März 1986, Archim

Kari hatte tief und fest geschlafen. Die Pillen, die sie am Vorabend geschluckt hatte, waren sehr wirkungsvoll gewesen. Sogar Indra hatte ihr geraten, es mit einem Schlafmittel zu probieren, damit sie endlich zur Ruhe kam und nicht mehrmals in der Nacht von wirren, angstvollen Träumen hochgeschreckt wurde. Schwester Roswitha war ebenfalls einverstanden gewesen. Sie war die Herrin über den »Giftschrank«, wie er auf der Entbindungsstation genannt wurde, und besaß als Einzige den Schlüssel dafür.

»Sie müssen wirklich mal durchschlafen«, hatte auch sie gefunden und dafür gesorgt, dass Kari am Morgen körperlich ausgeruht erwachte. Ein oder zwei Sekunden lang war sie glücklich gewesen, weil sie sich stark und gesund fühlte, dann aber war der Gedanke an ihr Kind über sie hergefallen, und sie war wieder so schwach und krank gewesen wie am Vortag. Doch sie hatte zwölf Stunden an einem Stück geschlafen, und so hatte sich dennoch etwas geändert. Ihrer Schwäche hatte sich ein wenig Optimismus zugesellt. Zum ersten Mal, seit Alisia entführt worden war, konnte sie daran glauben, dass sie ihre Tochter wiedersehen würde. Und ihr Gedanke galt von da an vor allem auch Hajo, der ihr helfen würde. Der feste Schlaf und Hans-Josef Keller! Zwei Wundermittel!

Kari erhob sich und ging ins Bad, um zu duschen und sich die Haare zu waschen. Der Föhn übertönte die Geräusche aus ihrem Zimmer, erst lautes Pochen an der Badezimmertür nahm sie zur Kenntnis. Sie streckte den Kopf ins Zimmer und wollte Schwester Roswitha sagen, dass sie ihr Frühstück auf der Terrasse einnehmen wolle … aber es war nicht die Schwester, die zu ihr gekommen war. »Hajo?« Sie trat aus dem Bad und schmiegte sich in seine Arme. »So früh?«

Er schob sie ein wenig von sich weg und betrachtete sie liebevoll. »Ich hatte Mühe, an Schwester Roswitha vorbeizukommen, ohne dass sie mich sieht.«

Sie lachte. »Warum durfte sie dich nicht sehen? Du meinst, sie hätte moralische Bedenken, wenn ich so früh schon Herrenbesuch empfange?«

»Nein, aber sie hätte mich vielleicht gefragt, warum ich schon so früh komme. Und den Grund wollte ich ihr nicht verraten.«

Kari betrachtete sein schmales Gesicht, die dunkelbraunen Augen, die wie Seide schimmerten, das Lächeln, das darin stand, und die Zärtlichkeit, die sie in ihnen las. »Was kann das für ein Grund sein?«

»Eine Überraschung.«

Sie spürte Angst in sich hochsteigen. »Eine gute?«

Er griff nach ihren beiden Händen und hielt sie fest. »Du musst heute auf dein Frühstück verzichten. Aber ich bin sicher, das lohnt sich.«

Ihre Haare waren noch feucht, als sie ihm folgte, an seine Hand geklammert, in seinem Schutz, unter seiner Obhut. Die kurze Angst war vorbei. Jetzt lächelte sie und lachte einmal sogar leise, als Hajo dafür sorgte, dass sie von einer Lernschwester, die zur Arbeit kam, nicht gesehen wurden.

Obwohl Hajo sie drängte, hatte Kari noch daran gedacht, Indra Bescheid zu geben. Kari musste ständig für Mike erreichbar sein, so war es verabredet. Indra sollte in Karis Apartment Stellung beziehen und ihr Bescheid geben, wenn Mike angerufen hatte.

Als sie Romys Wohnung betraten, wusste sie gleich, warum Hajo sie geholt hatte. Sie roch es, sie spürte es, sie ahnte es. »Alisia?« Da war dieser pudrige Geruch, der Duft der Babyhaut, den sie so gut kannte, ein winziges Drucksen, ein Schmatzen … »Alisia!«

Romy erschien in der Tür ihres Wohnzimmers und begrüßte sie lächelnd. »Komm, Kari! Sieh her!«

Sie wies auf das Kinderbett, das neben dem Fenster stand. Darin ihr Baby! Alisia! Ihre Tochter, ihr Cappuccinchen! Die Tränen stürzten aus ihren Augen, als sie vor dem Bettchen niederkniete, die Hände durch die Gitterstäbe steckte und Alisias Fäustchen umschloss. »Mein Cappuccinchen!«

Alisia regte sich, als spürte sie die Anwesenheit ihrer Mama, ihre Lider flatterten. Kari zog sich in die Höhe, beugte sich über das Kind und nahm es auf. Mit geschlossenen Augen hielt sie Alisias Gesicht an ihre Wange, roch an ihr, küsste die zarte Babyhaut und weinte, weinte, weinte …

Es dauerte lange, bis sie fragen konnte: »Ist sie gesund?«

Hajo trat von hinten an sie heran und umarmte beide, die vor Glück weinende Mutter und das Baby, das nun wach geworden war und die Augen öffnete.

Erst jetzt bemerkte Kari, dass auch Nicole im Zimmer war. Schweigend stand sie in der entgegengesetzten Ecke mit feuchten Augen, die Hände gefaltet, und wartete.

»Ja, sie ist gesund. Und wir haben es Nicole zu verdanken«, sagte Hajo leise, »dass Alisia wieder da ist.« Mit sanfter Stimme berichtete er, dass Nicole die richtigen Schlüsse gezogen hatte. »Während einer Party in diesem Abrisshaus hat sie zwei Typen etwas sagen hören, was ihr zunächst nicht komisch vorgekommen ist. Aber nach Alisias Entführung hat sie eins und eins zusammengezählt.«

Nun sagte auch Nicole etwas: »Der Typ, der mit dem Baby im Arm aus dem Fenster gesprungen ist, kam mir bekannt vor. Ich hatte den Eindruck, es könnte derjenige sein, der auf der Party von einem Baby geredet hat.«

Hajo lächelte sie anerkennend an und erzählte Kari, wie es weitergegangen war. Nicole war zu Romy gegangen, um von ihr Unterstützung zu bekommen. »Die beiden haben mir dann Bescheid gesagt«, endete er. »Nicoles Plan hat hervorragend funktioniert.«

Kari drückte Hajo das Baby in den Arm, ging zu ihrer Cousine und umarmte sie. Noch immer strömten ihr Tränen aus den Augen, nun noch heftiger, und Nicole weinte mit ihr. »Das vergesse ich dir nie«, schluchzte Kari.

Romy räusperte sich, ehe sie sich einmischte. »Ich habe ja immer schon gesagt, dass Nicole unterschätzt wird.« Sie zwinkerte Nicole zu, als diese sich endlich von Kari löste. »Samy Angermann hat es auf den Punkt gebracht. Endlich glaubt Nicole auch, dass sie nicht dumm ist. Sie ist …« Romy runzelte die Stirn. »Wie heißt das noch?«

»Ich bin Legasthenikerin«, erklärte Nicole so stolz, als hätte sie das Angebot bekommen, demnächst als Chefsekretärin des Ministerpräsidenten zu arbeiten. »Legastheniker sind nicht dumm, sie haben nur Schwierigkeiten mit Schrift und Sprache.«

»Sie hätte nie in die Sonderschule kommen dürfen«, ergänzte Romy.

Sie machte sich ans Kaffeekochen, während Hajo und Kari mit Alisia schmusten, sich gegenseitig versicherten, dass sie die glücklichsten Eltern der Welt waren, und sich immer wieder fragten, wie es nun weitergehen würde.

Nicole ging zu Romy in die Küche und suchte das Frühstücksgeschirr heraus. Kari hörte, wie sie zu Romy sagte: »Schön, so ein Frühstück bei dir zu Hause.«

Hajo erklärte grinsend: »Romy hat sich krankgemeldet, damit sie bei Alisia sein kann. Nicole hatte sich schon vorher krankgemeldet, bevor sie in das Abrisshaus ging.« Nun lachte er leise. »Die Knut-Augustin-Stiftung wird mal einen Tag ohne ihre beiden besten Mitarbeiterinnen auskommen müssen.«