April 1986, Sylt
Der Tag, an dem Olaf Rensing beigesetzt wurde, war so sonnig und bunt, als wollte die Natur sich über die Verzweiflung der Familie lustig machen. Ein viel zu schöner Tag für Trauer!
Kari war früh erwacht und zum Meer gegangen. Alisia schlief noch, sie in der Obhut ihrer Mutter zurückzulassen war Kari leichtgefallen. Sie war nicht wieder in die Villa Heiser gezogen, sondern zurück in ihr Mädchenzimmer im Haus ihrer Eltern. Und es machte sie glücklich, wieder dort zu leben. So bereitwillig sie vor ein paar Monaten ausgezogen war, so gern kehrte sie nun zurück. Seit Alisia wieder bei ihr war, zeigte das Leben ein anderes Gesicht. Es lächelte, während es früher immer neue Masken getragen hatte, Überdruss, Eintönigkeit, Leere, Ablehnung und Hilflosigkeit. Nun hatte sie dem Leben die Masken heruntergerissen und dieses lächelnde Gesicht gefunden. Und sie wusste: Das Leben hatte sie schon immer angelächelt, sie hatte nur nicht zurückgelächelt.
Kari stand an der Wasserkante und sah zum Horizont, dessen Linie klar zu erkennen war. Ein scharf abgegrenzter Raum lag vor ihr, hinter dem etwas begann, das sich in ihrem Inneren entfaltet hatte. »Papa!«
Die Erinnerung an Olaf, die Dankbarkeit für alles, was er ihr gegeben hatte, das Verzeihen des einzigen Fehlers, den er begangen hatte und der nun überhaupt keine Bedeutung mehr hatte. Trotz allem war er nach wie vor ihr Papa, den sie geliebt hatte und von dem sie über alles geliebt worden war. Ein langes Leben hätte ihm vergönnt sein sollen, aber das Schicksal hatte es anders gewollt. »Ach, Papa.«
Kari drehte dem Horizont den Rücken zu und kehrte zurück, mit großen, langsamen Schritten.
Der Portier stellte sich vor dem Miramar auf, die ersten Frühstücksgäste bewegten sich hinter den Fenstern, Westerland erwachte, die ersten Frühsportler liefen auch schon an der Wasserkante entlang. Als sich Kari dem Hotel König Augustin näherte, sah sie einen schwarz gekleideten Mann auf den Eingang zugehen, der ihr fremd war, einen kleinen Koffer in der Hand. Ein entfernter Verwandter von Olaf Rensing, der zur Beisetzung gekommen war? Oder ein Geschäftsfreund? Kari senkte den Blick, als sie an ihm vorbeiging, um nicht angesprochen zu werden. Noch immer war sie die Frau von Mike Heiser, deren Hochzeit durch alle Gazetten gegangen war und deren erstes Kind auf vielen Titelseiten zu sehen gewesen war. Dass es sich dabei um David Wiemann gehandelt hatte, wusste ja bis heute niemand. Wenn die ersten Fotos von Alisia in den Zeitschriften auftauchten, würde es vermutlich erneut einen Ansturm der Paparazzi geben.
Zurzeit war es Indra, die mit Belästigungen zu tun hatte. Da konnte sie noch so oft erklären, dass ihre Eltern den falschen Mann beschuldigt hatten, die Fotografen verfolgten Indra auf Schritt und Tritt. Samy Angermann traute sich seit Tagen nicht nach Achim, obwohl er mehrere Konzerte abgesagt hatte, um Indra regelmäßig besuchen zu können.
Als Kari nach Hause kam, hörte sie Alisias Stimmchen und den Singsang ihrer Mutter, die die Flasche zubereitete und ihre Enkelin ruhig hielt, bis die richtige Temperatur erreicht war. Der Gedanke, wie sehr Olaf diese Situation genossen hätte, versetzte Kari einen Stich. Um sich davon abzulenken, schob sie die Küchentür weit auf und bot ihrer Mutter an, das Füttern der Kleinen zu übernehmen.
Aber Brit lehnte ab. »Das mache ich.« Unerwartet schossen ihr die Tränen in die Augen. »Dass Olaf die Kleine gar nicht mehr zu Gesicht bekommen hat, ist einfach schrecklich«, schluchzte sie.
Kari hatte keine Worte für ihren Schmerz, umarmte sie nur von hinten und legte ihre rechte Wange auf ihr Haar. So blieb sie stehen, bis ihre Mutter nicht mehr weinte. Dann verließ sie die Küche schweigend, unfähig, ihre Mutter zu begütigen oder ihr irgendetwas zu sagen, was diesen Tag erträglicher gemacht hätte. Es gab ja nichts, was trösten konnte, nicht an diesem Tag. Kari ging in ihr Zimmer, wo sie die schwarze Kleidung zurechtgelegt hatte, die sie für Olafs Urnenbeisetzung herausgesucht hatte.
Ob Florian Aldenhof auch kommen würde? Sie hatte Brit nicht zu fragen gewagt. Überhaupt war ihr die Bekanntschaft ihrer Mutter mit dem Besitzer des Carar suspekt. Erst recht konnte sie nicht begreifen, warum er sich eingemischt hatte, als es um die Lösegeldübergabe ging. Brit hätte ihm nicht verraten dürfen, was geplant war, Kari hatte ihr heftige Vorwürfe gemacht. Erst Hajo konnte sie davon überzeugen, dass sie die Beziehung zu ihrer Mutter nicht erneut gefährden durfte. »Redet doch erst mal in Ruhe miteinander«, hatte er Kari ermahnt. »Sie hat es doch nur gut gemeint.«
Aber zu einem Gespräch war es bisher nicht gekommen. Nach der Rückkehr aus der Vogelkoje hatten die beiden lange über ihr Abenteuer reden müssen, hatten sich ständig gegenseitig auf irgendwelche Besonderheiten hingewiesen. Florian Aldenhof hatte Hajo für seine Schlagkraft bewundert, Hajo hatte immer wieder betont, wie geistesgegenwärtig Aldenhof reagiert hatte.
Sie hatten beide ziemlich zerrauft ausgesehen, als sie in Brits Wohnung erschienen, dazu enttäuscht und verlegen. Dass ihnen der Entführer letztlich entwischt war, trübte den Erfolg ihrer Unternehmung. Den Wagen hatte er zwar stehen lassen müssen, weil Arne ihn blockiert hatte, aber als er sich hatte losreißen können, war er im Nu in der Dunkelheit verschwunden gewesen. Die Tüte, in der er ein Vermögen vermutete, hatte er mitgenommen. Der Gedanke an sein Gesicht, wenn er feststellte, dass seine Beute aus Papierschnipseln bestand, sorgte dann wieder für Heiterkeit. Und alle waren sie davon überzeugt gewesen, dass die Polizei ihn erwischen würde, die natürlich längst alarmiert war und Jagd auf ihn machte.
Kari rief jetzt im Hotel an und fragte nach Hajo. Doch ehe sie zu hören bekam, dass er nicht im Büro sei, klingelte es an der Tür. Hajo stand vor Kari und zog sie in seine Arme. »Meine Liebste!« Kari drängte sich an ihn, schmiegte sich an seine Brust, schloss die Augen und sog den Duft seines Körpers ein, der noch immer so war, wie sie ihn nach Mikes Party in Erinnerung hatte. Dann umschlang sie seinen Körper fest, diesen schlanken, drahtigen, muskulösen Körper, und sah zu ihm auf. »Ich liebe dich, Hans-Josef Keller!«
»Ich liebe dich auch«, gab er lächelnd zurück. »Glaubst du, dass dein Vater einverstanden gewesen wäre mit uns?«
Brit trat mit Alisia auf dem Arm zu ihnen. »Er wäre glücklich gewesen, Hajo, ich bin ganz sicher.«
Kari sah Hajo fragend an. Er hatte ihr erzählt, was er zufällig mitbekommen hatte. Würde er verraten, was er wusste? Würde er Brit vorhalten, was Olaf zu ihr gesagt hatte? Dass er Hajo nicht zum Vorstellungsgespräch geladen hätte, wenn er rechtzeitig gesehen hätte, dass er schwarz war? Aber er schwieg. Und Kari ergänzte mit dem gleichen Nachdruck wie Brit: »Ich bin auch sicher, dass Papa froh gewesen wäre.«
»Wenn der heutige Tag vorbei ist«, sagte Brit, »muss ich unbedingt mit Ihnen sprechen, Hajo. Ich schaffe es nicht allein, das König Augustin zu leiten. Ich brauche Hilfe. Und ich könnte mir keinen besseren Geschäftsführer für alle Häuser vorstellen als Sie.«
Hajo sah sie an, als wagte er nicht, sein Glück an einem Tag zu zeigen, an dem Brits Mann beigesetzt wurde. Er schaffte es, nicht zu lächeln, aber ihr mit klarer und sehr feierlicher Stimme zu sagen, dass sie mit ihm rechnen könne. »Ich helfe Ihnen gern.« Und dann griff er nach Karis Hand. »Mit Ihrer Tochter. Zusammen sind wir unschlagbar.«
Alisia sorgte dafür, dass an diesem Tag, so traurig er war, dennoch gelächelt wurde und trotz aller Trauer der Optimismus gewann. Ein junges Leben, eine junge Liebe, die Gewissheit, dass es weitergehen würde, nahm diesem Tag das Dunkle, Schwere, schaffte es zwar nicht, ihn schillernd und leicht zu machen, sorgte aber dafür, dass das Unglück Teil des Glücks wurde, das in die Zukunft wies.
»Wird Mike zur Beisetzung kommen?«, fragte Brit.
Kari glaubte nicht daran. »Aber wir müssen damit rechnen, dass Journalisten auf dem Friedhof erscheinen, weil sie davon ausgehen, dass er dabei sein wird.«
Brit sah auf die Hände von Kari und Hajo, die ineinander verschlungen waren. »Wenn ihr so an Olafs Grab erscheint …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
Hajo ließ Kari los, als hätte er sich an ihr verbrannt. »Das fehlte noch, dass die Regenbogenpresse uns verwurstet.«
»Wenn Mike nicht kommt«, überlegte Brit, »führt das bestimmt auch zu Spekulationen.«
Das Telefon klingelte, und Brit wartete Einwände von Hajo und Kari nicht ab, sondern nahm das Gespräch an. Ihr Gesicht wurde blass, ihr Mund stand offen, sie starrte Kari an. »O mein Gott«, flüsterte sie. Und dann, als sie den Hörer zurückgelegt hatte: »Meine Eltern werden nicht zur Beisetzung kommen können. Hasso und Halina auch nicht.«
»Was ist passiert?«, fragte Kari angstvoll.
Brits Stimme klang tonlos. »Dennis ist tödlich verunglückt. Anscheinend hat er ein Auto geklaut und ist, zusammen mit einem Freund, Richtung Süden gefahren. Viel zu schnell vermutlich. In der Nähe von Mannheim hat er die Gewalt über das Auto verloren …« Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Was ist nur aus Dennis geworden?«
Kari und Hajo sahen sich an. Jeder von ihnen sah, was der andere dachte. Eine schreckliche Ahnung stand mit einem Mal im Raum …
*
Der Friedhof war schwarz von Menschen. Olaf Rensing war ein Geschäftsmann von bestem Ruf gewesen, ein beliebter Chef, ein korrekter Geschäftspartner, ein hilfsbereiter Mensch. Und wer nicht gekommen war, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, der hatte sich zum Teil der Trauergemeinde gemacht, um dabei zu sein, wenn die Sensationspresse nicht davor zurückscheute, Olafs Schwiegersohn Mike Heiser und dessen Frau Kari Heiser zu fotografieren und womöglich sogar anzusprechen. Sich später darüber empören zu können war eine pikante Motivation. Dass der bekannte Modedesigner gar nicht zur Beisetzung seines Schwiegervaters erschien, wurde von den meisten erst bemerkt, als Kari neben ihrer Mutter ans offene Grab trat, ohne den Ehemann an ihrer Seite. Das war Anlass für viel Tuschelei und für unzählige Unverfrorenheiten der Presseleute, die sich dafür schadlos halten wollten, dass sie Mike Heiser nicht aufs Bild bekommen konnten. Kari sah praktisch schon die Titelzeilen vor sich, in denen Behauptungen aufgestellt wurden, die vorsichtshalber ein Fragezeichen erhielten und damit dann keine Behauptungen mehr waren.
Im Café König Augustin wurden die Gäste anschließend bewirtet. Die Gespräche summten, aus Trauer und Betroffenheit war längst ein »Das Leben geht weiter« geworden, und gelegentlich brandete sogar Gelächter auf. »Olaf hätte es so gewollt.« Dieser Satz wurde an allen Tischen mindestens einmal ausgesprochen.
Kari ging zu ihrer Mutter. »Warum ist Florian Aldenhof nicht zur Beisetzung gekommen? Ich hatte das Gefühl …« Sie stockte und wusste nicht, wie sie den Satz vollenden sollte.
»Was für ein Gefühl?«, fragte Brit und sah ihre Tochter aufmerksam an. Als Kari nur nach Worten rang, aber zu keiner Antwort fand, ergänzte sie: »Er wird später kommen. Wir müssen dann mit dir reden.«
Brit drehte sich um, ging zu einem Tisch, an dem Nachbarn ihrer Eltern aus Riekenbüren saßen, die es sich nicht hatten nehmen lassen, zu Olafs Beisetzung auf die Insel zu kommen. Warum Brits Familie nicht ebenfalls anwesend war, hatten sie erst auf Sylt erfahren. Jetzt steckten sie die Köpfe zusammen und redeten darüber, dass sie schon immer gewusst hatten, mit Dennis würde es mal ein schlimmes Ende nehmen. Natürlich erhofften sie sich weitere Informationen von Brit, aber da fragten sie vergeblich. Brit war es nicht gelungen, mit Hasso oder Halina zu sprechen, sie waren noch in dem Krankenhaus, in dem Dennis seinen schweren Verletzungen erlegen war, und ihre Eltern waren derart kopflos, dass mit ihnen nicht zu reden war. Nur, dass Dennis zum Autodieb geworden war, hatte Frida hervorgestoßen, aber sicherlich sei er von seinem Freund, der den Unfall ebenfalls nicht überlebt hatte, dazu verführt worden.
»Was für ein schrecklicher Tag«, murmelte Brit jedes Mal, wenn Kari in ihrer Nähe erschien.
Kari sah sich nach Hajo um, aber er war ins Hotel gegangen, um dort nach dem Rechten zu sehen und auch, um den Leuten nicht zu zeigen, dass er bereits zur Familie Rensing gehörte. Das durfte sich noch nicht herumsprechen, dazu war es noch zu früh.
Auf die Fragen nach ihrem Ehemann hatte Kari jedes Mal geantwortet, dass Mike nicht schuld daran hatte sein wollen, dass Olafs Beisetzung durch Blitzlichtgewitter gestört wurde. Diese Auskunft wurde an jedem Tisch mit Wohlwollen und Anerkennung quittiert, aber auch mit einem kleinen Schuldbewusstsein, denn natürlich wusste jeder der Trauergäste, dass er in den nächsten Tagen mit Wohlbehagen alles gelesen hätte, was die Presse über Olaf Rensings Beerdigung und die Rolle von Mike Heiser berichtet hätte. Dass er eine Fünfzehnjährige geschwängert hatte, war ja noch längst nicht vergessen, wenn die junge Mutter auch behauptete, der Falsche sei in Verdacht geraten. Und dass die versprochene Fernsehshow auf Eis gelegt worden war, wusste auch jeder. Insofern konnte es also auch sein, dass Kari Heiser dafür gesorgt hatte, dass ihr Mann nicht zur Beisetzung ihres Vaters erschien, weil sie sich längst mit Trennungsabsichten trug. Dass Kari nicht in die Heiser-Villa, sondern zu ihrer Mutter gezogen war, sprach sich ebenfalls wie ein Lauffeuer herum.
Kari hatte auf einen Moment wie diesen gewartet. Alle waren in ihre Gespräche vertieft, ihre Mutter kam ihren Gastgeberinnenpflichten nach, auf Kari achtete niemand. Sie verließ den Raum, trat aus der hinteren Tür, ging von dort auf die Straße und nach ein paar Schritten ins Hotel König Augustin. Hajo musste sie vom Fenster seines Büros gesehen haben, denn er kam ihr in der Lobby entgegen und schob sie in sein Büro. Dort standen sie eine Weile umschlungen da, Hajo hielt Kari so fest er konnte, sie lehnte sich an ihn, als hätte sie alle Kraft verlassen.
»Wird viel Unsinn geredet?«, fragte Hajo schließlich leise.
Kari nickte und löste sich von ihm. »Ich fahre zu Mike. Die Gelegenheit ist günstig.«
Hajo zögerte. »Soll ich nicht doch mitkommen?«
Aber Kari schüttelte den Kopf. »Ich will mir nicht vorwerfen lassen, dass ich mein Versprechen nicht gehalten habe. Ich hatte ihm zugesagt, dir nichts zu verraten.«
Hajo entließ Kari trotzdem nur ungern. »Pass auf!«
Kari winkte ab. »Wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin, kannst du kommen und mich suchen.«