März 1986, Achim

Mike fühlte sich schlecht. Die Erleichterung, sich endlich zu einer Lösung durchgerungen zu haben, tat ihm viel weniger gut, als er erwartet hatte. Vermutlich würde es ihm helfen, Kari zu besuchen und alles zu tun, damit sie Hoffnung schöpfte und ruhiger wurde. Wenigstens für kurze Zeit.

Als er das Haus für gefallene Mädchen verließ, vor der Tür stehen blieb und tief die klare Luft einatmete, glaubte er dennoch, dass es ihm jetzt besser gehen würde. Er hatte eine Entscheidung getroffen! Ob sie richtig war oder nicht, wusste er nach wie vor nicht genau, aber alles war besser, als sich mit der Frage herumzuquälen, wie es weitergehen sollte. Jetzt wusste er es! Und damit war eine schwere Last von ihm abgefallen. Es würde schon gut gehen. Was sollte man ihm beweisen, wenn es tatsächlich einmal dazu kommen würde, dass Beweise nötig wurden? Die Angelegenheit musste in die Länge gezogen werden, das war wichtig. Je mehr Zeit verstrich, desto schwieriger würde es sein, Beweise oder Gegenbeweise zu finden. So was konnte dauern. Wichtig war es, jetzt nett zu Kari zu sein, damit sie weiterhin an seiner Seite war. Vielleicht war es vernünftiger, ständig bei ihr zu sein, damit er wusste, was sie tat und mit wem sie redete? Aber das würde sie nicht wollen und er selbst natürlich auch nicht. Außerdem war es notwendig, dass ständig jemand in der Nähe des Telefons war. Wenn sie zusammen sein wollten, musste Kari zu ihm in sein Hotelzimmer ziehen. Um Gottes willen! Das fehlte noch!

Mike blickte auf die Uhr. Der Entführer hatte gesagt, er wolle gegen Abend wieder anrufen. Es war also kein Risiko, jetzt für eine Stunde oder zwei sein Zimmer zu verlassen. Meine Güte, er musste ja auch mal raus! An die frische Luft!

Nur gut, dass die Zeitungsreporter sich zufriedengegeben hatten. Ihnen war eine Homestory angeboten worden, sie durften kurz nach der Geburt schon Kari mit dem Baby fotografieren, ihr Bedarf war gestillt. Wenigstens fürs Erste! So machte man das als Promi. Wenn man seine Ruhe haben wollte, musste man dafür etwas bieten. Ein ganz normales Geschäft.

Natürlich tuschelten die Hotelgäste, die an der Rezeption standen oder in der kleinen Sitzgruppe auf etwas warteten, als er die Lobby durchquerte, aber niemand sprach ihn an oder hielt ihn auf. Er sah in lächelnde Gesichter und brachte es sogar über sich, ebenso lächelnd zurückzunicken. Er war ein junger Vater, der Frau und Kind besuchte! Ihm folgten ausschließlich freundliche Blicke. Wer sich etwas denken wollte, würde sich allenfalls fragen, warum Mike Heiser im Hotel wohnte und seine Frau nach wie vor im Entbindungsheim, warum die junge Familie noch nicht in ihr Zuhause nach Sylt gezogen war. Aber das wäre leicht damit zu erklären, dass Kari noch nicht reisefähig war. Irgendeine Wochenbettkomplikation.

*

»Ach, Hajo«, seufzte Kari und griff nach seiner Hand. »Wir haben viel nachzuholen.«

Der Vater ihres Kindes, der Mann, der zu ihr gehörte, zu ihr gehören sollte! Der Mensch, der mit ihr litt, sich mit ihr um Alisia sorgte! Was war das für ein Gefühl, das sie mit ihm verband? Was war es, das sie zu ihm hinzog? Die Sehnsucht nach Geborgenheit? Eigentlich war sie ja auch bei ihren Eltern geborgen gewesen, bei dem Mann, der sich ihr Vater genannt hatte, bei ihrer Mutter, die nach wie vor für sie da war. Kari merkte, dass ihr Herz weich und weit geworden war. Trotz der Angst um Alisia, trotz der großen Sorge. Was war es, was diese Änderung bewirkt hatte? Seit Hajo ihr klargemacht hatte, was sie ihm bedeutete, konnte sie Olaf verzeihen, seitdem hatte sie ihren Vater verloren, nicht einen Mann, der sich als Vater ausgegeben hatte. Sie konnte um ihn trauern und hoffen, dass Alisia bald zu ihr zurückkam. Das war nur in dieser Nähe möglich, nur in Hajos Gegenwart.

Er entzog sich ihr sanft. »Du bist und bleibst die Frau von Mike Heiser, daran ändert sich nichts.«

Sie saßen vor der offenen Terrassentür, konnten so einerseits die frische Luft genießen, wurden aber andererseits nicht gesehen.

»Ich habe nun mal diesen besonderen Wiedererkennungswert.« Hajo grinste leicht. »Wenn Mike erfährt, dass du mit einem schwarzen Mann gesehen wurdest …«

Kari unterband mit einer schnellen Handbewegung, was er sagen wollte. »Er darf nicht wissen, dass du bei mir bist. Ich habe ihm versprechen müssen …«

»Ich weiß.« Diesmal war es Hajo, der Kari unterbrach.

»Ich darf ihn nicht verärgern«, fuhr Kari trotzdem fort, »zumindest solange Alisia noch nicht befreit ist. Mike muss das Lösegeld zahlen.«

Sinnend sah Hajo nach draußen, auf die feuchten Wiesen, die sich hinter der Knut-Augustin-Stiftung erstreckten, das niedrige Buschwerk, die tiefen Wolken, die Regen verkündeten. »Er hat auf der Party also alles sehr genau beobachtet.«

»Mike macht nie mit, wenn Drogen genommen werden. Er spendiert sie, aber er nimmt selbst nichts. Ihm ist aufgefallen, dass wir beide eine Weile weg waren.«

Hajo beugte sich zu Kari und flüsterte: »Es tut mir weh, dass du dich an nichts erinnern kannst.« Er legte eine Hand auf das Gitter des leeren Kinderbettchens. »Was sieht der Vertrag vor, den du mit Mike Heiser geschlossen hast?«

Kari hatte es ihm erzählt, er war der Erste, der erfahren hatte, welches Angebot sie Mike aus Freundschaft auf der Party gemacht hatte, damit der Verdacht, er sei schwul, endlich ausgeräumt war. Und auch Indra wusste Bescheid.

»Zwei Jahre muss ich an seiner Seite durchhalten«, seufzte Kari. »Eine lange Zeit.«

Hajo griff nach ihrer Hand. »Ich werde auf dich warten.«

*

Der Mann, der auf dem Parkplatz des Hotels aus einem Auto stieg, kam Mike bekannt vor. Erst dachte er an einen Journalisten, dann an einen Vertreter des Fernsehsenders, der die Mike-Heiser-Show produzieren wollte, dann aber fiel ihm auf, dass ein Ehepaar auf den Mann aufmerksam wurde, das tuschelnd stehen blieb. Also ein Gesicht, das bekannt war. Der männliche Teil des Paares suchte bereits seine Jackentasche ab, als wollte er etwas zutage fördern, worauf ein Autogramm unterzubringen war.

Der Neuankömmling holte eine Reisetasche aus dem Kofferraum des grauen Audi, warf den Deckel zu und wandte sich zum Gehen. Als ihm das aufgeregte Ehepaar in den Blick kam, entschloss er sich jedoch, die Richtung zu ändern, und ging nicht zum Hoteleingang, wo er abgefangen werden sollte, sondern zur Ausfahrt, die auf die Straße führte. Offenbar nahm er lieber eine Unbequemlichkeit in Kauf, als sich ansprechen zu lassen und womöglich weitere Autogrammjäger auf den Plan zu rufen, wenn er sich auf diese beiden einließ.

Er erkannte Mike sofort, der stehen geblieben war, als ihm klar wurde, wer soeben im Haus für gefallene Mädchen angekommen war. Zwei Prominente, die sich auf Augenhöhe begegnen konnten! Mike Heiser und Samy Angermann waren sich schon einmal begegnet, auf einem Presseball oder auf einer Party von Peter Maffay, Mike wusste es nicht mehr genau.

»Sie wollen Ihre Frau besuchen?«, erkundigte sich Samy, während er Mike zum Entbindungsheim begleitete, nachdem er die Reisetasche in den Kofferraum zurückgestellt hatte. »Ich komme mit, einchecken kann ich auch später noch.«

»Sie wollen einen Besuch bei einer jungen Mutter machen?«, fragte Mike.

»Meine Nichte hat in der Knut-Augustin-Stiftung ihr Baby bekommen. Indra und Ihre Frau haben Kontakt miteinander.«

»Richtig!« Mike tat so, als wüsste er Bescheid. So musste man ja wohl reagieren, wenn man ein Ehemann war, der sich täglich bei seiner Frau aufhielt.

Nun wurde die Stimme von Sammy Angermann sehr leise, obwohl es weit und breit niemanden gab, der sie belauschen konnte. »Es war Indras Baby, das in den Zeitschriften im Arm Ihrer Frau zu bewundern war.«

Mike ging ein Licht auf. Mit einem Mal wusste er tatsächlich, um wen es sich bei dieser Indra handelte.

Samy zwinkerte Mike zu. »Ich weiß Bescheid.«

Mittlerweile waren sie vor dem Entbindungsheim angekommen, wollten sich gegenseitig den Vortritt lassen und wären dabei beinahe gegeneinander geprallt. Lachend betraten sie schließlich das Haus, beide mit wachsamen Blicken, die sie nach links und rechts warfen. Zwei Prominente, die sich mit Neugierigen und mit zudringlichen Fans auskannten.

Sie bogen gemeinsam in den ersten Gang ein, wo es zu den Apartments ging. »Indra liegt eigentlich noch in einem der Krankenzimmer«, erklärte Samy Angermann leise. »Aber wenn ich sie besuche, geht sie immer in ihr Apartment. Auf der Krankenstation gibt es zu viele neugierige Schwestern.«

Beide erschraken zu Tode, als sich am Ende des Gangs zwei Personen aus einer Sitzecke lösten und auf sie zustürmten. Mike fuhr gleich noch ein zweites Mal zusammen, als Samy Angermann auf eine Zimmertür zusprang, sie aufriss und dahinter verschwand. Die Tür zu Karis Zimmer! Was hatte das zu bedeuten? Es konnte sich bei den beiden Personen nur um Klatschreporter handeln, denen es irgendwie gelungen war, hier einzudringen und ihnen aufzulauern. In Bruchteilen von Sekunden entschied Mike, dass seine Anwesenheit nur zu Zeitungsberichten führen würde, die weder ihm noch Kari recht sein konnten. Also machte er es ähnlich wie Samy Angermann, riss die nächste Tür auf, hinter der Indra Wiemann mit ihrem Baby wartete, und warf sie hinter sich ins Schloss.

Indra sah ihn entsetzt an. »Was wollen Sie von mir?«

Zu einer Antwort kam Mike nicht mehr. Die Tür wurde erneut aufgerissen, und ein Ehepaar erschien im Zimmer. Rachedurstig, aufgebracht, triumphierend! »Aha! Haben wir Sie also erwischt!«

*

Hajos Reaktion war imponierend, wenn auch zwecklos. Er sprang auf, kaum dass die Tür aufgerissen worden war, machte einen Satz auf die Terrasse und lief ein paar Meter in den Garten hinein, während Kari wie gelähmt sitzen blieb und den Mann anstarrte, der nun die Tür hinter sich abschloss.

»Was wollen Sie von mir?« Dass sie dieselbe Frage aussprach wie Indra im Zimmer nebenan, konnte sie nicht wissen.

»Keine Angst«, versicherte Samy Angermann, kam auf sie zu, merkte dann aber, dass Kari ängstlich zurückwich, und ging rückwärts zur Tür zurück. »Ich wollte nicht … Es ist nur so …«

Als er sah, dass Hajo kehrtmachte und auf die Terrasse zurückkam, drehte er sich um und ging zur Tür zurück. »Tut mir leid, ich wollte nicht stören.«

Kari hatte nun begriffen, was vor sich ging. »Indras Eltern?«, fragte sie.

Hajo trat ein und machte sich mit Samy Angermann bekannt. »Sorry, dass ich weggelaufen bin. War ein Reflex. Ich dachte …« Er sprach nicht aus, was er gedacht hatte, aber Kari wusste natürlich, dass er mit Mike Heisers Erscheinen gerechnet hatte. Dass auch in diesem Fall eine Flucht unsinnig gewesen wäre, sah er jetzt ein. Genauso wie Kari. Hajo war von Samy Angermann gesehen worden, und Mike hätte ihn auch in dem Moment erkannt, in dem er Karis Zimmer betreten hätte. Flucht war zwecklos.

Nun waren nebenan laute Stimmen zu hören. Wütende Vorwürfe, kreischende Beschuldigungen, Indras zornige Verteidigung und dann eine Stimme, die Kari kannte. »Mike? Was macht er bei Indra? Und warum …?« Sie sprach nicht weiter, weil sie mit einem Mal begriff, was geschehen war.

Samy nickte. »Sie hatten Indra etwas von einem Kurzurlaub in Meran erzählt. Wir waren sicher, dass ich Indra und David gefahrlos besuchen könnte. Aber das war wohl eine Falle.«

Kari lauschte auf das Getöse von nebenan. »Und nun?«

Samy Angermann schlich sich zur Terrassentür. »Ich mache mich vom Acker«, flüsterte er und nickte nach draußen. »Komme ich durch den Garten auf die Straße zurück?«

Er wartete eine Antwort nicht ab, sondern lief hinaus, hielt sich so weit rechts wie möglich, damit er von Indras Zimmer aus nicht gesehen werden konnte, und war im Nu verschwunden.

Kari griff nach Hajos Arm und drängte ihn ebenfalls hinaus. »Mike wird sicherlich gleich bei mir auftauchen. Pass auf, dass er dich nicht zu sehen bekommt.«

Hajo war im Nu verschwunden, und Kari ließ sich aufseufzend neben dem leeren Kinderbett nieder, während der Streit nebenan weiterging. Wie lange brauchte Indra, um ihren Eltern klarzumachen, dass sie ihre Tochter mit dem falschen Mann erwischt hatten?