März 1986, Sylt
Arne hatte lange überlegt, wann er seinen Plan in die Tat umsetzen sollte. Auf keinen Fall nachts! Wenn er dann erwischt wurde, würde es schwer sein, sich rauszureden. Tagsüber war es vielleicht möglich, sich als Neugieriger auszugeben, der wissen wollte, wie Mike Heiser lebte, oder als jemand, der sich um Grenzen und Zäune genauso wenig scherte wie um das Verbot, die Dünen zu betreten und die Verpflichtung, die hölzernen Stege zu benutzen, die zum Wasser führten. Von diesen Leuten gab es genug, das wusste Arne. Über sie ärgerte man sich, aber niemand lieferte sie der Polizei aus.
Am Abend, nachdem er mit Carsten zusammen die letzten Gäste des Carar verabschiedet hatte, sagte er: »Ich fahre morgen nach Sylt.«
Carsten wusste, was geschehen war. Wie Arne erwartet hatte, reagierte er ungehalten. »Lass Brit in Ruhe!«
»Es geht nicht um Brit, sondern um Kari. Und um meine Enkeltochter.«
Die Idee, dass Mike Heiser etwas im Schilde führte, um sich des Kindes zu entledigen, dessen Aussehen ihn die Karriere kosten könnte, vertrat auch Carsten. Der Gedanke jedoch, das Baby aus dem Haus zu holen, und das, ohne zu wissen, ob es überhaupt in der Kampener Villa war, erschien ihm unsinnig. »Du kannst nicht richtig denken, wenn es um Brit geht.«
Wieder wollte Arne behaupten, dass es nicht um Brit, sondern um Kari und Alisia ging, aber er unterließ es. »Ich muss etwas tun, Carsten, sonst werde ich verrückt. Auf keinen Fall möchte ich mir später vorwerfen müssen, dass ich die Kleine hätte retten können, es aber nicht versucht habe.«
Carsten seufzte. »Also gut.«
Und nun war Arne in Westerland angekommen. Brit wusste nicht, was er vorhatte. Auf keinen Fall wollte er ihr zumuten mitzuentscheiden, sich Gedanken zu machen, ob es richtig war, was er plante, und erst recht sollte sie sich keine Sorgen machen. Sein Traum war, in wenigen Stunden bei ihr zu erscheinen, mit Alisia im Arm. Und dann wollte er dabei sein, wenn sie Kari anrief, um ihr zu sagen, dass Alisia in Sicherheit war. Und er wollte auch dabei sein, wenn Brit begriff, dass Mike Heiser nicht der Mann war, für den Kari ihn gehalten hatte. Und wenn er schon mal da war, würde er vielleicht bleiben dürfen, um Brit bei den vielen Entscheidungen zu unterstützen, die nun zu treffen waren. Ihr helfen, Olafs Beisetzung zu planen. Sie in den Arm nehmen, wenn niemand sie sah. Ihr Kraft geben, wenn sie selbst nicht genug davon hatte, ihr zeigen, dass das Leben schön war, auch wenn es viel Kummer und Sorgen bereithielt. Und ihr die Zuversicht geben, dass bald die Sonne wieder scheinen würde. Vielleicht sogar die Hoffnung auf die Zukunft in ihr wecken? Dort anknüpfen, wo sie sich verloren hatten? Dorthin zurückkehren, wo er falsch gehandelt hatte? Würde sie ihm die Chance geben, das Schicksal umzudrehen? War das möglich? Arne wagte nicht, all diese Fragen zu beantworten.
Diesmal war er sicherer, als er die Friedrichstraße entlangging, sah sich nicht ängstlich um, hielt den Kopf nicht gesenkt, sondern sah den Entgegenkommenden in die Gesichter. Es hatte geregnet, als der Autozug in Niebüll abgefahren war, jetzt jedoch schien die Sonne, die Insel glänzte, die feuchten Dächer schimmerten, hier und da funkelte das Sonnenlicht in den Vertiefungen, in denen sich Regenwasser gesammelt hatte. Die Luft war noch voll feuchter Schwüle. Auf jeden Schritt folgten ihm Erinnerungen. Die Sommerurlaube, die er mit seinem Vater auf Sylt verbracht hatte, der erste Tag auf Sylt als Lehrling im Miramar , als er das Hotelfach von der Pike auf erlernen sollte, dann der Abend, an dem er Brit kennenlernte, als er ihr auf Dikjen Deel ihr Kleid gestohlen hatte, während sie mit ihren Freundinnen nackt gebadet hatte, schließlich die Nacht, die sie in seinem Bett verbracht hatte. Und dann ihre Stimme am Telefon: »Wir bekommen ein Baby, Arne.«
Die Erinnerungen, die nicht so weit zurücklagen, waren schmerzhafter. Sie hatten alle etwas mit dem Tod seines Vaters, mit seiner unglücklichen Ehe mit Linda zu tun und mit der Erkenntnis, dass Brit mit einem anderen verheiratet war. Mit seinem Halbbruder Olaf, mit dem sie glücklich war, und der das Kind großzog, das Arnes Kind war.
Er verzichtete darauf, zum König Augustin zu gehen, um sich nicht verunsichern zu lassen, sondern bog am Miramar rechts ab und ging auf der Uferpromenade gen Norden. Später wechselte er an die Wasserkante und lief, bis er den Strand von Kampen erreicht hatte. Er hatte fast zwei Stunden gebraucht, auf dem Rückweg würde er ein Taxi nehmen.
Er blieb stehen, als er auf der Höhe von Mike Heisers Anwesen angekommen war, und blickte lange aufs Meer. Er hatte einen Security-Mitarbeiter gesehen, der ihn mit großer Wahrscheinlichkeit ins Visier genommen hatte. Der sollte sich an seinen Anblick gewöhnen, sollte annehmen, dass er zu denen gehörte, die den Blick aufs Meer genossen. Lange, sehr lange.
Er zog die Schuhe aus und spielte mit den Füßen eine Weile im flachen Wasser herum, dann ging er zu den Dünen und ließ sich dort nieder. Scheinbar um seine Füße von der Sonne trocknen zu lassen, ehe er die Schuhe wieder anzog. Den Securitymann hatte er kein einziges Mal angesehen, nur im Augenwinkel beobachtet, wie er reagierte. Der Mann sollte denken, dass er ihn gar nicht wahrgenommen hatte, gar nicht wusste, vor wessen Haus er sich aufhielt. Und tatsächlich war er dann irgendwann verschwunden. Offenbar hatte er Arne als harmlos und ungefährlich eingestuft.
Arne stand auf und näherte sich der Grundstücksgrenze. Niemand war zu sehen. Der Zaun, mit dem der Garten eingefasst war, hatte höchstens eine abschreckende Wirkung. Er war leicht zu überwinden, vermutlich sahen die Ortsstatuten keine höhere Umzäunung vor. Daran musste sich auch jemand wie Mike Heiser halten. Arne wagte es nicht, auf die Rasenfläche zu treten, er drückte sich in das Buschwerk, mit dem der Rasen eingefasst war. Zwischen dem Zaun und den dichten Büschen bewegte er sich voran, in der Hoffnung, zu einer Stelle zu kommen, wo er sich aus der Deckung lösen konnte, ohne sofort gesehen zu werden. Irgendwann sah er das kleine Saunahaus. Dort würde er sich verstecken können. Tatsächlich gelangte er ungesehen dorthin, konnte sich dahinter verbergen und sich erst mal in Ruhe umsehen, um zu überlegen, wie er weiter vorgehen wollte. Nach wie vor stand die Stille über dem Anwesen. Niemand war zu sehen, Julian Haarbeck nicht und auch keiner vom Personal. Vielleicht patrouillierten die Sicherheitsleute, hielten sich nun vor dem Haus auf und kamen in regelmäßigen Abständen wieder nach hinten, um dort nach dem Rechten zu sehen? Dann würde es gut sein zu warten, bis er ihren Rhythmus durchschaut hatte. Anschließend musste er nur eine offene Tür finden, um ins Haus zu gelangen.
Eine Weile saß er auf einer ausrangierten Bank, die hinter dem Saunahaus abgestellt worden war, dann bemerkte er eine Bewegung in der Nähe des Hauses. Eine junge Frau in einem Kittel, vielleicht die Putzhilfe, war auf die Terrasse getreten, reckte und dehnte sich und ließ sich auf einen Terrassenstuhl sinken. Sie streckte die Beine weit von sich, schloss die Augen und hielt ihr Gesicht der Sonne hin. Aber nicht lange! Aus dem Haus tönte eine männliche Stimme, die junge Frau fuhr zusammen, sprang auf und lief ins Haus zurück.
Die Terrassentür war offen geblieben, die Stimme des Mannes, der die junge Frau aufgescheucht hatte, entfernte sich. Arne machte einen langen Hals und sah, dass sich im Wohnzimmer niemand mehr aufhielt. Er kannte Mike Heisers Haus, war hier mehrfach zu Gast gewesen, er wusste, dass er nur den Wohnraum zu durchqueren hatte, um dann von der Diele durch die Tür zu huschen, die in den Wellnessbereich führte. Dort würde ein Baby am leichtesten zu verstecken sein, dort würde er zuerst suchen.
Er zögerte. War es doch falsch gewesen, am helllichten Tag in Mike Heisers Villa einzubrechen? Wenn er jetzt ins Haus eindrang und dort ertappt wurde, würde man ihm nicht abnehmen, einen harmlosen Grund dafür zu haben. Man würde ihn für einen Einbrecher, einen Dieb oder einen Paparazzo halten, alles gleich schlimm. Andererseits würden am Abend vielleicht die Türen geschlossen, und es würde schwierig werden, ins Haus einzudringen. Dann würde er womöglich gezwungen sein, ein Fenster einzuwerfen oder eine Tür aufzubrechen. Das konnte jemanden auf den Plan rufen, vielleicht sogar die Alarmanlage in Gang setzen. Oder sollte er sich darauf verlassen, dass die Tür zum Wellnessbereich vom Garten aus zu öffnen war? Nein, wenn Alisia dort versteckt wurde, war sie garantiert fest verschlossen.
Mit einem Mal war es mit Arnes Selbstsicherheit vorbei. Es war eine dumme Idee gewesen, hier einzusteigen. Carsten hatte recht gehabt, er konnte nicht mehr richtig denken, wenn es um Brit ging. Wenn er auch nach wie vor glaubte, dass Mike Heiser nicht zu trauen war, wenn es um das Kind ging, das seine Karriere gefährdete, so gab es tatsächlich keinen einzigen Anhaltspunkt, dass Alisia in diesem Haus zu finden war. Wenn Mike hinter der Entführung steckte, war die Kleine vielleicht wirklich schon in den Händen irgendwelcher Adoptiveltern und womöglich bereits außer Landes gebracht worden. Und war es nicht wahrscheinlicher, dass Mike das Baby gar nicht nach Sylt bringen würde, weil es hier viel zu riskant wäre, dass es doch gesehen würde? Da wäre es doch sicherer, die Kleine von Achim aus zum Beispiel nach Bremen oder Hamburg zu bringen und in diesen anonymeren Großstädten nach möglichen Adoptiveltern zu suchen. Arne spürte einen kalten Schauer auf seinem Rücken. Seine Enkelin, sein Fleisch und Blut, würde womöglich irgendwo, in einem fremden Land, unter einem anderen Namen aufwachsen und keine Ahnung haben, dass sie Alisia Heiser hieß und nach Sylt gehörte.
Er stand auf und sah sich vorsichtig um. Am besten, er nahm denselben Weg zurück und überlegte sich noch einmal ganz genau, ob es klug war, aufgrund von vagen Vermutungen und Verdächtigungen in ein fremdes Haus einzubrechen.
Doch noch bevor er sich umdrehen und den Rückzug antreten konnte, merkte er, dass er nicht mehr allein war. Bewegungen hinter seinem Rücken, ein scharrender Schritt, ein tiefes Einatmen … Arne wollte sich umdrehen, kam aber nicht mehr dazu. Irgendetwas explodierte in seinem Kopf, er sah Sterne, dann wurde es dunkel.