März 1986, Bremen
Dennis waren an diesem Tag viele Fehler unterlaufen. Sein Chef hatte ihn schließlich angefahren: »Was ist heute los mit dir?« Und dann ein wenig ruhiger und sogar besorgt: »Ist was mit deinem Opa? Sag schon. Wenn du nicht richtig bei der Sache bist, weil du dir Sorgen um ihn machst, dann solltest du besser dort Hand anlegen, wo du dich wenigstens nicht verletzen kannst.« Er zeigte auf einen Stapel Bretter, große und kleine, schmale und breite, die nicht mehr zu gebrauchen waren und auf den Hof getragen werden sollten. Dennis nickte, natürlich ohne Auskunft über seinen Opa zu geben, und fing an, den Ausschuss nach draußen zu bringen.
Endlich wurde die Mittagspause eingeläutet. Dennis murmelte etwas von einem Spaziergang, den er nötig hätte, und ging zur Straßenecke, wo es eine Telefonzelle gab. Als er die Nummer der Knut-Augustin-Stiftung gewählt hatte, meldete sich Romy.
»Kann ich mit Nicole reden?«, fragte Dennis.
Kurz darauf legte er wieder auf. Seine Schwester war krank? Sie hatte nichts davon gesagt, als sie ihn angerufen hatte. Ihre Stimme hatte auch nicht erkältet oder heiser gelungen.
Kurzentschlossen wählte er die Nummer seiner Großeltern. Natürlich hätte er auch seine Eltern anrufen können, aber die kamen ihm immer mit Fragen nach der Ausbildung, nach der Berufsschule, mit Oma oder Opa zu reden war immer einfacher. »Was ist mit Nicole?«, fragte er, als Frida sich meldete.
Frida reagierte erstaunt. »Was soll mit ihr sein?«
»Ist sie nicht krank?«
»Wie kommst du darauf? Sie ist zur Arbeit gefahren. Wie immer.«
Dennis zwang sich, noch eine Weile mit seiner Oma zu plaudern, damit sie seine Frage vergaß. Dann legte er auf und trat nachdenklich aus der Telefonzelle. Was hatte das zu bedeuten? Es musste etwas mit André zu tun haben. Ob sie ihn suchte? Ob sie seine Adresse kannte und nun bei seiner Zimmerwirtin klingelte? Dennis ging langsam zur Schreinerei zurück. Die Sache gefiel ihm nicht. Er steckte die Hände in die Taschen und fühlte in der rechten einige Münzen. Er nahm sie in die Hand, ließ sie klirren und wieder in die tiefe Tasche fallen. Sein Blick ging zum Eingang der Spielhalle. Verdammt, hätte er sich nur eine andere Telefonzelle ausgesucht! Er wusste doch, dass es gefährlich war, in diese Richtung zu gehen, statt in die entgegengesetzte, wo es auch eine Telefonzelle gab, wenn der Weg auch etwas weiter war. Wie viel Geld mochte es sein? Er wog die Münzen in der Hand, ohne sie hervorzuholen. Womöglich waren es nur Groschen, dann würde er nicht weit kommen. Aber vielleicht waren auch einige Markstücke dabei? Aus fünf, sechs Mark konnte er leicht zehn oder zwanzig machen. Andererseits … dieses Geld in seiner rechten Hosentasche musste bis Ultimo reichen. Er konnte sich nirgendwo etwas leihen, niemand gab ihm mehr auch nur zehn Pfennig, sondern erinnerte ihn an die Schulden, die er überall hatte. Wenn er dieses Geld verlor, würde er sich etwas zu essen stehlen müssen. Oder nach Riekenbüren fahren und sich von seinen Eltern oder Großeltern durchfüttern lassen, vorausgesetzt, er hatte noch Geld für einen Busfahrschein.
Er war froh, als er Henk auf sich zukommen sah. »Willst du zu mir?«
Henk steckte die Hände in die Hosentaschen und baute sich vor ihm auf. »Du hast doch Mittagspause, oder? Wir müssen bereden, wie wir das mit der Lösegeldübergabe machen.«
»Ist es so weit?« Dennis war überrascht. »Hast du mit Mike Heiser gesprochen?«
Henk nickte. »Es ist alles klar. Er muss nur noch Anweisungen bekommen. Schritt für Schritt! Ich habe ihm gesagt, er soll sich bereithalten. Wenn ich ihn das nächste Mal anrufe, muss er sofort aufbrechen.« Er betrachtete Dennis von oben herab, als verachtete er ihn dafür, dass er keine Erfahrungen im Bereich Kidnapping hatte. »Immer schön eins nach dem anderen. So macht man das.«
»Und wer soll es machen? Du?« Er fürchtete sich davor, dass er dazu ausersehen würde, das Lösegeld in Empfang zu nehmen.
»Klar! Ich!«, kam es da zu seiner Erleichterung zurück. »André und du, ihr habt ja nicht die Nerven für so was.«
Dennis überlegte, ob er ihm davon erzählen sollte, dass Nicole sich in der Stiftung krankgemeldet hatte, obwohl sie am Morgen angeblich zur Arbeit gefahren war. Aber dann ließ er es sein. Henk würde über ihn lachen. Er hatte keine Schwester, er wusste nicht, wie man mit Mädchen umging, und er konnte sich nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die sich nur krankmeldeten, wenn es ihnen wirklich schlecht ging, und so gewissenhaft waren, dass es einen Grund geben musste, wenn sie etwas taten, was sich nicht gehörte. Henk wusste nicht einmal, was sich gehörte. Nein, Dennis schüttelte den Gedanken ab. Eigentlich wollte er nur noch eins: dass die Sache endlich über die Bühne ging, dass Alisia wieder zu ihrer Mutter konnte und er selbst viel Geld in den Händen hatte, um seine Schulden zu bezahlen.