März 1986, Bremen
Henk überlegte, welchen Zug er nehmen sollte. Schließlich entschied er sich für einen, der gegen Mittag ging. Er würde noch nicht sehr voll sein, die Touristen kamen ja erst am Spätnachmittag auf Sylt an.
Er war nervös. Und wenn er an André und Dennis dachte, wurde es sogar noch schlimmer. Henk hatte nicht gedacht, dass er jemals Skrupel bekommen würde, aber tatsächlich machte es ihm zu schaffen, dass er seine beiden Freunde betrügen, sie hängen lassen und in Schwierigkeiten bringen würde. Andererseits – jeder war sich selbst der Nächste. Die beiden hätten vermutlich auch mit keiner Wimper gezuckt, wenn sie die Chance bekommen hätten, viel mehr Kohle aus dem Deal herauszuholen, als zu erwarten gewesen war.
Tatsächlich hatte Henk zunächst nur die Idee gehabt, hunderttausend Mark mehr zu kassieren als die anderen beiden. Aber dann hatte er sich überlegt, dass es viel besser war, die ganzen dreihunderttausend Mark in die Tasche zu stecken und zu verschwinden. Von Sylt rüber nach Dänemark. Sobald er im Ausland war, würde die Polizei ihn nicht so schnell bekommen. Vermutlich nie! Denn sie würden mit großer Wahrscheinlichkeit gar nicht nach ihm suchen. Oder wenn, dann viel zu spät, um ihm noch auf die Spur zu kommen. Der Deal mit Mike Heiser war einfach perfekt. Wenn der merkte, dass Alisia doch noch am Leben war, würde Henk längst über alle Berge sein. Er griff sich an den Kopf, während er zum Bahnhof ging. Er war doch keiner, der ein Baby umbrachte! Was glaubte dieser Kerl eigentlich? Was André und Dennis danach mit Alisia machten, war nicht sein Problem.
Als er sich einmal entschlossen hatte, war alles ganz leicht gewesen. Er hatte sich eine Telefonzelle ausgesucht, die bestens geeignet war. Henk kannte sich in Bremen aus und wusste, in welchen Gegenden es nur wenige Wohnungen mit Fernsprechanschluss gab. In der Nähe solcher Häuser waren die Telefonzellen stark frequentiert. In einer Einfamilienhausbebauung hatte er dagegen eine Telefonzelle gefunden, die selten benutzt wurde. Außerdem lag sie am Ende einer Sackgasse, die man aber nicht unbedingt benutzen musste, um zu der Telefonzelle zu kommen. Dahinter gab es ein verwahrlostes Grundstück, das Henk überqueren konnte, um ungesehen in die Zelle zu kommen. Die Beleuchtung hatte er in der letzten Nacht mit einem Stein zerstört, bisher schien das niemandem aufgefallen zu sein. Vorsichtshalber hatte er die Zelle dennoch erst betreten, als in den Häusern ringsum die Lichter ausgegangen waren.
Mike Heiser hatte sich erst gemeldet, als der Ruf schon so oft rausgegangen war, dass Henk unruhig geworden war. Aber dann hatte er am Klang seiner Stimme erkannt, dass Heiser bereits geschlafen hatte.
Henk hatte sich vorgenommen, auch dieses Telefonat kurz und knapp zu halten. Vor ein paar Jahren hatte er mal eine »Stahlnetz«-Folge gesehen, in der die Polizei eine Fangschaltung legte, um einen anonymen Anrufer zu überführen. Dem Angerufenen war eingeschärft worden, das Gespräch in die Länge zu ziehen, weil die Polizei mindestens dreißig Sekunden benötigte, um die Fangschaltung zu installieren. Zwar konnte Henk sich nicht vorstellen, dass Mike Heiser die Polizei informiert hatte, aber sicher war sicher.
»Es ist so weit«, hatte er gesagt. »Morgen will ich die Kohle haben. Ist alles bereit?«
Mike Heiser hatte zu stottern begonnen. »Ja, ja … mein Partner bekommt das Geld morgen früh von der Bank. Er kommt dann sofort nach Achim.«
»Nicht nötig. Ich fahre nach Sylt.«
»Aber … Sie hatten doch gesagt …«
»Ich habe meine Meinung geändert.« Auch das hatte Henk sich vorgenommen: Erst im letzten Moment Anweisungen geben und möglichst die letzten Angaben widerrufen oder ändern. Sollte Mike Heiser ein falsches Spiel spielen, sollte die Polizei sich darauf einrichten, die Geldübergabe zu vereiteln, dann durften dafür getroffene Vorbereitungen nicht mehr einzuhalten sein. »Nicht mehr Achim, sondern Sylt. Ich melde mich rechtzeitig bei Ihnen.«
Er hatte aufgelegt, ehe Mike Heiser etwas sagen konnte. Dann war er aus der Telefonzelle getreten und die Sackgasse entlanggegangen bis zu ihrem Anfang. Überall war es dunkel gewesen, sämtliche Bewohner lagen schon in ihren Betten, niemand hatte ihn gesehen.