März 1986, Achim

Der Tag war lang gewesen, schrecklich lang, er hatte kein Ende nehmen wollen. Nach dem Frühstück war der Morgen immer noch nicht vorbei, erst nach einem ausgedehnten Spaziergang dann endlich Vormittag, und das Mittagessen konnte gar nicht ausgiebig genug sein, damit der Tag endlich zum Nachmittag wurde. Hajo war zweimal zu Romy und Nicole ins Büro gegangen, hatte sich mit den beiden besprochen, aber eigentlich nur, um Zeit vergehen zu lassen. An ihren Ratschlägen war er nicht interessiert. Und auf die Frage, wie es Alisia gehen mochte, wer sie ein zweites Mal entführt hatte und ob sie wohl gut versorgt wurde, konnte ihm sowieso niemand eine Antwort geben. Er selbst am allerwenigsten.

Romy war der Meinung, Kari dürfe noch immer nichts wissen von den Geschehnissen der letzten Nacht. »Wir haben uns das Kind vor der Nase wegschnappen lassen! Das wird sie uns nie verzeihen.«

Und Nicole schloss sich ihrer Chefin an. »Ich finde auch, Kari sollte es nicht erfahren.«

»Was sie aber unbedingt erfahren sollte«, fügte Romy provozierend an, »ist Ihre Rolle in der ganzen Angelegenheit, Hajo.« Sie blickte ihn an, als erwartete sie eine Antwort von ihm, die er ihr aber vorenthielt. Er wusste ja selbst, dass er endlich mit der ganzen Wahrheit herausrücken musste. Kari hatte es verdient, dass man ihre Zweifel zerstreute. Sie musste endlich wissen, dass es nur einen Mann gab, der Alisias Vater sein konnte.

Auch hier nickte Nicole. Hajo betrachtete sie genauer. Wenn sie sich auch so verhielt, wie sie es immer getan hatte, vorsichtig, schüchtern und verschlossen, so schien sich doch etwas verändert zu haben. Sie hockte nicht mehr vor ihrer Schreibmaschine wie ein Kind vor einem Puzzle, das eigentlich für Erwachsene gedacht war, sie drehte das Blatt, das sie beschrieben hatte, auch nicht mehr heraus, als wollte sie es verstecken. Sie hielt es hoch, schien zufrieden mit dem Schriftbild zu sein und reichte es erst dann an Romy weiter, die ihre Fehler korrigierte, damit Nicole den Brief noch einmal abtippen konnte.

»Ich bin Legasthenikerin«, hatte sie zu Hajo gesagt. »Herr Angermann hat mir das erklärt. Legastheniker sind nicht dumm, sondern genauso intelligent wie andere. Nur mit dem Lesen und Schreiben haben sie Schwierigkeiten.«

War es diese Erkenntnis, die ihr Selbstbewusstsein gestärkt hatte? Oder gab es noch etwas anderes?

Hajo fragte Romy, als Nicole kurz hinausging. Aber Romy zuckte nur mit den Schultern. »Kann sein. Aber wenn dieser André sich nicht bald bei ihr meldet, wird sie wieder am Boden zerstört sein und sich klein und hässlich vorkommen. Ich fürchte, dieser Typ nutzt sie aus.«

Dazu wollte Hajo keine Einzelheiten erfahren. Zusätzlich zu seiner eigenen unglücklichen Liebesgeschichte wollte er sich nicht noch mit einer anderen befassen. Das ging über seine Kräfte.

Er stand auf, ging zur Tür und kehrte wieder zu seinem Stuhl zurück. »Was sollen wir tun? Mit Mike Heiser reden?«

Aber Romy wehrte ab. »Auf keinen Fall! Dann ist Kari am Ende die Einzige, die von den Ereignissen nichts weiß. Das geht nicht. Wenn sie das später erfährt …«

»Die Polizei anrufen?«

Romy zögerte. »Keine Ahnung, was die jetzt unternimmt. Ein Findelkind wird abgelegt und dann entführt. Von einem Mann, dem ein anderer auf den Fersen ist, der das Kind auch haben will. Was würden Sie unternehmen, wenn Sie Polizist wären?«

Darauf fiel Hajo nichts ein. Er sagte sehr leise: »Die Haushälterin hat mich gesehen. Die hat sicherlich auch erkannt, dass ich schwarz bin. Die Polizei wird eine Verbindung zwischen mir und Alisia herstellen.«

»Man wird Sie für den Vater halten?«

»Wahrscheinlich.«

»Das dürfte aber auch das einzige Ermittlungsergebnis sein, auf das die Polizei stolz sein kann. Den Rest der Geschichte wird sie genauso merkwürdig finden wie wir.«

»Sie darf nichts von der Entführung wissen. Alisia ist in Gefahr! Der Entführer hat gedroht, sie umzubringen, sobald die Polizei eingeschaltet wird.«

»Was ist das für ein Entführer, der ein Baby klaut, es vor einem Pfarrhaus aussetzt und es sich dann ein zweites Mal holt?«

»Vielleicht haben wir es mit unterschiedlichen Entführern zu tun.«

Romy griff sich an den Kopf. »Sie meinen, der Typ, den wir in der vergangenen Nacht gesehen haben, ist nicht der Entführer, der Alisia aus ihrem Bett im Entbindungsheim geholt hat?«

Hajo kam nicht zu einer Antwort. Er konnte das blaue Dach eines größeren Wagens sehen, der langsam auf der Straße vorbeifuhr. »Die Polizei?« Er sprang auf und konnte gerade noch erkennen, dass der Streifenwagen in den Parkplatz des Hotels einbog. Hektisch sah er sich um, als suchte er nach einem Fluchtweg.

»Ganz ruhig«, mahnte Romy, stand auf und kam zu ihm. »Sie haben nichts verbrochen, Sie können vollkommen gelassen sein.«

Nicole kam herein. »Vor dem Hotel ist ein Polizeiwagen vorgefahren.«

»Irgendjemand muss der Polizei erzählt haben«, überlegte Romy, »dass im Haus für gefallene Mädchen ein Schwarzer logiert. Und jetzt wollen sie sich diesen Mann angucken. Ist ja logisch! Nichts, worüber man sich aufregen muss.«

»Stimmt!« Hajo straffte seinen Körper. »Ich gehe rüber.«

»Ich komme mit«, sagte Romy.

Die Polizisten standen an der Rezeption, Klaas Schubert buckelte vor ihnen herum. »Man sollte keinen Schwarzen einchecken lassen. Ich bin einfach zu gutmütig …«

Einer der beiden Polizisten unterbrach ihn. »Darum geht es nicht. Wie heißt der Mann mit Vornamen?«

Klaas Schubert lief in sein Büro und kam kurz darauf wieder heraus. »Hans-Josef.«

Die beiden Polizisten sahen sich an. »Das ist aber kein afrikanischer Name.«

»Er ist Deutscher«, erklärte Klaas Schubert. »Sonst hätte ich ihm niemals ein Zimmer überlassen.«

Hajo hatte nun genug gehört. »Wollen Sie zu mir?«, fragte er.

Klaas Schubert sah auf und erschrak. Die beiden Polizisten drehten sich zu ihm um. »Sie sind Hans-Josef Keller?«

»So ist es.« Hajo war nun sehr ruhig. »Sie wünschen?«

»Wir haben einen Einbruch aufzuklären«, bekam er zur Antwort. »In der vergangenen Nacht wurde im Pfarrhaus der Achatiuskirche in Bremen eingebrochen. Also nicht weit von hier. Ein Baby wurde entführt, ein Findelkind, das dort bei der Haushälterin untergebracht war.«

»Und was habe ich damit zu tun?«, fragte Hajo freundlich.

»Der Einbrecher ist gesehen worden, ehe er flüchten konnte. Er war … nun, er war von dunkler Hautfarbe.«

Hajo gelang ein erstauntes Lächeln. »Bin ich der einzige Schwarze in der Gegend?«

Darauf antwortete keiner der Polizisten. »Kann es sein, dass Sie Hajo genannt werden?«, fragte der Ältere.

»Warum fragen Sie das?«, erkundigte sich Hajo mit gespieltem Erstaunen. Er spürte, dass etwas in seinem Inneren vibrierte, etwas, das seine Atmung beeinträchtigte. Jetzt nur ruhig bleiben! Sich nichts anmerken lassen!

»Der Mann, der heute Nacht im Pfarrhaus eingestiegen ist und das Findelkind mitgenommen hat, wurde Hajo gerufen.«

Nun mischte sich Romy ein. »Wenn Sie damit andeuten wollen, Herr Keller könnte dieser Mann gewesen sein, dann muss ich Ihnen erst mal sagen, dass Ihre Frage eine Unverschämtheit ist. Herr Keller ist Geschäftsführer des Hotels König Augustin in Westerland. Das Haus gehört genau wie das Haus für gefallene Mädchen Olaf Rensing, das wissen Sie vermutlich. Einen Mann wie Herrn Keller eines Einbruchs oder sogar einer Kindesentführung zu verdächtigen ist, gelinde gesagt, reichlich weit hergeholt.«

»Wir tun nur unsere Pflicht.« Der jüngere der beiden Beamten wurde nervös.

»Noch dazu«, fuhr Romy unbeirrt fort, »hat Herr Keller ein Alibi.« Jetzt lachte sie, als hätte sie sich einen Scherz erlaubt. »Ich glaube kaum, dass er eins braucht. Aber tatsächlich hat Herr Keller die letzte Nacht zusammen mit mir verbracht. Vom frühen Abend bis zum Morgen.« Sie hob die rechte Hand, als wäre sie zum Schwur aufgefordert worden. »Damit ist diese leidige Angelegenheit wohl erledigt?«

Das wurde ihr von den beiden Beamten bestätigt, die ihre Mützen aufsetzten und sich verabschiedeten. Klaas Schubert hatte sich schon in sein Büro verdrückt, als Hajo und Romy sich abwandten, um zu gehen.