März 1986, Achim

Romy blickte erstaunt auf, als Nicole eintrat. »Mit dir habe ich nicht mehr gerechnet. Geht’s dir besser?« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Es ist bald Feierabend.«

Nicole ging nicht zu ihrem Arbeitsplatz, sondern setzte sich auf den Besucherstuhl, der vor Romys Schreibtisch stand. Romy spürte, dass etwas in ihrer jungen Kollegin vorging, was rausmusste. Sie legte die Akte beiseite, die sie gerade bearbeitete, und beugte sich vor. »Was ist los?«

Nicole war blass, ihr Gesicht, das immer einen Ausdruck naiver Freundlichkeit trug, wirkte ernst, sogar distanziert. Ihre Augen hatten einen Glanz, der Unheil verkündete. »Ich glaube, ich weiß, wo Alisia ist«, sagte sie leise, aber klar und so schlicht, dass Romy ihr sofort glaubte.

Nicole ließ sich nicht bitten zu berichten, sie tat es ohne Aufforderung. So, als hätte sie lange überlegt, wie sie mit ihrem Wissen umgehen sollte, nun aber, da sie sich entschlossen hatte, die Sache zügig hinter sich bringen wollte. »Ich hatte zufällig jemanden etwas sagen hören, wobei ich mir aber an dem Abend nichts gedacht habe. Einer hat einen anderen gefragt, was dieser Wäschekorb oben auf dem Speicher sollte. Der sähe ja aus wie ein Babybett. Ob Cindy etwa schwanger sei?« Nicole holte tief Luft, als strengte es sie an, von diesem Abend zu sprechen. »Natürlich habe ich mir nichts dabei gedacht. Aber jetzt … Klar, das wäre schon ein totaler Zufall, aber …«

Sie brauchte nicht zu Ende zu reden, Romy reagierte sofort. »Ja, ein verrückter Zufall, aber wir müssen der Sache nachgehen, wir haben ja sonst keine Spur.« Romy griff nach dem Telefonhörer. »Wir müssen Hajo verständigen.«

Nicole nickte, diese Idee hatte sie auch längst gehabt. Ein Mann an ihrer Seite würde alles einfacher machen. Selbst, wenn es sich um einen Mann handelte, der später leicht wiedererkannt wurde, während Romy und Nicole vielleicht fliehen konnten, ohne identifiziert zu werden. Man wusste ja nie.

Hajo machte einen nervösen, unkonzentrierten Eindruck, als er ihr Büro betrat. Zwar hatte er nicht gezögert, schien sich aber nur schwer auf das konzentrieren zu können, was Nicole zu berichten hatte. Dann aber, als sie geendet hatte, veränderte sich der Blick seiner dunklen Augen, sie schienen heller zu werden, Romy kam es so vor, als wäre darin ein Licht angezündet worden, das wie ein Scheinwerfer nach der Wahrheit tastete.

»Nicole, das ist einfach großartig«, sagte er schlicht, aber so unbeschönigt, dass Nicole vor Freude rot anlief. »Natürlich ist nichts sicher, aber es könnte wirklich sein …«

Und dann plante er den vor ihnen liegenden Abend, ohne zu fragen, ob Romy und Nicole einverstanden waren, ohne sie überhaupt zu Wort kommen zu lassen. Er schien Gefühle außen vor lassen zu wollen, nur an das Ziel zu denken, nur an ein Happy End. Offenbar gehörte er zu den Menschen, die nicht nach rechts und links blickten und sich nicht ablenken ließen, wenn sie genau wussten, was sie wollten.

Schließlich erhob er sich. »So müsste es gehen.«

Auch Romy und Nicole standen auf. Ein feierlicher Moment senkte sich über sie, Romy war drauf und dran, ihre rechte Hand auszustrecken, damit die anderen beiden einschlugen und sie ihren Pakt besiegelten. Das Ziel: Alisias Befreiung! Aber dann erschien es ihr doch zu pathetisch, und sie ließ es bleiben.

Hajo blickte auf seine Armbanduhr, ehe er ging. »In drei Stunden hole ich euch ab. Wir nehmen meinen Wagen.« In der Tür drehte er sich noch einmal um und sah Nicole an. »Ganz große Klasse, Nicole! Wenn es gelingt, werden Kari und ich dir für immer zu großem Dank verpflichtet sein.«

»Ich auch«, bekräftigte Romy.

Und Nicole stand da, als wäre sie mit Glück übergossen worden. Während sie darauf warteten, dass die drei Stunden vorübergingen, dachte Romy darüber nach, wie oft Nicole in ihrem Leben gelobt worden war. Vermutlich viel zu selten.