März 1986, Achim

Ausgerechnet an diesem Tag brach die Abenddämmerung erst später herein, ausgerechnet an diesem Tag klopfte der Frühling an, ausgerechnet an diesem Tag zeigten die Krokusse zum ersten Mal ihre leuchtenden Blüten. Ausgerechnet an diesem Tag, an dem etwas Unfassbares geschehen war, an dem es regnen und stürmen und eigentlich die Welt untergehen musste. Aber die Welt war unbeeindruckt vom Leid einiger weniger Menschen. Sie zeigte schon jetzt, dass das Leben weitergehen, dass nichts den Lauf der Zeit hindern würde.

Klaas Schubert höchstpersönlich hatte an der Rezeption gestanden und so ausgesehen, als wollte er Hajo diesmal ein Hotelzimmer verweigern. »Sie sind doch heute Morgen erst ausgezogen.«

»Nun bin ich eben wieder da. Ist Frau Rensing im Haus?«

Er hatte vergessen, dass sie unter ihrem Mädchennamen eingecheckt hatte, merkte aber sofort, dass Schubert wusste, von wem die Rede war. Und als dem Hotelmanager klar wurde, dass Hajo die Frau von Olaf Rensing kannte, bekam er sogar, ohne es ausdrücklich zu wünschen, erneut ein Komfortzimmer in der oberen Etage. »Direkt neben dem Zimmer von Frau Rensing.«

Bei ihr anzuklopfen war entsetzlich schwer, ihr freundliches Gesicht zu sehen, ihr ahnungsloses Lächeln und dann der Ernst, der in ihre Augen stieg, als sie spürte, dass er mit schlechten Nachrichten zu ihr gekommen war. Es war schrecklich mitanzusehen, wie sie ihre Tränen zurückhielt, weil sie in Gegenwart eines Fremden nicht weinen wollte. Hajo hätte sie am liebsten an sich gezogen und ihr Trost gespendet. Aber das kam natürlich nicht infrage, das wäre viel zu übergriffig gewesen. So stand er nur hilflos vor ihr, sah ihrem Schmerz zu und ihrem Kampf, ihn nicht zu zeigen.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, hatte er schließlich gefragt. »Möchten Sie allein sein?«

Sie hatte genickt, und er wusste nicht, ob sie sein Angebot zur Kenntnis genommen hatte, einfach bei ihm im Nachbarzimmer zu klopfen, wenn sie Hilfe brauchen sollte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie zu ihm kommen würde, hatte sich ans Fenster gestellt und zur Knut-Augustin-Stiftung geblickt, wo Kari unter der Angst um ihr Kind litt und nun, noch ahnungslos, von einem weiteren Schicksalsschlag getroffen worden war. Wie gerne würde er ihr jetzt helfen! Aber natürlich durfte er sich nicht einmischen, es ging um ein familiäres Problem, nichts, was ihn etwas anging. Dennoch … er war derjenige gewesen, der Brit Rensing die Todesnachricht überbracht hatte, er fühlte sich bereits wie jemand, dem das Schicksal der Familie nahegekommen war. Brit Rensing hatte bisher keine Ahnung, dass er der Vater ihres Enkelkindes war, dass er damit zwar vielleicht nicht zur Familie gehörte, aber doch gewissermaßen einen Platz an der Peripherie, an dem Zaun beanspruchen durfte, der ihn von der Familie Rensing trennte.

Als er Brit verließ, als er schon die Tür geöffnet hatte, sagte sie plötzlich: »Könnten Sie mir einen Gefallen tun? Könnten Sie … meinem Schwiegersohn Bescheid sagen? Ich muss jetzt gleich zu Kari gehen.«

»Ja, natürlich.« Hajo wurde in dem Moment klar, dass er Mike Heiser völlig vergessen hatte, dass ihm gar nicht in den Sinn gekommen war, ihn als Teil der Familie Rensing zu sehen.

Er wohnte am Ende des Flurs, schon wenige Minuten später hatte Hajo an Mike Heisers Tür geklopft. Und es hatte eine Weile gedauert, bis er eingelassen wurde, bis Mike Heiser verstand, warum Hajo zu ihm gekommen war.

Dann war er sehr bestürzt gewesen. »Du meine Güte! Das ist ja schrecklich.« Er bot Hajo einen Platz an und setzte sich selbst auf die Bettkante. »Ich müsste dann wohl zu Kari gehen«, überlegte er, nachdem er sich angehört hatte, wie Olaf Rensing gestorben war, und verspielte damit die Sympathie, die Hajo angesichts seiner Betroffenheit empfunden hatte. »Oder … geht meine Schwiegermutter zu ihr, um es ihr zu sagen?«

Hajo verstand ihn nicht. In so einem Fall ging es doch nicht um die Information an sich, es ging darum, dass Kari jemanden bei sich hatte, der ihr vertraut war, der sie trösten, an den sie sich anlehnen konnte. Natürlich würde auch ihre Mutter ihr Halt geben können, aber dass ihr Ehemann sich fragte, ob seine Anwesenheit erwünscht war, machte Hajo fassungslos.

Er hatte sich schnell wieder erhoben. »Frau Rensing will sich sogleich auf den Weg zu ihrer Tochter machen.«

Mike hatte ihn zur Tür begleitet. »Okay, dann werde ich erst mal hierbleiben. Ich gehe dann später zu Kari.«

Ob er mittlerweile bei seiner Frau war? Hajo stand noch immer am Fenster seines Hotelzimmers und sah hinaus. Was konnte er tun? Diese Untätigkeit, dieses Warten fielen ihm schwer. Er sah zur Uhr. Kurz vor sechs! Wie lange mochte im Büro der Stiftung gearbeitet werden? Hajo griff nach dem Hotelschlüssel und öffnete die Tür. Romy Wimmer würde vielleicht noch an ihrem Arbeitsplatz sein. Ein Gespräch mit ihr würde ihm guttun. Und natürlich musste auch sie erfahren, was geschehen war. Vermutlich hatte sie noch keine Ahnung. Hajo war froh, dass er einen Grund hatte, sein Zimmer zu verlassen.

Er blieb kurz an der Bushaltestelle stehen und betrachtete den Zettel, der dort noch immer hing. Kätzchen entlaufen! Mittlerweile war er verblasst und zerknittert, als hätte er unter einem Regenschauer gelitten. Noch immer konnte sich Hajo keinen Reim darauf machen, warum Kari diesen Zettel dort angebracht hatte. Aber noch immer war er davon überzeugt, dass er etwas mit der Entführung zu tun haben musste. Dann fiel ihm wieder die Telefonnummer ein. Es war die Nummer von dem Apparat, der in Mike Heisers Hotelzimmer stand. Hatte er deswegen nicht zu Kari gehen wollen? Musste er für den Entführer erreichbar sein? Hajo spürte Schuldgefühle in sich aufsteigen. Die Vorwürfe, die er Mike Heiser gemacht hatte, waren womöglich unberechtigt gewesen.

Romy Wimmer war ahnungslos, das merkte er sofort, als er eintrat. Sie begrüßte ihn erfreut, hatte ihn auf der Stelle erkannt und wurde mit einem Mal nachdenklich, während sie ihn betrachtete. »Hat Olaf Rensing Sie nach Achim geschickt? Sollen Sie im Haus für gefallene Mädchen nach dem Rechten sehen? Klaas Schubert scheint auf Olafs Abschussliste zu stehen.«

Nicole kam herein und sah ihn fragend an. Romy Wimmer stellte ihn vor, und auch Karis Cousine setzte einen nachdenklichen Blick auf. Hajo begann zu ahnen, warum …

Auch diesmal fiel es ihm schwer, die traurige Nachricht zu verkünden. Nicole schlug erschrocken die Hand vor den Mund, während Romy Wimmer in ganz anderem Maße betroffen war. Sie war Brit Rensings Freundin, kannte Olaf Rensing schon lange und machte sich Sorgen um ihre Freundin. »Olaf war immer ihr Fels in der Brandung.«

Sie sprachen eine Weile über ihn, und weder Romy noch Nicole machten Anstalten, ihre Sachen zusammenzupacken und in den Feierabend zu gehen. Die beiden warfen sich mit einem Mal einen Blick zu, den Hajo zunächst nicht verstand, der aber eindeutig etwas mit ihm zu tun hatte.

Er betrachtete die beiden mit gerunzelter Stirn. »Ist was?«

Romy gab sich einen Ruck. »Waren Sie damals auch auf Mike Heisers Party? Ungefähr vor … neun Monaten?«

Eine Schwäche breitete sich in seinem Inneren aus, die es ihm fast unmöglich machte, diese Frage zu beantworten. Er brachte nicht mehr als ein Nicken hervor.

»Wie gut kennen Sie Kari?«, fragte Romy, und Hajo war sofort klar, dass sie eigentlich fragen wollte, ob er damals mit ihr geschlafen hatte.

Nun schaffte er es, eine Antwort zu geben. »Ich liebe sie.« Er erschrak selbst mehr als Romy und Nicole. Wie konnte er so etwas sagen? Wie konnte er sich hier zu seiner Liebe bekennen, ehe er mit Kari darüber gesprochen hatte?

Romy schien sich jedoch nicht zu wundern. Sie setzte die Miene auf, die er schon gelegentlich an ihr gesehen hatte: wissend und aufgeklärt. Sie gehörte zu den Menschen, die der festen Überzeugung sind, dass sie Menschliches schneller durchschauen als andere. Ob sie damit recht hatte, blieb dahingestellt. In diesem Fall allerdings lag sie richtig.

»Aber sie ist mit Mike Heiser verheiratet«, ergänzte er nun.

Ein Einwand, den Romy mit einer Handbewegung wegwischte. »Haben Sie ein Auto?«

Hajo nickte, verblüfft über diese Frage. »Wieso …?«

»Ich hoffe, Sie haben heute Abend Zeit.«