März 1986, Sylt

Brit merkte schon bald , dass es ein Fehler gewesen war, sich so spontan hinters Steuer zu setzen. Sie konnte sich nicht auf den Straßenverkehr konzentrieren. Als sie in den Elbtunnel fuhr, tat ihr die Dunkelheit so gut, dass sie darüber erschrak, und als sie wieder ans Tageslicht kam, wurde ihr klar, dass sie eine Pause brauchte. Diese Pause, dieses Innehalten, dieses mühsame Begreifen hätte sie sich gönnen sollen, bevor sie sich ins Auto setzte und losfuhr. Dass Olaf tot war, sickerte erst ganz allmählich in ihr Bewusstsein. Nun aber war der Boden ihrer Gewissheit mit Trauer und Tränen bedeckt, ihr Unglück tropfte nicht mehr, es begann zu fluten …

Sie drehte sich um und blickte zurück. Hamburg lag hinter ihr. Auf dem Hinweg nach Achim hatte sie, als sie durch Hamburg fuhr, kein einziges Mal an Arne gedacht, obwohl sie wusste, dass er dort lebte. Nun aber war er ihr plötzlich sehr nah. So nah, dass sie versucht war, kehrtzumachen und zu ihm zu fahren. Sie wusste, wie sein Lokal hieß, und war sicher, es finden zu können. Dann aber schüttelte sie den Kopf und drehte sich wieder in Fahrtrichtung. Trost von Arne? Ausgerechnet von ihm? Nein, das wäre nicht richtig gewesen.

Sie schloss die Augen und versuchte, Ruhe zu finden, Kraft zum Weiterfahren. Der Verkehr rauschte, in ihrer Nähe schlugen Autotüren, Stimmen kamen nah heran und entfernten sich genauso schnell wieder. Um sie herum war Leben, was sie jetzt nach Sylt zurückzog, war der Tod. Olaf würde sie nicht empfangen, würde nicht aus seinem Büro kommen, um sie zu umarmen, würde sich nicht am Abend ein Rührei mit Krabben wünschen. Er würde … Sie riss die Augen auf. Wo mochte er jetzt sein? Zu Hause? Oder hatte man ihn weggebracht? Wohin? Sie wagte es nicht, die Augen wieder zu schließen, aus Angst, Olaf auf einer Bahre zu sehen, unter einem weißen Laken, an seinem Zeh ein Zettel mit seinem Namen.

Sie fragte sich, warum es sie zu Olaf zurückzog, zu dem toten Olaf, warum sie nicht bei Kari geblieben war, bei ihrer Tochter, die lebte und Unterstützung brauchte. Aber Brit hatte, als Hajo Keller die Todesnachricht überbrachte, nur den Wunsch gehabt, nach Sylt zurückzukehren, dorthin, wo sie mit Olaf gelebt hatte, wo sie hingehörte, wo ihr Zuhause war.

Wie würde das Leben weitergehen? Würde Kari zurückkommen? Was würde mit der kleinen Alisia geschehen? Unerwünscht von dem Mann, der auf dem Papier ihr Vater war, misstrauisch betrachtet von ihrer Riekenbürener Verwandtschaft, vom Getuschel verfolgt, sobald ruchbar geworden war, dass sie die Tochter von Mike Heiser war. Brit legte den Kopf aufs Lenkrad. Wie sollte sie das alles bewältigen, wenn Olaf nicht mehr an ihrer Seite war! Und wer sollte demnächst seinen Part übernehmen? Olaf brauchte einen Nachfolger, davon hatte er in den letzten Monaten ja oft genug gesprochen. Allerdings ohne zu ahnen, dass es schon so bald nötig sein würde, einen Nachfolger zu finden. Oder eine Nachfolgerin! Aber was aus Kari wurde, wusste ja niemand. Wenn die Entführung ein glückliches Ende fand, war immer noch nicht die Frage beantwortet, was aus Alisia wurde, wie und wo sie aufwachsen und was geschehen sollte, wenn Mike erklären musste, warum sein Kind eine dunkelbraune Haut hatte.

Brit richtete sich stöhnend auf. Es war zu viel! Das Kind, Karis gefährdete Ehe, die Entführung und nun noch Olafs Tod. Wie sollte das zu ertragen sein? Womöglich wäre Olaf jetzt auf dem Weg nach Achim gewesen, gesund und vital wie immer, wenn es nicht diese Schicksalsschläge gegeben hätte! Sein angegriffenes Herz hatte den Verhängnissen nicht standgehalten.

Danach bemühte sie sich, nicht zu schnell zu fahren, aber schnell genug, um nicht müde und abgelenkt zu sein, und kam gut voran. In Niebüll hatte sie Glück, der nächste Autozug fuhr schon zehn Minuten später ab. Während der Überfahrt stellte sie die Rückenlehne herunter und schloss die Augen. Gegen ihre Gewohnheit gönnte sie diesmal dem Meer keinen Blick. Als der Zug in Westerland einlief, fühlte sie sich ein wenig stärker.

Sie fuhr so langsam und vorsichtig vom Autozug wie die Feriengäste, die ihn zum ersten Mal benutzten und Angst vor der schmalen Spur und den engen Wendungen hatten. Brit dagegen hatte Angst vor dem Heimkommen, vor den mitleidigen Blicken, vor gut gemeinten Beileidsbekundungen, vor der Zukunft.

Bevor sie ins Café ging, warf sie einen Blick zum Hotel König Augustin . Jäh durchfuhr sie der Wunsch, Hajo Keller gefragt zu haben, ob er den Urlaub abbrechen, mit ihr zurückkehren und ihr helfen könne, das Steuer des König Augustin zu übernehmen und es in ruhigere Gewässer zu lenken. Wenigstens, bis klar war, wie die Leitung demnächst geregelt werden sollte. Diesem Mann, den sie eigentlich gar nicht gut genug kannte, vertraute sie. Sie war sicher, dass er nicht nur mit der Geschäftsführung des Hotels, sondern auch mit der Aufsicht über das Café klarkommen würde. Vielleicht konnte sie ihn im Haus für gefallene Mädchen anrufen und ihn bitten, nach Sylt zurückzukommen? Bei dem Gedanken, von nun an für alle Entscheidungen zuständig zu sein, fühlte sie sich jetzt schon überfordert.

Im Café wurde sie von Robert König erwartet. Er saß an dem Tisch in der Nähe der Theke und der Bürotür, den sich niemals ein Gast aussuchte und der deswegen zu dem Ort geworden war, wo Kellner sich kurz ausruhten und sich einen Kaffee gönnten, wo eine knappe Unterredung geführt oder eine neue Anweisung gegeben wurde. Robert König schien auf Brit zu warten. Vielleicht wartete er aber auch darauf, Olafs Nähe zu spüren, wenn er sich dort aufhielt, wo dessen Lebensmittelpunkt gewesen war: im König Augustin .

Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er Brit umarmte. Er wollte etwas sagen, brachte es aber nicht fertig. Seine Stimme brach, und Brit gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass sie wusste, was er ausdrücken wollte, ohne es sagen zu müssen. Sie setzte sich zu ihm, bat eine Kellnerin, ihren Koffer in die Wohnung zu tragen, und bestellte eine Tasse Kaffee. Eine Weile schwiegen sie zusammen, und Brit konnte Robert König betrachten, ohne dass er es bemerkte. Er war alt geworden, dieser kleine, hagere Mann, der noch immer mit Vorliebe uralte Cordanzüge und dazu sündhaft teure Hemden trug. Er schien auch abgenommen zu haben. Seine Wangen waren eingefallen, der Hemdkragen stand vom Hals ab. Er begann, über Olaf zu reden, von seinem ersten Zusammentreffen mit ihm, von der Zeit, in der sein Freund Knut ihm von seinem Sohn erzählt hatte, den er nicht kannte, den er nur aus der Ferne beobachtete.

Es fiel Brit schwer, ihm zuzuhören. So hatte Knut Augustin es auch mit Kari geplant. Seine Enkelin sollte von Menschen adoptiert werden, die Knut Augustin gut kannte, damit er ihr beim Aufwachsen zusehen konnte, um sie später, wenn sie ihm gefiel, zu einem Teil seiner Familie zu machen. Was für eine perfide Idee! Aber Brit hatte ihm einen Strich durch diese Rechnung gemacht, indem sie dafür sorgte, dass es nicht zu einer Adoption kam. Sie war rechtzeitig aus dem Entbindungsheim geflohen. Doch sie schwieg und schluckte ihre Meinung über Knut Augustin herunter. Sie wusste ja, wie innig die Freundschaft zwischen ihm und Robert König gewesen war.

Roberts scharfer Blick traf sie völlig unvorbereitet. »Wer ist eigentlich Karis Vater?«

Brit starrte ihn an. Diese Frage hatte er noch nie gestellt. Niemand hatte bisher gewagt, sie das zu fragen. Natürlich auch deshalb, weil die meisten davon ausgingen, Olaf sei es. Auf Sylt waren Brit und Olaf schließlich als Paar erschienen, mit einem Kind, das sie ihr gemeinsames nannten. Es war nie der Verdacht aufgekommen, dass Olaf nicht Karis Vater sein könnte. Robert König wusste es natürlich, weil er Olafs Lebensweg genauso gut kannte wie ihren. Warum stellte er ausgerechnet jetzt diese Frage?

Bevor sie reagieren konnte, murmelte Robert: »Dein Vater hat eine Schreinerei in Riekenbüren. Richtig?«

Brit nickte, sie brachte keinen Ton heraus.

»Als Arne damals mit der Neuigkeit kam, dass er ein Mädchen heiraten wolle, das von ihm schwanger war, ist Knut in einen kleinen Ort gefahren, nicht weit von Bremen entfernt. Dort hat er dem Vater des Mädchens ein finanzielles Angebot gemacht.« Seine Stimme wurde immer leiser, er war nun kaum noch zu verstehen. »Ich meine, mich zu erinnern, dass der Vater eine Schreinerei besaß.« Nun sah er auf, die Müdigkeit war aus seinen Augen verschwunden, sein Blick war klar und direkt. »Bist du dieses Mädchen gewesen, Brit?«

Sie erwiderte seinen Blick ebenso klar und direkt. »Ja.«

Ihm war anzusehen, dass er jede andere Antwort ohnehin nicht geglaubt hätte. Er nickte und sah sie dabei unverwandt an. »Dann steht dieses Mädchen seit Jahren dem König Augustin vor, als hätte Knut damals das Einverständnis zur Heirat gegeben?« Er schien auf ihre Zustimmung zu warten, aber Brit sah ihn nur schweigend an.

»Dann wird diesem Mädchen demnächst alles gehören, was eigentlich Arne erben sollte?« Nun lächelte er leicht. »Verrückt, welche Wege das Schicksal manchmal einschlägt!«