hast du mir das nicht gesagt?«, fuhr sie Romy an. »Hältst du mich für eine Tratschtante?« Ehe Romy darauf antworten konnte, sprach sie schon weiter. »Es geht um Alisia! Gib es zu.«

Romy gab alles zu. Und eine Stunde später wusste Nicole genauestens Bescheid. Da sie auch erfahren hatte, dass ihre Tante es gewesen war, die von Romy absolutes Stillschweigen verlangt hatte, war es mit ihrer Empörung und ihren Vorwürfen bald vorbei. Und am Ende war sie diejenige, die eine großartige Idee hatte …