März 1986, Achim

Mike blickte Kari und Indra wütend entgegen. Er ging vor der Tür des Entbindungsheims auf und ab, seinen Bewegungen, den steifbeinigen Schritten, den Händen, die er auf dem Rücken zu Fäusten geballt hatte, und dem gesenkten Kopf war anzusehen, wie zornig er war. Er sah aus wie ein Stier, der auf den Torero wartete und sich gute Chancen ausrechnete, ihn auf die Hörner zu nehmen.

Als er die beiden Frauen bemerkte, blieb er stehen, ließ die Arme hängen und sah ihnen entgegen. »Endlich!«

Eine Gruppe junger Leute ging vorbei, anscheinend auf dem Weg zur Bushaltestelle. Sie stießen sich gegenseitig an, Kari konnte Mikes Namen hören. Er befürchtete wohl, dass man ihn auf die Radionachrichten ansprechen könnte, wandte sich brüsk um und ging ins Foyer des Entbindungsheims, wohin lästige Fans ihm nicht folgen würden. Als auch Kari und Indra eingetreten waren, ging er ihnen voraus in Karis Apartment. Indra gab Kari mit einer kleinen Geste und einem Mut machenden Lächeln zu verstehen, dass sie sich nicht unterkriegen lassen sollte.

»Wo warst du so lange?«, herrschte Mike sie an, als Kari die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Ich war spazieren und habe mich verlaufen. Indra hat mich gesucht. Sie machte sich Sorgen.«

»Ich auch!«, blaffte Mike. »Hast du die Nachrichten gehört?«

Kari überlegte blitzschnell, dann antwortete sie: »Indra hat sie gehört. Sie hat mir davon erzählt.«

»Indra!« Mike spuckte diesen Namen aus wie ein Insekt, das ihm versehentlich in den Mund geflogen war. »Der habe ich zu verdanken, dass mein Ruf jetzt ruiniert ist.«

»Indra wird das richtigstellen, damit du so schnell wie möglich rehabilitiert bist.«

Mike lachte verächtlich. »So was bleibt immer an einem kleben.« Er drehte Kari den Rücken zu, als wollte er sie nicht sehen lassen, wie verzweifelt er war. »Der Produzent hat mich schon angerufen. Angeblich will man warten, bis Gras über die Sache gewachsen ist, aber …«

»Dann kann aus deiner Fernsehshow noch was werden?«

Mike schüttelte den Kopf. »Daran glaube ich nicht mehr.« Er drehte sich um und sah Kari an, als wollte er in Tränen ausbrechen. »Dabei hatten wir so eine gute Idee. Oder vielmehr … du hattest sie. Unsere Heirat, deine Schwangerschaft … alles schien gut zu werden. Aber jetzt …« Nun schwankte seine Stimme tatsächlich.

Im selben Moment fiel der Zorn von Kari ab. Gerade wollte sie ihn fragen, was er sich eigentlich dabei dachte, sie so anzufahren, da riss sie sich zusammen. Kein Streit mit Mike! Wenn ihre Mutter mit ihrem Verdacht richtiglag, steckte er hinter der Entführung. Da hatte es keinen Sinn, sich mit ihm zu zerstreiten. Erfahren würde sie sicherlich nichts, wenn sie ihn jetzt anging und ihm Vorwürfe machte. Und es war ja auch immer noch möglich, dass ihre Mutter sich irrte. Dann wurde Mike Unrecht getan. Er erfuhr nicht einmal, dass Alisia wieder bei ihren Eltern war. Wenn er unschuldig war, würde er ihr das später vorhalten, zu Recht.

»Ist dir die Fernsehshow denn so wichtig?«

Mike schluchzte auf. »Es ist ja nicht nur das. Julian …« Er konnte nicht weitersprechen. »Julian …«, versuchte er es noch einmal, brach aber wieder ab.

Kari ging ein Licht auf. »Julian hat auch die Nachrichten gehört?«

Mike nickte.

»Und er glaubt den Wiemanns? Nicht dir?«

Wieder nickte Mike. »Er sagt, seit du und ich verheiratet sind, hätte er das Gefühl, dass ich mich wieder für Frauen interessiere. Oder zumindest … auch. Er will aber nicht mit einem Bisexuellen zusammen sein. Er möchte …« Kopfschüttelnd betrachtete er die grüne Landschaft vor dem Fenster, als könnte er nicht glauben, dass der Frühling sich dort entfaltete, obwohl in seinem Inneren Eiszeit herrschte. »Er hat mich verlassen«, sagte er so leise, dass Kari es nur mit Mühe verstehen konnte. »Und das Geld hat er mitgenommen. Er nennt es Schmerzensgeld.«

»Das Lösegeld?«

»Damit will er sich was Neues aufbauen.«

»Aber … das kann er doch nicht machen.«

»Wenn ich es zurückhole, will er der ganzen Welt verraten, dass unsere Ehe eine Scheinehe ist. Er hat eine Ausfertigung des Vertrages im Tresor gefunden und sie an sich genommen. Wenn er die einer Zeitungsredaktion zuspielt …«

Kari fiel ein, dass jetzt eine Reaktion von ihr kommen musste. »Aber wie sollen wir das Lösegeld bezahlen? Was willst du dem Entführer sagen, wenn er sich wieder meldet?«

»Er hat sich schon gemeldet.« Mikes Stimme klang dumpf. »Er will, dass die Lösegeldübergabe auf Sylt stattfindet. Heute Abend noch. Eigentlich wollte Julian ja nach Achim kommen, aber jetzt …«

»Du hast ihm nicht gesagt, dass Julian nicht mehr zur Verfügung steht?«

»Doch, aber er sagte, das interessiere ihn nicht. Soll eben jemand anders das Lösegeld deponieren.«

»Wo?«

»Das erfahre ich noch. Im allerletzten Moment, hat er gesagt.«

»Klar.« Kari sah nachdenklich vor sich hin. »Damit du keine Möglichkeit hast, die Polizei zu verständigen, um den Entführer festnehmen zu lassen.«

»Das würde ich doch nie tun!«

»Woher soll der Kerl das wissen?« Kari hatte im Nu ihren Entschluss gefasst. »Ich fahre nach Sylt und überbringe das Geld. Vielleicht kann meine Mutter mir die zweihunderttausend Mark geben.« Sie unterband, was Mike sagen wollte. »Du musst hierbleiben. Der Entführer kennt nur deine Telefonnummer. Du musst weiterhin seine Anrufe entgegennehmen. Mich wirst du dann bei meiner Mutter erreichen.«