März 1986, Hamburg
Das Carar füllte sich, die Luft wurde dichter, der Zigarettenqualm sorgte für Rauchschwaden, die unter den Hängelampen sichtbar wurden. Brit und Arne saßen dicht beieinander, ihre Köpfe warfen Schatten auf die hellen, blankgescheuerten Tischplatten.
»Sollen wir nicht nach oben gehen?«, fragte Arne noch einmal. »In meine Wohnung?«
Aber wieder schüttelte Brit den Kopf. »Das wäre ein Fehler. Vielleicht war es schon ein großer Fehler, dass ich zu dir gekommen bin.«
»Warum?«
Sie sah ihn an und schien zu glauben, dass ihr Blick bereits Antwort genug war. Als er nicht reagierte, sagte sie es trotzdem: »Beinahe wäre ich schon auf dem Rückweg von Achim zu dir gekommen. Aber kaum hatte ich den Gedanken gefasst, habe ich mich schrecklich geschämt. Mein Mann ist gerade gestorben, und ich suche Trost bei …«
Arne starrte sie an, wartete auf das Wort, das folgen musste, hielt den Atem an. Wie würde sie ihn nennen, was war er für sie? Aber sie sprach es nicht aus. Entweder, weil sie keinen Namen für ihn hatte oder weil sie es nicht wagte, ihn auszusprechen. »Aber heute Nachmittag war mir plötzlich klar, dass nur eins mir helfen kann: dir alles erzählen …«
»Alles?« Arne runzelte die Stirn, dann schien ihn eine Ahnung zu überkommen. »Wo ist überhaupt Kari?«
»Sie ist in Achim geblieben. Sie musste dort bleiben.«
»Ist was mit dem Baby?«
Brit sah ihn kein einziges Mal an, während sie erzählte. Und er unterbrach sie kein einziges Mal. Gäste traten ein, schüttelten den Regen von den Schirmen, andere verließen das Carar , blieben zögernd im Eingang stehen, bis sie sich, wie in einem jähen Entschluss, in das schlechte Wetter stürzten. Die Stimmen um sie herum boten Schutz, sie nahmen ihre Worte auf, verschluckten sie ungehört, jeder einzelne Satz war nur zwischen ihnen vernehmbar. Sie waren allein, gewissermaßen. Allein in ihren Worten, in ihrem Gespräch, wenn auch in Gesellschaft anderer.
Als Arne alles wusste, sahen sie sich das erste Mal wieder an. Und die Unterhaltungen sowie das Gelächter der Menschen um sie herum erreichten sie wieder.
Brit schwieg. Arne brauchte eine Weile, bis er das, was er zu hören bekommen hatte, in das, was er bisher zu wissen glaubte, eingefügt hatte. »Kannst du dir vorstellen, wer der Entführer ist?«
»Nein.«
»Wie ist er in Karis Apartment gekommen?«
»Augenscheinlich hatte er einen Schlüssel. Die Tür ist nicht aufgebrochen worden.«
»Wie hat Mike Heiser reagiert, als er das Kind sah?«
Brit zuckte nur mit den Schultern.
»Wer ist Alisias Vater?«
»Vermutlich einer der Half Brothers .«
Arne kannte die Jazzmusiker und stöhnte auf. »Wie ist das möglich, dass Kari einen solchen Filmriss hat, dass sie nicht mehr weiß, mit wem sie zusammen war?«
Brit wischte sich die Tränen aus den Augen. »Es war offenbar nicht das erste Mal, dass sie später nicht mehr wusste, was sie getan hatte. Auf Mikes Partys wurde immer Rauschgift konsumiert. Reichlich Alkohol sowieso.«
»Aber jetzt ist das vorbei?«
»Wenn ich Kari glauben darf, hat sie seit dieser verhängnisvollen Partynacht keine Drogen mehr angefasst. Sie trinkt auch nicht mehr.« Mit fester Stimme ergänzte sie: »Und ich glaube ihr.«
Der Kneipenlärm fiel wieder über sie her, schüttete Ausgelassenheit über sie aus und ließ sie von oben bis unten mit Frohsinn besudelt sitzen. Aber als Arne eine Weile nachgedacht hatte, waren sie wieder allein, die Menschen in ihrer Nähe spielten keine Rolle mehr.
»Auf dem Foto in der Zeitung waren Kari und Mike mit einem weißen Baby zu sehen. Mike will also vertuschen, dass Kari ein dunkelhäutiges Baby bekommen hat.«
Brit nickte unglücklich. »Ich frage mich, wie das in Zukunft gehen soll.«
Das fragte Arne sich auch. Die folgende Bemerkung brachte er nur sehr leise heraus: »Kann es sein, dass er hinter der Entführung steckt?«
Brit starrte ihn entgeistert an. »Um das Kind loszuwerden?«
Arne nickte.
»Du meinst«, versuchte es Brit, »er hat Alisia entführt, um sie … Wegen seiner Karriere? Wegen der Fernsehshow?«
»Und wegen seines Ansehens. Durch die Ehe mit Kari war der Verdacht, er könnte schwul sein, in Vergessenheit geraten.«
»Er kann nicht schwul sein«, antwortete Brit heftig. »Dann hätte Kari ihn nicht geheiratet.«
Arne überlegte, ob er ihr verraten sollte, dass Mike Heiser schon häufig im Carar gefeiert hatte, manchmal in großen Gesellschaften, oft aber auch im Kreis von ausschließlich Männern. Julian Haarbeck war dann stets an seiner Seite gewesen und hatte ihn gelegentlich ungeniert geküsst.
Vorsichtig berichtete er Brit davon, dass er mit Kari während ihrer Verlobungsfeier gesprochen hatte. Als Brit erschrocken aufsah, ergänzte er hastig: »Das war reiner Zufall. Ich habe den Kontakt zu ihr nicht gesucht, das musst du mir glauben. Und ich habe ihr natürlich nicht gesagt, wer ich bin.« Er war sich nicht sicher, ob sie ihm das abnahm, ihr Blick blieb fragend. »Sie war nicht glücklich am Abend ihrer Verlobung«, ergänzte er leise. »Sie fühlte sich nicht wohl.«
Brit hatte nur den letzten Satz an sich herangelassen. »Sie musste sich erst daran gewöhnen, plötzlich im Mittelpunkt zu stehen, zu den VIP s zu gehören, zu den Promis, zu Leuten, mit denen sie früher nie Kontakt gehabt hatte.«
Arne tat so, als teilte er ihre Meinung. »Es ist alles nicht leicht für sie«, sagte er dann. »Und jetzt noch die Entführung des Kindes, der Tod ihres Vaters. Beide Väter tot …«
»Nein«, schnitt Brit seinen Satz ab. »Nur Olaf ist tot. An Karis leiblichen Vater kann ich mich nicht erinnern. Ein Schulfreund, der ohne jede Bedeutung für mich war.«