April 1986, Sylt
Arne machte sich auf den Weg. Ein langer Weg war es, der vor ihm lag, womöglich einer, der ihm viel Kraft abverlangte, so viel, dass er erschöpft am Ziel ankommen und dort zu schwach sein würde, um zu tun, was getan werden musste. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er ihn jemals würde gehen müssen. Gehen können! Gehen wollen! Erst recht hatte er nicht damit gerechnet, dass am Ziel jemand auf ihn warten könnte. Brit! Wenn er daran dachte, wie er damals vor ihr geflohen war, zu feige für offene Worte und für eine Entscheidung. Wie er sich immer wieder als Zaungast an ihr Leben herangeschlichen hatte, ohne sich zu erkennen zu geben. Und nun? Wie konnte er annehmen, dass sich etwas geändert hatte? Weil Olaf tot war, weil Brit zu ihm nach Hamburg gekommen war, weil Kari den falschen Mann geheiratet hatte, weil seine Enkelin entführt worden war, weil … Es gab ganz viele Gründe, aber keiner war stichhaltig. Und eigentlich gab es auch nur einen einzigen guten Grund. Ob der stichhaltig war, konnte er nicht sagen. Aber die Liebe war doch immer ein Grund, ein guter Grund. Und dass er Brit nach wie vor liebte, wusste er genau. Aber sie? Sie hatte Olaf geliebt, da machte er sich nichts vor. Was er aber glaubte, war, dass sie Olaf anders geliebt hatte als ihn, Arne. Gab es das überhaupt, unterschiedliche Arten von Liebe? Leidenschaftliche, tiefe, innige, brennende, heißblütige, zügellose oder zärtliche Liebe, eine so kostbar wie die andere? Oder kam es nur auf die leidenschaftliche Liebe an? Vielleicht aber auch auf Treue und Geborgenheit. Vielleicht war es das, was ein Leben lang hielt und ein Leben lang glücklich machte.
Er ging langsam, ohne aber zu schlendern oder zu zögern. Nein, seine Schritte waren groß, doch der Rhythmus, in dem er sich fortbewegte, war gemächlich, besonnen, achtsam. Aber dennoch zielstrebig. Nein, diesmal würde er nicht im letzten Augenblick umkehren oder fliehen, er würde sein Ziel im Auge behalten. So war er genauso schnell vor dem König Augustin angekommen wie einer, der eilig gelaufen war, aber sich oft hatte aufhalten oder ablenken lassen. Nun blieb er stehen und sah erst an dem Hotel, dann an dem Haus empor, das einmal seine Heimat gewesen war. Hinter den Fenstern in der ersten Etage hatte er mit Linda gewohnt, später war Brit mit Olaf dort eingezogen. Merkwürdig, dass ihm dieser Gedanke nie wehgetan hatte! Wie war Brit eigentlich damit umgegangen, dass sie mit Olaf in den Räumen gelebt hatte, in die er mit Linda eingezogen war? Er musste sie das unbedingt fragen.
Das Café war nach wie vor nicht geöffnet, noch immer hing das Schild »Wegen Trauerfall geschlossen« in der Eingangstür. Arne ging links am Haus vorbei, in den Hof, wo der Eingang lag, der in die Wohnung führte. Er klingelte und wartete lange, bis endlich der Summer ertönte. Heftig, weil er sich plötzlich daran erinnerte, dass sie früher oft geklemmt hatte, warf er sich gegen die Haustür – und stellte fest, dass Olaf längst Abhilfe geschaffen hatte. Die Tür öffnete sich so leicht, dass er beinahe ins Haus gefallen wäre.
*
Brit erschrak und gleichzeitig wunderte sie sich doch nicht. Als Arne die Treppe hochstieg und schließlich vor ihr stand, wortlos, mit einem schiefen Lächeln, da wusste sie, warum er auf Sylt war. Sie zog ihn in die Wohnung, schloss die Tür und warf sich in seine Arme. Einfach so. Ohne nachzudenken. Ohne Gewissensbisse. Sogar mit der Gewissheit, dass Olaf ihr verzeihen würde. Sie blieben eine Weile so stehen, eng aneinander geschmiegt, mit geschlossenen Augen, dann lockerte sich Arnes Griff, Brit wich ein wenig von seinem Körper zurück. Schließlich räusperte sie sich, und Arne lockerte seinen Hemdkragen. Brit ging ihm voraus ins Wohnzimmer, bot ihm einen Platz an und fragte, ob er etwas trinken wollte.
Er bat um ein Glas Wasser, und als sie mit der Mineralwasserflasche aus der Küche kam, fragte sie: »Warst du in Mike Heisers Haus?«
Er sah auf seine Füße, während er nickte. »Ja.«
Brit wartete, bis er wieder aufblickte. »Alisia war nicht dort?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich nicht.«
»Du weißt es nicht genau?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin vorher erwischt worden.«
Sie schlug die Hände vor den Mund. »O nein!«
Dann erfuhr sie, dass aus Florian Aldenhof wieder Arne Augustin geworden war. Er war gerade mit seiner Schilderung zum Ende gekommen, als es erneut an der Tür klingelte.
Brit zögerte. »Ich muss aufmachen. Man kann von draußen sehen, dass Licht brennt.« Entschlossen stand sie auf, fragte aber, bevor sie zur Tür ging. »Wie soll ich dich vorstellen?«
Darauf hatte Arne keine Antwort. »Ist es besser, wenn ich verschwinde?«
»Nein.« Brit ging öffnen, hoch aufgerichtet, mit durchgedrücktem Kreuz.
*
Robert König hatte seine Tochter schon mehrmals ermahnt. Natürlich wusste er, wie wenig ihr Kondolenzbesuche gefielen, aber genauso gut wusste er, dass es Verpflichtungen gab, denen man nicht entfliehen konnte. Das hatte er Linda schon oft gesagt und an diesem Abend wieder. »Es ist unmöglich, dass du Brit noch keinen Besuch abgestattet hast.«
»Was soll ich ihr denn sagen?«, hatte Linda gemault. »Dass es mir leidtut?«
»Das wäre schon ein guter Anfang.«
Sogar Chris hatte ihr zugeredet. »Ich finde, dein Vater hat recht. So was gehört sich einfach.«
»Dann begleite du mich«, hatte sie Chris aufgefordert. »Allein schaffe ich das nicht.«
Aber Chris hatte den Kopf geschüttelt. »Ich kenne sie doch kaum. Wenn man so einen schweren Verlust erlitten hat, will man keine Fremden um sich haben.«
»Ich kenne sie ja auch kaum.« Linda hatte erst nachgegeben, als Robert ihr angeboten hatte, sie zu begleiten. Er war natürlich längst bei Brit gewesen, hatte ihr Hilfe angeboten und mit ihr über Olaf gesprochen, den er so sehr geschätzt hatte. Dass Brit dieser Beistand gutgetan hatte, wollte Linda nicht einsehen, aber Robert wusste es. Während Brit anfänglich geweint hatte, war sie im Laufe des Gespräches immer ruhiger geworden und hatte schließlich sogar über kleine Erinnerungen lachen können.
Nun stand er neben Linda vor der Tür und schob seine Tochter sanft Brit entgegen. »Linda wollte dir auch noch sagen, wie leid es ihr tut.«
Brit bedankte sich und ließ sie eintreten. Sie reagierte wie eine Aufziehpuppe, das sah Linda sofort. Warum? Brit war nicht so, wie Linda sich eine trauernde Witwe vorstellte. Sie war zwar sichtlich mitgenommen, aber doch anders, als Linda erwartet hatte. Ihr fehlte das Passive, das zur Trauer gehörte. Brit war so unruhig, so nervös, als wartete sie auf etwas und hätte vergessen, dass es längst eingetreten war.
Als sie das Wohnzimmer betraten, glaubte Linda zu erkennen, was los war. Dort saß Florian Aldenhof, der Besitzer des Carar , den Linda schon mal gesehen hatte. Sie fuhr ja häufig nach Hamburg und kannte sich in den In-Lokalen aus. Dort saß aber auch Arne Augustin, ihr früherer Ehemann, der tote Sohn von Knut Augustin, der Halbbruder von Olaf Rensing, der ehemalige Schwiegersohn von Robert König.
Linda konnte sich nicht genug wundern, dass Brit sie ins Wohnzimmer führte, wo Arne saß. Scheinbar hatte sie sich nicht gefragt, ob Linda und Robert ihn erkennen würden oder ob zu viel Zeit vergangen war oder ob die Todesnachricht, die damals nach dem Schiffsunglück gekommen war, jedes Wiedererkennen automatisch ausschloss. Wer tot war, war tot, wer einem Toten ähnlich sah, sorgte nur durch eine Fügung des Schicksals dafür, dass man sich an den Toten erinnerte. Konnte das sein? Linda sah ihren Vater prüfend an. Sie wusste ja, dass Arne überlebt hatte. Aber ihr Vater? Wie würde er damit fertigwerden? Linda machte sich Sorgen und beobachtete ihren Vater aufmerksam.
Arne erhob sich langsam, als Robert König auf ihn zutrat, so langsam, wie sich jemand bewegt, der nicht weiß, was auf ihn zukommen wird. Er streckte Robert die Hand hin, der sie nur zögernd ergriff. Er nannte seinen Namen nicht, obwohl er doch so tun musste, als wäre er ein Fremder für ihn. Oder nicht? Hatte er längst beschlossen, nun wieder für jeden Arne Augustin zu sein?
Linda beschloss, den Knoten durchzuhacken. Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer weiten Hose, als wollte sie Arne nicht zur Begrüßung die Hand reichen, und sah ihn feindselig an. »Du hast ja wirklich keinen unnützen Augenblick verstreichen lassen, Arne. Olaf ist noch nicht unter der Erde, und du sitzt schon auf seinem Platz.«