März 1986, Achim

Kari trat einen Schritt zurück, als sie sah, dass die beiden Polizisten zum Ausgang kamen. Sie drehte ihnen den Rücken zu, während sie an ihr vorübergingen.

»Die ist doch mindestens zehn Jahre älter als er«, sagte der jüngere der Polizeibeamten.

»So einer kann froh sein, wenn sich überhaupt eine Frau mit ihm abgibt.«

Die beiden gingen schnurstracks zu ihrem Streifenwagen, stiegen ein und fuhren davon. Als Kari Schritte hörte, drehte sie sich wieder zurück. Hajo und die Freundin ihrer Mutter! Konnte das wahr sein? Aber wofür brauchte Hajo überhaupt ein Alibi? Was hatte die Polizei von ihm gewollt?

Hajo blieb wie angewurzelt stehen, als er Kari erkannte. Romy wäre beinahe an ihr vorbeigelaufen, so erfolgreich hatte Kari versucht, sich unsichtbar zu machen. Sie drückte sich in der Nähe der Fahrradständer herum wie ein verängstigtes Kind, das sich zu weit vorgewagt hatte und sich nun nicht traute, den Rückweg anzutreten. Ja, so fühlte sie sich.

»Kari!« Hajo machte einen Schritt auf sie zu, dann noch einen und schließlich einen weiteren, sodass er vor ihr stand. Kari starrte ihn wie hypnotisiert an. Was wollte er ihr jetzt sagen? Dass er das nicht gewollt hatte? Dass er nicht erklären konnte, warum er die Nacht mit Romy verbracht hatte?

Romy selbst war viel zu pragmatisch, um sich von der Situation beeinflussen zu lassen. Natürlich musste sie Karis Verunsicherung und erst recht Hajos Befangenheit bemerken, aber sie redete drauflos, als ginge es um eine Lappalie. »Hast du uns belauscht?«

Kari hätte beinahe genickt, dann aber schüttelte sie den Kopf. Nein, sie hatte nicht gelauscht. Sie war auf dem Weg zu Mike gewesen, hatte einen Schritt in die Lobby gesetzt und gehört, was dort gesprochen wurde. Von Lauschen konnte nicht die Rede sein. »Nein.«

»Was machst du dann hier?«, fragte Romy.

»Ich will zu Mike. Er meldet sich nicht bei mir. Eigentlich hätte der …« Sie sah sich um und fuhr leise fort: »… der Entführer sich längst melden müssen.«

Hajo und Romy warfen sich einen Blick zu, den Kari sich nicht erklären konnte. Also entsprach es der Wahrheit, was sie gehört hatte?

»Habt ihr mir etwas zu sagen?«, fragte Kari scharf. »Ihr könnt behaupten, das geht mich nichts an, aber …«

Hajo ließ sie nicht zu Ende sprechen. »Ich kann dir das erklären, Kari.«

»Es ist nicht so, wie es aussieht?«, ergänzte Kari anzüglich. »So heißt es doch immer in schlechten Komödien.«

Romy seufzte. »Okay, nun muss sie es eben doch erfahren.«

»Also stimmt es? Ihr habt was miteinander?«

»Nein!« Romy beugte sich vor und warf Kari dieses Wort mitten ins Gesicht. »Natürlich nicht! Was denkst du denn?«

Hajo griff nach Karis Arm. »Lass uns in dein Zimmer gehen. Es wird sowieso Zeit, dass wir in Ruhe miteinander reden.«

Kari sah Romy an, als brauchte sie deren Einverständnis, dann Hajo, als wollte sie sich vergewissern, dass er es ernst meinte. Was war geschehen? Ging es um Alisia? Gab es Neuigkeiten, die sie noch nicht kannte? Hatte Mike noch immer nicht das Lösegeld beisammen? Was wussten die beiden? Oder ging es um ihren Vater? Wusste Hajo etwas über Olafs Tod, was ihr bisher niemand gesagt hatte? Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Wie gerne hätte sie jetzt ihre Eltern an ihrer Seite, die beiden, von denen sie sich so leichtherzig getrennt hatte, um in Mikes Villa zu ziehen. Jetzt würde sie gern ihr Kind auf den Arm nehmen, ins Café König Augustin gehen, den Kellnern zunicken und die Treppe in die Wohnung hochsteigen, wo ihre Eltern sie erwarteten. Alisia würde die Ärmchen nach ihnen ausstrecken, und Opa und Oma würden sie auf den Arm nehmen und Kari einen Tee kochen. Vielleicht wäre sie anschließend sogar bereit, einen Blick ins Büro zu werfen und sich von Olaf erklären zu lassen, warum er einen Lieferanten gewechselt und zwei neue Kellner eingestellt hatte. Vielleicht wäre sie sogar bereit, sich das Buchhaltungsprogramm erklären zu lassen.

Sie ging Hajo voraus, vorbei an der Bushaltestelle, an der immer noch der Zettel mit der Überschrift »Kätzchen entlaufen« hing, an der Straße entlang, wo sie nur hintereinandergehen konnten, weil der Fußweg sehr schmal war. Kari hörte Hajos Schritte hinter sich, fühlte seine Blicke in ihrem Rücken, hörte seinen Atem. Wenn er etwas sagte, antwortete sie nicht. »Vorsicht, ein Lkw!« oder »Es könnte Regen geben.« Jedes Mal hörte sie auf seine Stimme, stellte fest, wie gut sie ihr gefiel, wie dunkel und weich sie war, entgegnete aber nichts. Erst als sie vor der Knut-Augustin-Stiftung angekommen waren, vor dem Eingang, der zu den Apartments führte, blieb sie stehen und ließ ihn herankommen. »Wir könnten in den Aufenthaltsraum gehen. Da gibt es einen Kaffeeautomaten.«

Hajo sah sie lange an, ehe er entgegnete: »Ich wäre lieber mit dir allein.«

So ängstlich, wie er sie ansah, schien er zu befürchten, dass sie seinen Wunsch ablehnte. Aber sie nickte nur und ging ihm erneut voraus.

Als sie in ihrem Apartment angekommen waren und Kari die Tür hinter ihnen schloss, wurde es mit einem Mal sehr still. Die Geräuschkulisse war noch die gleiche wie auf dem Flur. Nach wie vor war Kindergeschrei zu hören, die Stimmen der Mütter, Gelächter und Schimpfen, aber es hatte sich entfernt. Und es wich immer weiter zurück. So weit, dass es irgendwann mucksmäuschenstill war zwischen ihnen, weil alles andere keine Rolle mehr spielte. Es war nicht wirklich leiser, aber sämtliche Geräusche waren unbedeutend und daher unhörbar geworden.

Beide ließen sie die Arme hängen, während sie voreinander standen, Kari sah zu Boden, Hajo an ihr vorbei zum Fenster, als wollte er nach dem Wetter sehen. Schließlich sah Kari auf und zwang ihn, sie anzublicken. »Sag mir, was los ist«, flüsterte sie. »Geht es meinem Cappuccinchen schlecht?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte Hajo zurück.

Mit einem Mal war es ganz normal, dass er sie umfing. Genauso normal war es, dass sie sich an ihn schmiegte, die Augen schloss, ihr Gesicht an seine Brust legte und seinen Duft einatmete. Da war sie wieder, die Erinnerung. Dieser Duft war es, den sie nie vergessen hatte, und dieser Körper, leicht, aber kräftig, schlank, aber muskulös, und zupackende Hände, die festhielten, was sie wollten, aber keinen Druck ausübten. Das alles war ihr sofort vertraut.

»Unser Cappuccinchen«, raunte Hajo in Karis Haar und betonte das erste Wort. »Unser Kind!«

Nun löste sie sich von ihm. »Aber …«

»Kein Aber«, sagte er lächelnd. »Ich weiß, dass ich der Vater bin.«

»Aber …«

»Nein, die Half Brothers habe ich den ganzen Abend im Auge gehabt. Und ich bin zusammen mit ihnen nach Hause gefahren.«

Kari lauschte seinen Worten nach, die sich in ihrem Kopf wiederholten, immer leiser, mit immer mehr Hall. Kein Aber? Ihre Fragen und Ängste, all ihre Unsicherheiten und Zweifel fielen in ein weiches Daunenbett voller federweicher Gefühle, räkelten sich, kuschelten sich ein. Kein Aber!

Sie begann zu weinen. Erleichterung durchflutete sie. Hajo! Es war tatsächlich Hajo gewesen, mit dem sie auf der Party geschlafen und ihr wunderschönes Kind gezeugt hatte! Und gleichzeitig packte sie der Kummer. Das leere Kinderbett vor dem Fenster … Angst und Verzweiflung überwältigten sie.

»Liebst du Mike?«, fragte Hajo und zog sie so fest an sich, dass sie ihm nicht in die Augen sehen konnte.

Kari weinte nun noch heftiger, drängte sich an Hajo, suchte Halt in seinem Trost und seinem Verständnis. Nur kurz taumelte die Frage durch ihren Kopf, ob es Liebe war, die sie für ihn empfand. Sie hatten nur eine Nacht miteinander verbracht. Aber waren sie sich vertraut, weil sie ein gemeinsames Kind hatten? Gab es eine Zukunft für sie beide, für sie drei, oder würde jeder von ihnen schon bald in ein Leben zurückkehren, zu dem der andere keinen Schlüssel besaß?

Ihre Körper lösten sich irgendwann voneinander, beide beugten sich zurück, um sich in die Augen sehen zu können. Was für wunderschöne Augen er hatte! Von einem tiefen Dunkelbraun, kaffeebraun, schokoladenbraun, so wie auch Alisias Augen vielleicht sein würden. Aber die Farbe war nicht das Schönste an ihnen. Was Kari zu Tränen rührte, war ihr Ausdruck. Die Aufrichtigkeit und Empathie, mit denen Hajo sie ansah, weckte in Kari den Wunsch, ihm mit ebensolcher Ehrlichkeit und Offenheit zu begegnen.

»Ich musste Mike versprechen, Alisias Vater nichts zu verraten. Nichts von seiner Vaterschaft und nichts von der Entführung.«

Hajo zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Er weiß, dass ich der Vater bin?«

Kari nickte. »Zumindest hatte er den Verdacht. Er sagt, wir beide wären eine Weile zusammen weg gewesen.« Sie sah ihn verlegen an. »Das stimmt, oder?«

»Wir waren im Saunahaus.« Er lächelte, grinste immer breiter und lachte dann schließlich leise. »Verrückt! Das darf Alisia niemals erfahren. Dass sie gezeugt wurde, ohne dass ihre Mutter sich daran erinnern kann.«

Sie kuschelte sich wieder an ihn, damit er ihr schamrotes Gesicht nicht sehen konnte. »Ich lasse die Finger von den Drogen. Versprochen. Und es wird Zeit, dass du erfährst, wie meine Ehe mit Mike wirklich zustande gekommen ist.«

Sein Körper veränderte sich, verlor das Weiche, schmiegte sich nicht mehr an. Auch seine Hände veränderten sich, bewegten sich jetzt mechanisch auf ihrem Rücken, als müsste Hajo sich auf etwas anderes konzentrieren. Und da kam es auch schon. »Erst muss ich dir sagen, was es zu bedeuten hatte, dass die Polizei heute nach mir fragte …«