März 1986, Riekenbüren
Frida hatte sich, seit sie auf dem Altenteil wohnten, angewöhnt, morgens direkt nach dem Aufstehen das Radio in der Küche anzudrehen. Und das, obwohl das Gerät, während Edward noch schlief und Frida im Bad war, seinen Strom sinnlos verbrauchte und die ersten Nachrichten des Tages in die leere Küche fielen. Ein Ärgernis, das Edward seiner Frau einfach nicht abgewöhnen konnte. Frida argumentierte damit, dass sie sich weniger allein fühle, wenn sie im Bad die Musik oder die Stimme des Moderators hörte. Ein Grund, der für Edward alles andere als stichhaltig war. Frida war doch nie allein. Er selbst war im Haus, nebenan lebten Hasso und Halina, die Arbeiter trafen ein, wenn Frida aufstand, Stimmen und Geräusche gab es überall.
»Aber keine Musik«, beharrte Frida und drehte weiterhin jeden Morgen nach dem Aufstehen das Radio an und erst wieder ab, wenn sie das Haus verließ oder Edward abends den Fernseher einschaltete. Oft blieb das Radio also den ganzen Tag an, jedenfalls in den Wintermonaten, wenn Frida keine Arbeit im Garten hatte oder wenn schlechtes Wetter sie ans Haus fesselte. Edward machte immer wieder den Versuch, das Radio auszustellen, sobald Frida außer Hörweite war, im Keller oder bei Halina auf dem Campingplatz, aber spätestens wenn sie in der Küche das Mittagessen vorbereitete, stellte sie es wieder an.
Sie summte »Ein Bett im Kornfeld« mit, als er die Küche betrat und holte wortlos die Kaffeekanne aus der Maschine, als sie hörte, dass Edward aus dem Bad kam. »Heute werde ich mal mit Brit telefonieren«, sagte sie, während sie für Edward die gute Butter aus dem Kühlschrank holte, auf die sie selbst verzichtete, weil sie glaubte, etwas für ihre Figur zu tun, wenn sie statt Butter Margarine unter die Marmelade strich. »Der Termin für Olafs Beerdigung muss doch allmählich feststehen.«
Edward beschwerte sich, dass sie jeden Tag die Butter zu spät aus dem Kühlschrank nahm, weil sie erst streichfähig wurde, wenn sie mindestens eine halbe Stunde in der warmen Küche auf dem Tisch gestanden hatte. Dann sagte er: »Er soll eingeäschert werden, das weißt du doch. Da kommt es auf ein paar Tage nicht an.«
»Trotzdem«, beharrte Frida. »Man muss sich doch auf so eine Reise nach Sylt einstellen. Hasso muss in der Schreinerei vertreten werden, Halina muss wissen, ob Christoph einspringen kann, wenn sie nicht da ist, und wir …« Warum sie Vorlauf brauchte, um Zeit für eine Beisetzung zu organisieren, fiel ihr allerdings nicht ein.
Eine Tonfolge, die die Nachrichten einleitete, drang aus dem Radio. Edward unterbrach seine Frau mit einem Handzeichen. »Lass mal hören, ob es was Neues von dem Weinskandal in Italien gibt.« Seit Edward davon wusste, war er in großer Sorge, dass der Wein, den er kurz vorher gekauft hatte, nicht zu gebrauchen sein würde.
Doch in diesem Punkt waren die Nachrichten eher flüchtig.
»Der bekannteste deutsche Designer Mike Heiser, der lange in dem Verdacht stand, homosexuell zu sein, muss sich nun mit einem weiteren Verdacht auseinandersetzen. Dem Modeschöpfer, der im vorigen Jahr heiratete und der vor Kurzem Vater einer Tochter wurde, wird vorgeworfen, Vater eines weiteren Kindes zu sein, das ein erst fünfzehnjähriges Mädchen im März zur Welt brachte.«
Frida fiel der frisch gefüllte Zuckerlöffel aus der Hand, und Edward dachte nicht daran, sich darüber aufzuregen, dass der ganze Tisch voller Zuckerkrümel war, die sogar auf den Boden gerieselt waren und nun unter den Schuhen knirschen würden, bis Frida die Küche gründlich gewischt hatte.
»Der Teenager hatte sich bisher geweigert, den Namen des Kindsvaters zu verraten, aber den Eltern gelang es, ihn herauszufinden. Mike Heiser wurde im Zimmer der Fünfzehnjährigen gestellt. Der Vater der Minderjährigen will ihn anzeigen. Zwar gilt Sex mit vierzehn- bis sechzehnjährigen Jugendlichen nicht immer als strafbar, aber wenn der Täter älter als 21 Jahre alt ist, sieht das anders aus, vor allem wenn dem Opfer die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung fehlt.«
Edward merkte nicht, dass ihm Marmelade von der Unterlippe tropfte, weil ihm der Mund offen stand, Frida spürte, wie ihr Atem schneller ging, so schnell, dass sie sich an die Brust griff, um ihr Herz am Rasen zu hindern.
»Mike Heiser sollte in Kürze eine eigene Fernsehshow bekommen, aber wie das ZDF auf Anfrage unserer Redaktion berichtet, soll davon fürs Erste Abstand genommen werden.«
Frida stand auf, sehr langsam, als hätte sie Probleme, auf ihren zitternden Knien ein paar Schritte zu machen. Tatsächlich dauerte es lange, bis sie am Radio angekommen war, um es abzustellen.
»Nun zum Fußball. Die Auswahlmannschaft der DDR hat in Athen gegen die Nationalelf Griechenlands …«
Frida starrte ihren Mann an. Fassungslos und schweigend. Und Edward starrte ebenso wortlos zurück. Kurz darauf hörten sie Schritte, und dann das Klappern der Tür, die vom Hof ins Altenteil führte. Halina kam herein. Und Frida sah durchs Fenster Ursula Berghoff auf ihre Haustür zukommen. Offenbar hatte diese schon die Nachrichten gehört, die eine Stunde früher gesendet wurden …