Kaims Burg

In jener Nacht, als Terrloff, Janor, Coral und Cyril ihren mühevollen Weg durch das karstige Gebirge der Insel Ilaniz antraten, saß Kaim allein in einem großen Saal. Wenige Pechfackeln verbreiteten ein düsteres Licht. Er beugte sich über Pergamente, die auf einem langen, grob gezimmerten Eichentisch ausgebreitet waren.

Plötzlich reckte er sich und brüllte: »Rulant!«

Durch eine eisenbeschlagene Tür trat ein schlanker junger Bursche ein mit einer Kerze in der Hand.

»Du hast gerufen?«

»Sag mir, wo würdest du landen, wenn du unbemerkt nach Ilaniz kommen wolltest?«

Rulant sah seinen Herrn zweifelnd an, doch dessen Gesicht war von so ernsten Sorgenfalten durchzogen, dass der junge Mann zu dem Schluss kam, es müsse sich um mehr als nur eine der üblichen Gedankenspielereien Kaims handeln.

»Es gibt nur wenige Küstenstreifen, an denen die Brandung nicht jedes Schiff zerschmettern würde«, sagte Rulant nachdenklich. Er führte die Kerze im knappen Abstand über das Kartenblatt, dann stellte er das Licht auf eine Stelle, so dass es aussah wie ein riesiger Leuchtturm am Strand.

»Hier«, sagte er leise und gespannt, »hier würde ich an Land gehen.«

Kaim schaute unvermittelt auf. »Wie steht es um deine Liebe zu Adaline?«

»Sie will mich nicht, solange wir auf deiner Insel sind und nicht, solange ich dir diene.«

»Und wann wirst du mich verraten?«

Rulant sah Kaim in die Augen, er gehörte zu den wenigen Menschen auf der Insel, die Kaim nicht fürchteten, weder er noch Adaline, die er über alles liebte und verehrte. »Ich war damals zu jung, um an dem Zug gegen Terrloff teilzunehmen, und du hast mir nie etwas darüber erzählt. Auch Adaline schweigt, sie sagt nur, es sei ein großes Unrecht und eine böse Demütigung gewesen.«

Kaim erhob sich langsam von seinem Sessel, reckte sich und ging mit schweren Schritten zu einem der bleiverglasten Fenster, die tief in das dicke Mauerwerk eingelassen waren. Er öffnete einen Flügel und atmete die Nachtluft in tiefen Zügen ein. Dann wandte er sich um: »Es war vielleicht ein Fehler. Ich habe noch nie jemandem erzählt, wie es dazu kam. Aber du sollst es wissen, damit du dich entscheiden kannst.«

Rulant setzte sich auf einen der Hocker und sah seinen Herrn an.

»Wir waren damals fast noch Kinder«, erzählte der, »der junge Terrloff und ich. Wir waren Freunde, maßen unsere Kräfte und unsere Klugheit. Die Talente waren dabei unterschiedlich verteilt. Ich war schneller und stärker als Terrloff, er war klüger und gewitzter. Ich beneidete ihn um sein trauliches Zuhause, er mich um meine wilden Abenteuer im Gefolge meines Vaters. So waren wir zwar Gefährten, aber auch Rivalen.

Eines Tages aber begann ich ihn zu hassen. Wir waren in einen Wald hinausgeritten mit unseren Bogen und kurzen Lanzen. Drei Kaninchen hatten wir schon erlegt, waren dabei aber immer tiefer in den Wald eingedrungen. Plötzlich entdeckten wir eine laubbedeckte, halb verfallene, verlassene Hütte. Im weiten Umkreis fanden wir keinerlei Spuren. Vorsichtig suchten wir einen Weg. Wir beseitigten Äste, Baumstämme und Berge von halbvermodertem Laub, ehe wir ins Innere eindringen konnten. Terrloff hatte Feuersteine bei sich. Er zündete einen Ast an und ging voran. Die Hütte war der Eingang zu einer tiefen, weit verzweigten Höhle. Ein riesiger, flacher Stein versperrte den Einstieg zur Hälfte, aber es gelang uns mühelos hinunterzusteigen. Über sauber herausgehauene Stufen gelangten wir in einen großen Raum, fast schon eine Halle. Dort fanden wir zwei große steinerne Tische, Hocker aus Steinen und seltsame Werkzeuge aus Eisen, dazu große Kessel, einen mächtigen Amboss, Hämmer und Zangen. An der Stirnseite der Felshöhle war ein Lager zu erkennen. Der brennende Ast erlosch in dem Moment, da ich dort ein menschliches Skelett erkennen konnte.

Ich hörte Terrloff flüstern: ›Arivar, das muss Arivar sein.‹ Wir schlugen erneut Feuer und zündeten ein paar lose herumliegende Zweige an.

›Wer ist Arivar?‹ wollte ich wissen.

›Der größte Gold- und Silberschmied, der je gelebt hat‹, sagte Terrloff, ›niemand wusste bisher, wo er wohnte, er kam zu uns und tauschte seine Schätze gegen Fleisch und Obst und Wein. Was waren schon unsere Gaben gegen das, was er dafür bot? Aber er drohte, jeder, der ihm folgen würde, müsse sterben, und er werde niemals wiederkehren, wenn ein anderer Mensch seine Werkstatt betreten sollte. Niemand hat jemals gewagt, ihm zu folgen.‹

Das alles erzählte mir Terrloff. Irgendwann einmal war Arivar nicht wiedergekehrt, und der alte Terrloff hatte einen Stein auf dem Acker der Ahnen für ihn gesetzt. Jetzt standen wir vor seinem Sterbelager.

Ich wollte schnell wieder hinaus. Aber der junge Terrloff wollte nichts davon wissen. Er begann zu suchen. Wir fanden Gold- und Silberplättchen, einige kunstvolle Handwerkszeuge und plötzlichwir erblickten es im gleichen Augenblickerstarrten wir. Vor uns lag eine unbeschreiblich schöne, zierliche Krone aus Silber und Gold, mit glitzernden Edelsteinen besetzt. Terrloff sagte sofort: ›Die gehört mir.‹ Ich lachte und sagte: ›Sie gehört uns.‹ Da fuhr er herum und starrte mich hasserfüllt an. ›Du bist ein Fremdling, ein Eindringling, ein Mensch, der bei uns nichts zu suchen hat und jetzt willst du mir meinen Besitz stehlen?‹

Ich war tief betroffen. Immer hatte ich darunter gelitten, kein Zuhause zu haben. Dass er es mir zum Vorwurf machte, beleidigte mich. Ich bekam einen unbeschreiblichen Zorn, warf Terrloff nieder und setzte ihm die kurze Lanze an den Hals. ›Sprich nie wieder so zu mir‹, sagte ich, hob die Krone auf und stieg hinauf ans Tageslicht. Terrloff folgte mir nach langer Zeit. Wir saßen schweigend unter einer mächtigen Buche und starrten uns böse an. Schließlich lenkte ich ein. Ich sagte: ›Lass uns um das Geschmeide kämpfen.‹ Er lachte bitter: ›Du bist der Stärkere.‹

Wir einigten uns darauf, dass jeder eine Falle stellen sollte, und wer zuerst ein Tier darin fangen würde, dem sollte das Krönchen gehören.

Wir bauten in einer Entfernung von vierhundert Schritten unsere Fallen auf und legten uns auf die Lauer. Es dämmerte schon. Ich lag nahe bei meiner Falle und sah plötzlich, wie ein Fuchs auf mich zuschnürte???. Der Wind stand günstig, er konnte keine Witterung von mir aufnehmen. In meiner Falle hatte ich einen kleinen Hasen angebunden, den wir schon am Mittag des gleichen Tages gefangen hatten. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, da würde ich den Fuchs gefangen haben. Aber daplötzlich sprang das Tier auf und flüchtete in wilder Hast davon. Ich hatte wohl gesehen, wie es dazu gekommen war. Terrloff war nicht bei seiner Falle geblieben, er hatte sich herangeschlichen und als er den Fuchs entdeckte, hatte er ihn mit einem Steinwurf davongejagt. Ich sprang auf. Das sollte der falsche Hund mir büßen. Er lehnte lachend an einem Baum und rief mir entgegen: ›Wir kämpfen nicht nur mit Kraft, sondern auch mit List.‹

Ich sah rot, so groß war meine Wut. Aber ich sah nicht, dass Terrloff eine Falle für mich aufgebaut hatte. ›Komm doch!‹ rief Terrloff mir immer wieder entgegen, ›komm doch!‹ Das Licht im Wald war nicht mehr gut. Ich dachte, ich liefe über glattes Moos, aber da war, nur zwei Schritt vor Terrloff, ein tiefes Loch, eingebrochene Erde, die wohl durch den Höhlenbau des Arivar hinabgestürzt war. Terrloff hatte das Loch mit Moos überdeckt. Ich brach hinein. Hilflos stak ich zwischen Baumstämmen und Geäst und Terrloff legte seinen Pfeil auf mich an. ›Gib mir meine Krone, du hergelaufener Kerl oder ich erschieße dich.‹

Es blieb mir nichts anderes übrig. Mit der einen Hand hielt ich mich fest, mit der anderen band ich die Goldkrone von meinem Gürtel und warf sie zu ihm hinüber. Er hob sie auf, lächelte und sagte: ›Du solltest den Unterschied zwischen dir und mir niemals übersehen. Ich bin der freie Sohn eines freien Bauern. Ich habe eine Familie, die mich schützt und mich nährt, Geschwister, die mich lieben und Freunde, die mir zugetan sind. Du dagegen bist ein hergelaufener Wegelagerer, angewiesen auf die Freundlichkeiten meines Vaters.‹ Dann verschwand er im Wald.

Ich befreite mich nach vielen Stunden, rannte zu meinem Vater zurück und bat ihn, das Haus Terrloffs noch in der gleichen Nacht zu verlassen. Mein Vater suchte den alten Terrloff auf und warf ihm den Hochmut seines Sohnes vor. Ich weiß nicht, was der weise alte Terrloff geantwortet hat.

Ich aber schwor mir, erst wieder zurückzukehren, wenn ich diesen hochfahrenden Terrloff besiegen konnte. Mein Hass saß tief und wuchs von Jahr zu Jahr.«

Kaim ging mit langen Schritten um den mächtigen Eichentisch herum.

Rulant sah zu ihm auf. »Hass ist zu einem Teil deines Wesens geworden, Kaim«, sagte er leise, »oft scheint es mir, als ob du alle Menschen hassen würdest.«

»Glaubst du, ich hasse dich auch?«, fragte Kaim.

Rulant dachte lange nach. Dann erhob er sich und sagte: »Nein, das glaube ich nicht. Hättest du mir sonst deine Geschichte erzählt?«

Die Pechfackeln waren heruntergebrannt. Draußen stieg die Dämmerung über die steilen Gebirgskämme.

»Späher haben mir berichtet, dass fremde Männer am Festland Boote für eine Überfahrt gekauft haben«, sagte Kaim leise.

»Und du glaubst, dass Terrloff…?«

Weiter kam Rulant nicht. Krachend schlug Kaim mit seiner großen Faust auf den Tisch.

»Er ist es, er wird kommen, glaube mir. In der letzten Nacht habe ich davon geträumt, aber er wird sich wundern, ich bin heute einer der reichsten Männer dieses Erdteils.«

»Und er wird seine Mittel anwenden, die er dir schon immer voraus hatte: Die List und seine Fähigkeit, die Menschen für sich zu gewinnen.«

Kaim lehnte sich an die Wand aus riesigen Steinquadern. Das Licht der flackernden Fackeln zuckte über sein großes dunkles Gesicht. Er sah düster und bedrohlich aus. »Wirst du auf meiner Seite sein, wenn es soweit ist?«, fragte er Rulant schließlich.

»Ich habe dir Treue gelobt; wenn sich daran etwas ändern sollte, wärst du der erste, der es erfahren würde.«

Kaim trat neben Rulant und legte ihm seine schwere Hand auf die Schulter: »Das werde ich dir nie vergessen.« Er ging wieder zu dem offenen Fenster und sah gedankenverloren hinaus.

Jenseits einer weiten Mulde in dem felsigen Sockel des schroffen Gebirgszuges glaubte Kaim für einen Augenblick einen Reiter erkennen zu können. Oder hatte er sich geirrt, war es nur ein Traumbild?

Langsam wandte sich Kaim ab und durchschritt den Raum. Als er die eisenbeschlagene Tür öffnete, sagte er leise: »Er ist gekommen!«