März 1986, Achim

Mike Heiser erschrak, als das Telefon klingelte. Gerade hatte er das Licht gelöscht, um einzuschlafen. Wer konnte das sein? Julian, der ihm eine gute Nacht wünschen wollte? Oder etwa … der Kidnapper?

Er knipste das Licht wieder an und starrte auf das Telefon, als könnte er es am Läuten hindern. Schließlich nahm er den Hörer ab. »Hallo?«

Er saß kerzengerade, als ihm klar wurde, dass er tatsächlich den Entführer am anderen Ende der Leitung hatte. Die Stimme klang verzerrt, der Kerl hatte scheinbar ein Taschentuch über die Muschel gelegt.

»Haben Sie die Kohle?«

Mike schwang die Beine über die Bettkante. »So schnell geht es nicht.«

»Wie lange soll das noch dauern?«

Mike stand auf und ging zum Fenster. »Ich stehe in Verhandlungen mit meiner Bank.«

»Was soll das heißen? Wie lange wollen Sie verhandeln?«

»Zweihunderttausend sind kein Pappenstiel.«

»Jemand wie Sie sollte die lockermachen können. Oder …«

Mike hielt die Luft an. Oder?

»Oder wollen Sie nicht zahlen? Wenn Sie denken, dann sind all Ihre Probleme gelöst, haben Sie sich aber geschnitten, mein Lieber! Ich weiß, warum Sie das Balg loswerden wollen. Aber diesen Wunsch werde ich Ihnen nicht erfüllen, indem ich auf das Lösegeld verzichte. Darauf können Sie Gift nehmen. Wenn Sie nicht wollen, dass ich mit dem, was ich weiß, zur Presse gehe, dann zahlen Sie dreihunderttausend. Ich garantiere Ihnen, dass die Kurze dann nie wieder auftaucht. Und dass auch keiner was davon erfährt, wie gern Sie sie loswerden wollten.«

»Um Himmels willen! Wie kommen Sie denn darauf?«

»Sie wissen schon, warum ich darauf komme. Also: zahlen oder nicht zahlen?«

Mike suchte nach Worten, fand aber keine.

»Also gut, ich rufe morgen noch mal an. Bis dahin haben Sie es sich überlegt. Spätestens übermorgen geht die Sache über die Bühne! Dann müssen Sie die Kohle haben.«

Mike schwieg, in seinem Kopf drehte sich alles, es war ihm unmöglich zu antworten.

»Verstanden?«

Mike krächzte etwas Zustimmendes, dann wurde am anderen Ende aufgelegt. Er drehte sich langsam um und legte den Hörer so vorsichtig auf die Gabel zurück, als wäre er aus Porzellan. Was für eine Idee! Aber der Kerl hatte recht, für dreihunderttausend wäre er wirklich alle Sorgen los. Nicht nur das! Der Mitleidsfaktor wäre ihm sogar sicher. Ein Mann, dessen Kind entführt wird und nicht wieder auftaucht, kann sich ja im Fernsehen alles erlauben.

Er öffnete die Minibar, holte sich ein Whiskyfläschchen heraus und trank es in einem Zug leer. Dann legte er sich wieder aufs Bett, verzichtete aber darauf, sich zuzudecken. Seine Haut brannte wie Feuer, ihm war heiß. Äußerten sich moralische Bedenken auf diese Weise? Noch nie hatte er vor einer Entscheidung dieses Ausmaßes gestanden. Er hatte es in der Hand, seine Karriere in die richtige Richtung zu schieben. Endgültig! Doch was, wenn der Entführer geschnappt wurde und der Polizei verriet, wofür Mike Heiser dreihunderttausend Mark bezahlt hatte? Aber würde man so einem Verbrecher glauben? Außerdem … er würde nicht warten können, bis alle Hoffnungen auf ein gutes Ende der Entführung vorbei waren. Kari würde irgendwann zur Polizei gehen wollen. Dann würde man den Entführer und das Kind suchen. Er musste also bald eine Entscheidung treffen, sehr bald.

Mike stand wieder auf und stellte sich erneut ans Fenster. Eigentlich müsste er Kari jetzt anrufen, so war es verabredet. Und natürlich tat sie ihm leid. Alles wäre wunderbar gewesen, wenn sie ein weißes Kind bekommen hätte. Mike Heiser, ein verheirateter Mann, ein Familienvater! Fantastisch! Aber dann so was! Aus dieser wunderbaren Möglichkeit, die Kari ihm geboten hatte, war ein riesiges Problem geworden. Was sollte er dem Entführer sagen, wenn er morgen wieder anrief? Mike wollte sich diese Frage nicht beantworten, noch nicht. Erst mal würde er die Bank anrufen, es wurde Zeit. Kari glaubte ja, er hätte den Geldtransfer längst organisiert, aber bis jetzt wusste sein Bankberater noch gar nichts von der Entführung. Mike hatte das Gefühl gehabt, es sei gut, sich Zeit zu lassen. So ein Entführer verlor vielleicht irgendwann die Nerven. Und dann? Nein, auf diese Frage wollte Mike nicht antworten. Er war doch kein Krimineller! Er war Mike Heiser, der bekannteste deutsche Modedesigner. Nicht einer, der das Leben eines kleinen Kindes aufs Spiel setzte, nur um sein eigenes Schäfchen ins Trockene zu bringen. Nein, so einer war er nicht. Andererseits … die Gelegenheit, die der Kerl ihm heute angeboten hatte, war verdammt günstig.

Er öffnete noch einmal die Minibar, diesmal holte er eine kleine Sherryflasche heraus, öffnete sie und hielt sie sich an den Mund, bis sie leer war. Man konnte sich irren, wenn es um gute Gelegenheiten ging. Hatte er nicht auch geglaubt, Karis Angebot, ihn zu heiraten, wäre eine gute Gelegenheit? Und hatte er nicht auch geglaubt, es sei eine sehr gute Gelegenheit, dass Kari schwanger war? Im Ergebnis war daraus aber eine Katastrophe erwachsen. Sein berufliches Ziel war nun so gefährdet wie noch nie. Wenn er doch nur endlich den Vertrag unterschreiben könnte! Es bestand ja immer noch die Möglichkeit, dass die Sendung sehr erfolgreich war. Dann würde ihm vielleicht niemand mit Vorwürfen kommen, weil seine Frau von einem Schwarzen ein Kind bekommen hatte. Vielleicht …

Aber ein Kind verstecken, für das sich die Öffentlichkeit interessierte? Das würde nicht klappen. Kari und Alisia aus seiner Villa ausziehen lassen, damit sie nicht mehr fotografiert werden konnten? Das würde die Neugier nur noch anheizen. Dafür sorgen, dass kein Reporter mehr in seinem Privatleben herumschnüffelte? Wie sollte das gelingen?

»Verdammt!«