März 1986, Achim
Romy ging von einem Fenster zum anderen und wieder zurück. Sie hatte auf der Entbindungsstation Bescheid gesagt, dass das Büro der Knut-Augustin-Stiftung an diesem Tag nicht besetzt sein würde. Nicole sei nach wie vor krank, und sie selbst wohl von ihr angesteckt worden. Schwester Roswitha solle sich darum kümmern, dass Dringliches verschoben und besonders Eiliges von einem anderen erledigt wurde.
Romy hatte sich an diesem Morgen nicht einmal die Mühe gemacht, sich zu frisieren und zu schminken. Derart ließ sie sich sonst nur gehen, wenn sie vierzig Grad Fieber hatte oder schwersten Liebeskummer. Beides war schon lange nicht mehr vorgekommen. Dennoch trug sie heute einen Jogginganzug, den sie sonst nur anzog, wenn sie garantiert allein und kein Besuch zu erwarten war und sie plante, den Abend auf dem Sofa zu lümmeln und sich sämtliche Sissi-Folgen hintereinander anzusehen. Wenn sie sich auch krankgemeldet hatte, an diesem Tag würde sie trotzdem nicht allein bleiben, aber Romy hatte einfach nicht die Kraft aufgebracht, sich ihrem Spiegelbild zu stellen. Schlaftrunken war sie aus dem Bett gestiegen, hatte sich nur die Zähne geputzt, aufs Duschen verzichtet und sich einen starken Kaffee gekocht. An Frühstück war nicht zu denken. Nicht einmal dazu hatte sie genug Kraft.
Die Gedanken an die vergangene Nacht vermischten sich mit den Erinnerungen an die Klassenfahrt nach Sylt. Sechzehn war sie gewesen, so wie Brit, die auf der Insel ihre große Liebe gefunden hatte. Dann vermischten sich die Erinnerungen an ihre Schwester mit dem, was Romy letzte Nacht erlebt hatte, Maria im Entbindungsheim, Brit, die sie dort wiedergesehen, der sie zur Flucht verholfen hatte …
Romy hatte schweigend neben Hajo gesessen, Nicole auf dem Rücksitz, die gelegentlich Hinweise gab, welchen Weg Hajo nehmen sollte.
Je näher sie der Straße kamen, in der das Abrisshaus stand, desto langsamer fuhr Hajo. »Hier kann ich das Auto ja nirgendwo parken«, meinte er schließlich. »Das wird mir sofort geklaut.«
»Wir müssen das Risiko eingehen«, sagte Romy. »Wir können nicht mit dem Kind einen weiten Weg zurücklegen. Es ist kalt in der Nacht, wer weiß, was die Kerle der Kleinen angezogen haben. Die kennen sich vermutlich nicht aus mit Babypflege.«
Hajo brummte etwas Zustimmendes, fuhr einmal an dem Haus vorbei, wendete am Ende der Straße und kehrte zurück. Die Häuser ringsum waren allesamt unbewohnt, Schilder wiesen darauf hin, dass an dieser Stelle demnächst neue Wohnungen entstehen würden. Dennoch war hinter einigen Fenstern Licht zu entdecken, meist das flackernde Licht von einer Kerze. Der elektrische Strom war vermutlich längst abgestellt worden. Wer hier wohnte, zahlte keine Miete, hatte keine Ansprüche.
Auch in dem Haus, in dem sie Alisia vermuteten, brannte im Erdgeschoss hinter zwei Fenstern ein schwaches Licht. Ob sich auch in der Mansarde jemand aufhielt, ließ sich nicht feststellen, die Dachfenster konnte man von der Straße aus nicht erkennen.
»Lasst uns durch den Keller gehen«, schlug Nicole vor. »Die Haustür war heute Nachmittag abgeschlossen.«
Sie ging voran, Hajo folgte ihr, Romy bildete das Schlusslicht. Vorsichtig tasteten sie sich den Kellerabgang hinab und dann durch den finsteren Flur bis zu der Treppe, die ins Erdgeschoss hinaufführte. Nicole schlich ihnen voraus und schob, oben angekommen, die Tür auf. Sie knarrte vernehmlich, aber eine Reaktion auf dieses Geräusch blieb zum Glück aus. Nun standen sie an der Haustür, drei Stufen führten zu der Erdgeschosswohnung, sie hatten einen Terrazzobelag, ihre Gummisohlen machten kein Geräusch. Anders war es, als sie in die oberen Etagen hochstiegen. Hier handelte es sich um Holztreppen, deren Stufen bei jedem Schritt ächzten und stöhnten. Obwohl sie versuchten, sehr leise zu sein, war es nicht möglich, geräuschlos nach oben zu gehen. Doch sie schienen nicht bemerkt zu werden. Als sie oben angekommen waren, hatte niemand versucht, sie aufzuhalten. Nun gab es nur noch eine sehr schmale Stiege, die in die Mansardenzimmer hochführte. Sie verständigten sich mit einem Blick, reden wollten sie nur, wenn es unbedingt sein musste.
Wieder sollte Nicole vorangehen, sie war die Einzige, die sich auskannte. Als sie auf dem niedrigen Gang angekommen waren, von dem die Türen zu den Mansardenzimmern abgingen, deutete Nicole auf die Tür, hinter der Alisia schlief, und zu dem Toilettenraum am Ende des Flurs. Nun ging es darum, denjenigen aus dem Zimmer zu locken, der bei Alisia wachte. Dass man sie allein gelassen hatte, darauf durften sie wohl nicht hoffen.
Hajo und Romy drängten sich in den Toilettenraum, zogen die Tür zu sich heran, schlossen sie aber nicht ganz, damit sie genau mitbekamen, was geschah. Romy rümpfte die Nase. Was für ein Gestank! Hier war scheinbar schon seit langer Zeit nicht mehr sauber gemacht und noch nie gelüftet worden. Sie hatte ihre liebe Müh’, sich keine Gedanken über Hajos Nähe zu machen. Er roch gut, sein dezentes Aftershave gefiel ihr.
Nun hörten sie Nicole klopfen und ihre leise Stimme: »Hallo? Ist da jemand?«
*
Nicole klopfte noch einmal, aber es blieb still, nichts rührte sich. »Hallo? Kann ich reinkommen?«
Jetzt gab es endlich eine Reaktion. Rumoren im Zimmer und Schritte. Nicole drückte schnell die Klinke herunter. Wer immer jetzt öffnete, würde vielleicht etwas sagen, was Hajo und Romy hören konnten. Das durfte nicht sein.
Nicole trat ein und zog die Tür hinter sich umgehend wieder zu. André stand vor ihr. Gott sei Dank, André! Sie hatte Angst gehabt, auf Henk zu treffen, den sie nicht mochte.
Eine kleine Hoffnung hatte es in ihrem Herzen gegeben, dass er sich freuen könnte, sie zu sehen. Aber sie hatte sich getäuscht. Er sah sie verblüfft, aber alles andere als erfreut an. »Was willst du denn hier?«
Nicole kämpfte prompt mit den Tränen, schaffte es aber, wenn auch zaghaft, zu fragen, was Hajo ihr eingeschärft hatte: »Ich habe was verloren. In der Nacht, in der wir hier geschlafen haben. Einen Schlüssel. Ich habe ihn schon überall gesucht.«
»Das glaubst du doch selbst nicht«, kam es zurück. »Rennst du mir hinterher? So toll war die Nacht mit dir nun auch wieder nicht, dass ich das noch mal haben muss.« Er schob sie zurück Richtung Tür. »Red’ leise, du weckst hier ja alle auf.«
»Wieso? Ist jemand bei dir?«
»Nein. Bist du jetzt etwa auch noch eifersüchtig? Wie kommst du überhaupt darauf, dass ich hier bin?«
»Ich dachte, es könnte sein. Jedenfalls wollte ich nicht einfach hereinplatzen, um meinen Schlüssel zu suchen.«
»Hier ist kein Schlüssel.« Nun stand Nicole auf dem Flur, und André griff nach ihrer Schulter und drängte sie vorwärts. »Wir gehen runter. Ich frage Bobby mal, ob er was gefunden hat.«
Nicole ergab sich und ließ sich von ihm schieben. André hatte so reagiert, wie es zu erwarten gewesen war. Er hatte dafür gesorgt, dass Nicole sich nicht länger in dem Mansardenzimmer aufhielt und am Ende noch das Baby entdeckte. Trotzdem war sie erleichtert. Romy und Hajo hatten nichts gehört, was ihnen verraten könnte, dass sie den Mann kannte, der sich in dem Raum aufhielt. André hatte es zwar nicht verdient, dass sie ihn schonte, aber Nicole brauchte sich nicht lange zu fragen, ob ihr Bruder mit ihm unter einer Decke steckte. Vielleicht war Dennis sogar die treibende Kraft gewesen und hatte André zu dieser Entführung überredet. Der Wäschekorb am anderen Ende des Raums war jedenfalls Beweis genug gewesen. Nicole hatte die richtigen Schlüsse gezogen. Als sie André beim Sprung aus dem Fenster des Pfarrhauses erkannt hatte, war ihr sofort klar geworden, dass er Alisia in dieses Haus bringen würde. Ein todsicheres Versteck.
*
Romy schob die Toilettentür auf, froh, dem widerlichen Raum entkommen zu können, und huschte zu der Tür, die Nicole ihnen gezeigt hatte. Sie öffnete sich knarrend, und Romy und Hajo brauchten eine Weile, bis sie sich orientiert hatten. Am Ende dieses Raums, in einer Zimmerecke, lag eine Taschenlampe, die einzige Lichtquelle. Ihr Strahl zeigte an die Wand, ein kreisrunder heller Fleck. In der Zimmerecke gegenüber stand ein alter Wäschekorb. Ein bauschiges Kissen war zu sehen, aber keine Bewegung. Doch als sie näher herantraten, sahen sie das Baby. Alisia, Karis Cappuccinchen, mit runden Wangen, in tiefem Schlaf, die Fäustchen an die Wangen gedrückt, Gott sei Dank sauber, zufrieden und offenbar gut ernährt.
»Schnell!«, sagte Hajo.
Romy riss das Federbett von dem Kind, die Kleine bemerkte es nicht. Vorsichtig nahm sie das Baby auf den Arm, dann liefen sie hinaus, Hajo voraus. Den Gang hinunter, die Treppe hinab in die erste Etage. So hatten sie es verabredet. Dort wollten sie warten, bis André wieder in die Mansarde hochstieg und hoffentlich erst möglichst spät bemerkte, dass das Kind nicht mehr da war. Bis es so weit war, wollten Hajo und Romy längst beim Auto sein, wo Nicole auf sie warten würde. Wenn alles gut ging! Hoffentlich konnten sie durch die Haustür entkommen und mussten nicht noch einmal durch den Keller! Dadurch konnten sie genau die Zeit verlieren, die ihnen am Ende fehlte, wenn André sehr schnell merkte, was geschehen war.
Sie hörten Stimmen von unten, die erregte eines Mannes, sie musste dem Mann gehören, den Nicole geweckt hatte, dann ihre leise Stimme und eine andere, die sich sehr gelangweilt anhörte. Vermutlich dieser Bobby, den es nicht interessierte, dass Nicole nach einer Party hier etwas verloren hatte.
Romy und Hajo huschten die Stiege hinunter, in die erste Etage und dort in einen Flur, in dem sich Kartons und Berge von Zeitschriften stapelten, dazu Türme von leeren Joghurtbechern, die bis an die Decke reichten. Der Rest des Gerümpels war nicht zu identifizieren. Hajo öffnete die erste Tür auf der rechten Seite und ließ Romy mit dem Baby eintreten. Sie wurden von undurchdringlicher Finsternis empfangen. Ein lichtloser Raum, der so roch, als wäre er bewohnt. Menschliche Ausdünstungen, Knoblauch und schwacher Kaffeegeruch. Romy zögerte und drückte das Kind fest an sich. Sie spürte genau, dass sie hier nicht allein waren, dass sie in einen Raum geraten waren, in dem sich jemand aufhielt. Auch Hajo schien es zu bemerken. Er zögerte mit einem Mal, hatte seine Sicherheit verloren, die Romy bis zu diesem Augenblick geholfen hatte, und schob die Tür wieder auf, die er eigentlich gerade schließen wollte. So drang ein wenig Licht in diese Schwärze, aber Romy hatte dennoch nur einen Wunsch: raus! Doch nun hörten sie Stimmen am Fuß der Treppe, jemand schloss die Haustür auf, und Romy schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er sie nicht wieder verriegelte. Von Nicole war nichts mehr zu hören, die beiden Männer hatten sie offenbar hinauskomplimentiert.
Der Entführer würde gleich die Treppe hochkommen, und sobald er oben auf dem Gang der Mansarde angekommen war, würden sie nach unten laufen und abhauen. Sollten sie gesehen werden, würden sie sich nicht aufhalten lassen. Nur weg!
Aber da war wieder das Gefühl gewesen, dass sich jemand zusammen mit ihnen in diesem Raum aufhielt. Romy hatte eine Bewegung gespürt, ohne sie zu hören, hatte sich mit aller Kraft dazu zwingen müssen, nicht kopflos davonzulaufen, sondern zu warten. Hajo hatte ihren Arm genommen, als wollte er eine unvorsichtige Flucht verhindern, auch er hatte also gemerkt, dass hier etwas nicht stimmte. Und gerade als André den Fuß auf die Treppe setzte, hatte Romy eine Stimme gehört. So leise, dass sie kaum zu verstehen gewesen war. Nur ein Hauch, ein Atemstoß, ein Schnauben. »Jesus sieht dich!«
Mittlerweile war Romy an dem Fenster ihres Apartments stehen geblieben, das zur Straße hinausging, sie wanderte nicht mehr von einem zum anderen, sondern ließ sich von dem Gedanken fesseln, von dem Schauer, der noch einmal durch ihren Körper fuhr. Dieser Schreck! Aber dann lächelte sie, ohne es recht zu merken. Der Kerl, der in diesem Zimmer Obdach gefunden hatte, war ein verwahrloster alter Mann gewesen, der sich dort eingeschlichen und Angst hatte, verjagt zu werden. Seine Gestalt war zu erkennen gewesen, als Hajo alle Vorsicht fahren gelassen und die Tür so weit aufgeschoben hatte, dass die zerlumpte Gestalt zu identifizieren gewesen war. Es schien, als wollte er sie auf die Schnelle zur Jesusverehrung überreden, hielt aber aus purem Eigennutz dann doch bald den Mund, als er Andrés Schritte hörte. Erst als sie in der Mansarde verklangen, hatte er wieder zu flüstern angefangen und ihnen ein herrliches Leben neben Gottvater und seinem Sohn verkündet, wenn sie wie er an Jesus glaubten. Dass Romy und Hajo ihm nicht zuhören wollten, sondern so schnell wie möglich die Treppe hinabgelaufen waren, hatte ihn womöglich verstimmt.
Romy ging in ihr Schlafzimmer, wo das Kinderbettchen stand, das sie tags zuvor aus dem Entbindungsheim geholt hatte. Auch Babynahrung und sämtliches Zubehör zur Babypflege hatte sie dort entliehen, ohne dass es aufgefallen war. Alisia schlief jetzt wieder, nachdem sie während der Nacht mehrmals aufgewacht war und sich schließlich erst beruhigt hatte, als Romy sie in ihr Bett geholt hatte. Während sie auf die Atemzüge des Babys lauschte, hatte sie sich gefragt, was in den vergangenen Nächten geschehen war, wenn Alisia aufgewacht war und geschrien hatte. Die Flucht aus dem Haus hatte sie verschlafen, aber im Auto war sie wach geworden und hatte zu schreien begonnen. Als sie in Romys Wohnung angekommen waren, hatten sie ihr eine Flasche gemacht, und Hajo hatte seine Tochter gefüttert. Mit einem Gesichtsausdruck, der Romy zu Tränen gerührt hatte. Tiefes Glück hatte sie auf dem Gesicht von Vätern schon oft gesehen, aber noch nie diese Mischung aus Glück und Angst. Sie war ihr zu Herzen gegangen. Gleich würde er kommen, auch Nicole musste jeden Moment bei Romy erscheinen. Und Hajo würde Kari mitbringen. Romy zitterte, wenn sie daran dachte, wie Kari das größte und schönste Geschenk gemacht wurde, das es für eine Mutter gab. Sie würde ihr Kind wieder im Arm halten. Und dann mussten sie gemeinsam beratschlagen, wie sie weiter vorgehen wollten. Hajo war nicht davon abzubringen, Mike eine Falle zu stellen.