März 1986, Bremen

Nicole hatte sich noch nie krankgemeldet. Dies war das erste Mal. Noch dazu war sie gar nicht krank. Sie wollte an diesem Tag etwas tun, was niemand wissen sollte, etwas herausfinden, womit sie dann so umgehen würde, wie sie es für richtig befand. Ohne dass sie beeinflusst wurde. Um den Mut dafür aufzubringen, sagte sie sich vor, was sie von Samy Angermann gehört hatte. Sie war nicht dumm, sondern krank. Sie war Legasthenikerin. Eine wie sie war normal intelligent, hatte nur Probleme mit der Schrift. Und wer intelligent war wie sie, der würde das Richtige tun. Nicole hatte sich noch nie so viel zugetraut wie an diesem Tag.

Sie stieg in Riekenbüren in den Bus wie an jedem Arbeitstag der Woche, aber als er vor der Knut-Augustin-Stiftung hielt, blieb sie sitzen und machte sich so klein wie möglich, um nicht gesehen zu werden. Dann fuhr sie weiter nach Bremen. Am Hauptbahnhof stieg sie aus und ging zu einer Telefonzelle in der Bahnhofshalle. Sie wählte die Nummer der Schreinerei, in der ihr Bruder arbeitete.

Sein Chef brummte ärgerlich, war aber dennoch bereit, Dennis ans Telefon zu holen. »Geht’s dem Opa schlechter?«, fragte er.

Nicole verstand nicht, was er meinte, ahnte aber, dass es in diesem Fall besser war, nicht nachzufragen, sondern ein Geräusch von sich zu geben, das sowohl Zustimmung als auch Ablehnung sein konnte. Ein mehrfach gesummtes M, das dem Schreinermeister reichte. »Ich hole Dennis.«

Ihr Bruder war wütend, als er ihre Stimme erkannte. »Was willst du?«

Nicole war stark an diesem Tag, sie ließ sich nicht schwach machen. »Sag du mir lieber, was mit Opa ist. Er ist krank? Das wüsste ich aber.«

Prompt änderte sich Dennis’ Verhalten. »Erkläre ich dir später«, antwortete er, aber wesentlich freundlicher. »Also – warum rufst du an?«

»Ich will mit André reden. Wie kann ich ihn erreichen?«

»Gar nicht. In seiner Bude hat er kein Telefon, seine Zimmerwirtin mag es nicht, wenn er auf ihrem Apparat angerufen wird.«

»Siehst du ihn heute noch?«

»Vielleicht.«

»Dann sag ihm, er soll sich bei mir melden. Er hat versprochen, mich bald wieder anzurufen.«

»Nicole …« Dennis begann zu drucksen. »Ich glaube, es ist besser, wenn du dir André aus dem Kopf schlägst. Er ist nichts für dich. Es kommt mir so vor, als hätte er eine andere.«

Nicole schluckte. Früher wäre sie in Tränen ausgebrochen, aber an diesem Tag gelang es ihr, gefasst zu reagieren. »Das soll er mir selbst sagen.«

Erst als sie aufgelegt hatte und aus der Zelle in die Bahnhofshalle zurücktrat, begann ihre Unterlippe zu zittern. Aber die Tränen konnte sie zurückhalten, und darauf war sie so stolz, dass dieser Triumph ihre Enttäuschung überdeckte. Eigentlich hatte sie es sich ja denken können. André hatte nur mit ihr gespielt und sie ausgenutzt. An dem Abend, an dem sie gesehen hatte, wie er aus dem Fenster des Pfarrhauses sprang, war es ihr klar geworden. Und schon kurze Zeit später hatte sie eingesehen, dass sie es schon vorher gewusst hatte. Nur … wofür hatte er sie benutzt? Auf diese Frage formierte sich in ihrem Kopf bereits eine Antwort, aber noch war Nicole nicht so weit, sie ganz nah an sich herankommen zu lassen oder sie gar auszusprechen. Nicht einmal ganz leise.

Sie musste sich zu der richtigen Buslinie durchfragen, das dauerte. Aber sie hatte ja Zeit, es kam nicht darauf an, schnell bei dem Abrisshaus anzukommen, in dem sie eine Nacht mit André verbracht hatte. Sie musste nur ungesehen dort hineinkommen.

Am Ende saß sie mit drei Frauen im Bus, die aussahen, als kämen sie von einer Spätschicht zurück, die ihnen viel abverlangt hatte. Sie war die Einzige, die ausstieg, als sie glaubte, an der richtigen Station angekommen zu sein. Hinter ihr schlossen sich die Türen des Busses, und sie fragte sich prompt, ob sie zu früh ausgestiegen war. Ob es besser gewesen wäre, im Bus sitzen zu bleiben und erst wieder auszusteigen, wenn er erneut am Bahnhof angekommen war. Aber für diese Gedanken war es nun zu spät, und Nicole spürte, dass sie sogar froh darüber war. Sie wollte endlich mal Mut beweisen. Schon als sie mit André in dieses Abrisshaus gegangen war, hatte sie Mut gezeigt, jawohl! Aber da war sie an seiner Seite gegangen, da war es leicht gewesen, Mut aufzubringen. Jetzt jedoch war sie allein, nun brauchte sie noch viel mehr Mut als an dem Abend, als das Haus voll von jungen Leuten gewesen war.

An diesem späten Vormittag war es sehr still in diesem Stadtteil. Niemand war auf der Straße, den sie hätte fragen können. Wonach auch? Nach einem Haus, das in so schlechtem Zustand war, dass es bald abgerissen werden sollte? Davon gab es hier viele. Sie musste sich also selbstständig auf die Suche machen und nur darauf achten, sich den Weg zurück zur Bushaltestelle einzuprägen. Ein Haus glich dem nächsten in der Straße, in die sie einbog, und obwohl die Umgebung ganz anders aussah als im Dunkeln, einerseits noch schmutziger und heruntergekommener, andererseits aber auch klar und ehrlich, wusste sie, dass sie hier richtig war. Vor einem besonders baufälligen Haus blieb sie stehen. Im Schein der vielen Kerzen, die auf den Böden und Fensterbänken gestanden hatten, war so etwas wie Romantik aufgekommen, jetzt, bei Helligkeit, war klar, dass romantische Gefühle hier keinen Platz hatten. Dieses Haus war nichts als ein Rattenloch, das von Leuten bewohnt und genutzt wurde, denen es nicht gehörte. Und eigentlich war es respektlos und geringschätzig von André gewesen, sie in dieses Haus zu bringen und ausgerechnet dort die Nacht mit ihr zu verleben. Sie hätte sich niemals darauf einlassen dürfen. Und natürlich hätte auch Dennis nicht erlauben dürfen, dass sein Freund so mit seiner Schwester umging. Aber sie begriff nun, worum es den beiden gegangen war. Der Verdacht hatte in ihr geschwelt, nun brach das Feuer der Empörung in ihr aus. Sie war missbraucht worden. Nicht nur von André, auch von Henk und sogar von ihrem Bruder. Alle drei hatten sich ihrer nur bedient. Ein schrecklicher Verdacht, der nun Erkenntnis wurde. Sie fühlte sich wie dieses Abrisshaus, das in der Dunkelheit Charme besessen hatte, aber im Licht des Tages abgrundtief hässlich und abstoßend war. Das machte alles einfacher.

Ob jemand im Haus war, ließ sich nicht ausmachen. Ob überhaupt jemand dort wohnte, wusste Nicole ebenfalls nicht. Vielleicht wurde es nur zum Feiern benutzt? Und von Leuten, die gelegentlich einen Ort brauchten, um ihren Rausch auszuschlafen.

Erstaunlicherweise war die Haustür abgeschlossen. Einen Augenblick war Nicole ratlos, dann ging sie ums Haus herum, wo es noch eine Teppichstange gab und einen Holzkasten, der wohl mal mit Sand gefüllt gewesen war, als noch Kinder in diesem Haus wohnten, die dort gespielt hatten. Sogar ein zerbrochenes Förmchen sah Nicole im Unkraut liegen.

Eins der großen Fenster im Erdgeschoss war mit einer Decke zugehängt worden. Sie bewegte sich leicht, als wäre jemand im Raum daran vorbeigegangen. War sie gesehen worden? Nicole war drauf und dran, wieder auf die Straße und zur Bushaltestelle zurückzulaufen. Aber dann dachte sie daran, was sie sich zurechtgelegt hatte. Wenn sie gesehen und gefragt wurde, was sie hier wollte, würde sie an die Party erinnern und behaupten, sie hätte etwas verloren, was sie oben, in der Mansarde, suchen wolle. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand sie daran hindern würde, die Treppen hochzusteigen.

Sie sah einen Kellerabgang, von einem wackeligen Geländer geschützt und von Unkraut überwuchert, das aus jeder Ritze kroch. Aber Nicole konnte erkennen, dass diese Treppe in letzter Zeit benutzt worden war. Es hatte sich ein Pfad gebildet, auf dem das Unkraut hundertmal niedergetrampelt worden war und sich irgendwann nicht mehr aufgerichtet hatte.

Auf diesem Pfad stieg sie vorsichtig die Treppe hinab und schob die Tür auf, die in einen dunklen Kellergang und dort geradewegs auf eine steile Treppe zuführte. Links und rechts gab es viele schmale Türen, die in Verschläge führten, in denen sich Vergessenes auftürmte und Hinterlassenschaften zurückgeblieben waren, die Nicole sich auf keinen Fall näher ansehen wollte. Als es irgendwo raschelte und huschte, ging sie so schnell wie möglich zu der Treppe mit den ausgetretenen Stufen. Sie endete oben an einer Tür, hinter der es still war. Nicole schob sie auf, ohne sich zu fragen, ob das Knarzen jemanden auf den Plan holen würde. Als sie in den Hausflur getreten war, wartete sie auch nicht auf eine Reaktion, sondern stieg ohne zu zögern die Treppen hinauf. Eine Etage, dann noch eine. Vor der letzten Treppe, die in die Mansarde hochführte, blieb sie stehen, zögerte, legte die Hand aufs Geländer und sah hinauf, ehe sie einen Fuß auf die erste Stufe setzte. Schon auf der Hälfte der Treppe wusste sie, dass dort oben jemand war. Wenn sie auch keine Stimmen hörte, keine Schritte, keine Bewegungen vernahm, war sie doch sicher, dass sich jemand dort aufhielt.

Geräuschlos die Treppe hochzusteigen war nicht möglich. Die Stufen knarrten bei jedem Schritt, aber das alte Haus war ohnehin voller Geräusche, vielleicht hörte sie niemand. Nicole war jedenfalls entschlossen, nicht wieder kehrtzumachen, ehe ihr bestätigt worden war, was sie vermutete.

Sie war auf der oberen Stufe angekommen, als sie etwas hörte. Ein Drucksen, fein und zart, ein leises Wimmern, ein Schmatzen. Und dann die Geräusche von jemandem, der darauf reagierte. Das Verrutschen einer Matratze, das Rascheln von Bettzeug, Füße, die sich auf den Boden stellten, der beruhigende Ton einer Stimme. Andrés Stimme.