April 1986, Sylt
Kari rief Mike an, nachdem ihre Mutter sie lange genug begrüßt und das Baby ausgiebig genug geherzt hatte. »Hat der Entführer sich gemeldet?« Sie schaffte es, ihre Stimme genauso sorgenvoll klingen zu lassen, wie Mike es erwartete.
»Ja.« Aufgeregt teilte Mike ihr mit, dass dieser bereits auf Sylt angekommen war und die ersten Anweisungen gegeben hatte. Er sprach jetzt sehr langsam, setzte Wort neben Wort, als läse er vom Blatt ab, was der Entführer ihm aufgetragen hatte. »Du sollst nach Kampen fahren, ins Zentrum, dort, wo es die teuren Geschäfte gibt. Du biegst dann in den Strönwai ein, dort sollst du den Wagen parken und aussteigen. Da gibt es eine Telefonzelle. Die sollst du benutzen.«
»Warum?«
»Du musst mich dann erneut anrufen. Er hat mir bis dahin die letzten Anweisungen gegeben.«
»Was soll diese Salamitaktik?«
»Ist doch klar. Er ist nach wie vor misstrauisch, dass wir doch die Polizei verständigt haben. Die soll dann wenigstens keine Zeit haben, sich auf die Geldübergabe vorzubereiten.«
»Also gut.«
»Mach es genau so, wie er es will. Er sagt, er wird auch da sein und dich beobachten.«
Hajo hatte mitbekommen, was Mike gesagt hatte, und Brit erschien mit Alisia auf dem Arm und ließ sich erzählen, wie alles ablaufen sollte. »Wenn es wirklich darum ginge, das Kind zurück- zubekommen«, sagte sie seufzend, »würde ich verrückt vor Angst.«
Kari sah Hajo besorgt an. »Es ist gefährlich. Wenn der Kerl merkt, dass ich nicht allein bin …«
»Er wird es nicht merken«, unterbrach Hajo sie. »Ich werde sehr vorsichtig sein. Aber ich will wissen, was Mike mit dem Entführer verabredet hat. Ich traue ihm nicht.« Er zog Kari an sich. »Vor allem will ich nicht, dass du noch zwei Jahre Mikes Frau bleiben musst.«
Brit ging in die Küche, um Wasser für Tee aufzusetzen. Kari betrachtete sie nachdenklich, als sie ins Esszimmer zurückkehrte und Teetassen auf den Tisch stellte. Brit merkte es nicht, sie schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein. Erst als es an der Tür klingelte, fand sie in die Gegenwart zurück. Wo war sie mit ihren Gedanken gewesen? Bei ihrem toten Mann?
Kari war verblüfft, als ihre Mutter den Gast hereinführte. »Herr Aldenhof! Sie sind auf Sylt?«
Sie musste an ihre Verlobung denken, an den Moment, in dem sie genug von ihren Gästen und dem Pressetrubel gehabt und einen Augenblick der Ruhe gesucht hatte. In dem Innenhof des Carar war sie auf Florian Aldenhof gestoßen und hatte ein kurzes, aber intensives Gespräch mit ihm geführt.
»Wir kennen uns von früher«, erklärte Brit.
Kari war überrascht. »Das wusste ich nicht.«
»Wir haben uns lange nicht gesehen«, fügte Florian Aldenhof an, »und sind uns vor ein paar Monaten zufällig wieder begegnet.«
Kari beobachtete verstohlen, wie er Brit nachblickte, als sie in die Küche ging, um den Tee zu holen, wie er sich ungezwungen in diesem Raum bewegte, wie er mit Hajo ein leichtes Gespräch über Olaf Rensings Verdienste führte. Ein gut aussehender, sehr sympathischer Mann. Aber irgendwas passte nicht in das Bild, das ein Mann abgeben sollte, der hier einen Besuch machte.
In diesem Moment ging das Telefon, Brit nahm den Hörer ab und meldete sich. »Moment«, sagte sie und reichte ihn Kari. »Mike ist dran.«
»Es geht los«, sagte er, als sie den Hörer ans Ohr nahm.
»Jetzt schon?«
»Du sollst zwischen fünf und halb sechs in Kampen sein, einmal vor den Geschäften rauf- und runterlaufen, damit er dich sehen und erkennen kann, dann in die Telefonzelle.«
»Da gibt’s hoffentlich nur eine?«
»Ja. Du rufst mich an, ich gebe dir dann die Instruktionen weiter, die ich zwischenzeitlich von ihm bekommen habe.«
»Gut.« Kari legte auf und sah Hajo an. Er wusste auf der Stelle Bescheid, und Florian Aldenhof erhob sich zu Karis Überraschung und stellte sich neben ihn.
»Bitte, lassen Sie mich helfen«, sagte er zu Hajo. Und dann an Kari gewandt: »Ihre Mutter hat mich ins Vertrauen gezogen.« Und wieder zu Hajo: »Wie wollen Sie so einen Kerl allein überwältigen?«
*
Arne startete seinen Mercedes und folgte Hajos Opel Kadett langsam und mit großem Abstand. Es waren nicht viele Autos auf der Straße, umso wichtiger war es, den Entführer nicht auf sich aufmerksam zu machen. Kari war nur wenige Minuten vor ihnen losgefahren. Arne hoffte, dass sie es schaffte, sich nicht nach ihnen umzudrehen und ihnen vor der Ladenzeile keinen Blick zu schenken.
Er wartete, bis er gesehen hatte, dass Kari mit ihrem roten Aston Martin von der Hauptstraße in den Strönwai abbog und ihn dort abstellte. Er selbst entschied sich für die gegenüberliegende Straßenseite und parkte vor einem Kindermodeladen. Beinahe hätte er gegrinst, als er sich vorstellte, dass er ein Kleidchen für Alisia kaufen könnte, wenn es nötig werden sollte, wie ein unauffälliger Sylt-Tourist auszusehen, der im Urlaub am Konsum interessiert war. Hajo stellte seinen Wagen direkt vor dem Kaamp-Hüs ab und blieb vor einem Plakat stehen, das auf eine Ausstellung hinwies, die es zurzeit dort gab.
Arne wanderte von Geschäft zu Geschäft, betrachtete jede Auslage lange, nutzte vor allem jedes Schaufenster als Spiegel, um unauffällig die Passanten zu beobachten, die hinter ihm hergingen, und hörte auf die Gesprächsfetzen, die er mitbekam.
Als er sich von einem Schaufenster löste, um zum nächsten zu gehen, sah er, dass Kari auf die Telefonzelle zusteuerte, die der Entführer beschrieben hatte. Die einzige weit und breit. Er sah, dass sie den Hörer abnahm und eine Nummer wählte, Mikes Nummer. Ihr Mann würde ihr nun sagen, welche neuen Anweisungen der Entführer durchgegeben hatte. Arne begab sich vorsichtshalber schon mal in die Nähe seines Autos, damit er einerseits schnell reagieren konnte, wenn Kari aus der Telefonzelle trat, sich aber andererseits nicht beeilen musste, was womöglich auffällig gewesen wäre.
Vor einem Schaufenster fiel ihm ein junger Mann auf, der, genau wie Arne selbst kurz vorher, nicht die Auslagen betrachtete, sondern das Fenster als Spiegel benutzte. Es sah so aus, als beobachtete er Kari. Arne war zwar nicht sicher, behielt ihn aber vorsichtshalber im Auge. Der junge Mann war höchstens Mitte zwanzig und hatte sich Mühe mit seinem Äußeren gegeben, wohl um nicht aufzufallen. Er trug einen altmodischen Anzug, der nicht gut saß, den er vermutlich irgendwo ausgeliehen hatte, der aber in dieser Umgebung tatsächlich seinen Zweck erfüllte. Er fiel nicht weiter auf. So ähnlich hatte Arne sich den Entführer vorgestellt.
Er bemühte sich, seinen Bummelschritt beizubehalten und sich langsam in Richtung seines Wagens zu bewegen, als Kari die Telefonzelle verließ und zügig zu ihrem Aston Martin lief. Als sie eingestiegen war, schien ihr einzufallen, dass sie Arne und Hajo Zeit geben musste, ihr zu folgen, und wartete eine Weile. Sie wühlte in ihrer Handtasche herum, als suchte sie etwas, Arne glaubte aber, dass sie damit lediglich unauffällig die Zeit des Abfahrens hinauszögerte. Er hatte den Motor schon gestartet, als Kari losfuhr, und folgte ihr. Er sah, dass auch Hajos Kadett losfuhr und zum Glück noch zwei andere Wagen, sodass sie dem Entführer vermutlich nicht auffallen würden.
Kari fuhr langsam, Gott sei Dank. Und als die Vogelkoje in Sicht kam, noch langsamer. Ob dort die Geldübergabe stattfinden sollte? Arne pfiff leise durch die Zähne. Kein schlechter Ort. Der Parkplatz vor dem Naturschutzgebiet war unbefestigt, die Besucher und auch die Gäste des Restaurants stellten ihre Autos ohne jede Parkordnung dort ab. Der Platz war von Büschen gesäumt, in denen Hajo sich gut verstecken konnte.
Kari bog tatsächlich rechts auf den Parkplatz der Vogelkoje ab, wie Arne vermutet hatte. Sie zauderte, stoppte, fuhr wieder an und blieb dann neben einem großen Papierkorb stehen, am Anfang des Weges, der ins Reservat führte. Sie hätte die Tüte, die auf dem Beifahrersitz stand, aus der geöffneten Fahrertür in den Papierkorb befördern können, aber sie stieg aus, als wollte sie sich zeigen, sah sich um, blickte über Arnes Mercedes hinweg und versenkte die Tüte in dem Moment in den Papierkorb, als Hajos Opel Kadett auf den Parkplatz fuhr. Dann stieg sie wieder ein und fuhr davon.
Arne rutschte tief in seinen Sitz, sodass er von außen kaum zu sehen war, und beobachtete Hajo, der seinen Wagen abstellte und wie ein Restaurantbesucher auf den Eingang der Vogelkoje zuging. Hoffentlich würde der Entführer, wenn er ihn sah, nicht auf seine Hautfarbe aufmerksam und stutzig. Wo würde Hajo Posten beziehen? Er war jedenfalls nicht mehr zu sehen, und Arne vermutete, dass er sich rechts in die Büsche schlug und sich von hinten der Stelle näherte, wo der Papierkorb stand. Allzu lange würde der Entführer sicherlich nicht auf sich warten lassen aus Angst, dass jemand auf die Tüte aufmerksam werden würde.
Aus der Zeit des Wartens wurde eine Zeit der Erinnerung. Arne dachte an Brit als junges Mädchen, an Dikjen Deel, wo er gesehen hatte, wie sie nackt ins Meer gelaufen war, an die Nacht in dem kleinen Zimmer bei seiner Tante und an ihre Stimme am Telefon, wenn es ihm gelungen war, sie anzurufen. Dann die Stimme seines Vaters, die behauptete, das Mädchen habe es nur auf sein Geld abgesehen, die Lüge, dass sie zur Abtreibung bereit gewesen sei, als er genug Geld geboten hatte, die Tage nach seinem schweren Autounfall, als er zu hören bekam, dass er sich in Brit getäuscht hatte. Und dann das Bild, als er sie wiedersah, zusammen mit Olaf und einem kleinen Mädchen an der Hand …
Die Autos, die hinter ihm Richtung List fuhren, rauschten vorbei, gelegentlich fuhr ein Wagen auf den Parkplatz der Vogelkoje, wurde dort abgestellt, die Insassen, meist Paare, stiegen aus, dann wieder kamen Restaurantbesucher zurück, setzten sich in ihre Autos und fuhren davon. Aber schon bald kam ein Wagen auf den Parkplatz, dessen Fahrer sich anders verhielt, abwartend, nicht so zielstrebig. Er fuhr langsam, bremste, tastete sich einen Meter voran, wartete wieder. Arne sah auf die Uhr. Nicht einmal eine halbe Stunde war vergangen. Ein wenig reckte er den Hals, um etwas sehen zu können, traute sich aber nicht ganz aus seiner Deckung. Bloß kein Risiko eingehen! Der Wagen, ein alter Renault, rollte weiter und bremste dann mit einem Mal hart, als hätte der Fahrer urplötzlich einen Entschluss gefasst. Die Fahrertür öffnete sich, ein junger Mann sprang heraus, der nicht nach rechts und links sah, der nur auf den Papierkorb fokussiert war. Der Kerl mit dem altmodischen Anzug!
Arne schoss in die Höhe, riss die Tür auf, sprang aus dem Auto – oder vielmehr, er wollte es tun, blieb jedoch mit einem Fuß am Holm der Karosserie hängen, verlor die Gewalt über seinen Körper, stürzte voran, prallte an einen neben ihm stehenden Wagen, beinahe mit der Stirn, konnte sich jedoch im letzten Augenblick mit beiden Händen abstützen. Wut und Enttäuschung schossen durch seinen Körper. Hatte er mit diesen winzigen Momenten die Chance vertan, den Entführer zu erwischen? Doch bevor er sich aufgerappelt hatte, hörte er schon einen erschrockenen Schrei, einen wütenden Ruf, eine heisere Stimme, einen Körper, der an eine Karosserie prallte. Arne übersah mit einem Blick das Handgemenge, sprang in sein Auto zurück, ließ es an, setzte zurück und platzierte seinen Wagen direkt hinter dem des Entführers, dem schnelle Flucht damit unmöglich gemacht worden war. Keine Minute zu früh. Als er erneut aus dem Wagen sprang, sah er, dass der junge Kerl gerade die Oberhand gewann …