Chlenos, der jüngere Bruder Terrloffs, war in den Jahren seit seiner Verschleppung zu einem stattlichen jungen Mann von achtzehn Jahren herangewachsen. Er trug schulterlanges, dunkles Haar, hatte kohlschwarze Augen und eine hochgewachsene, schlanke Figur.
Sein bester Freund war Rulant, der getreue Gefolgsmann Kaims. Zu dem Herrscher selbst hatte Chlenos ein seltsames Verhältnis. Kaim hätte all seinen Hass verdient, aber es war ihm doch nicht möglich, ihn zu verachten, wie seine strenge Mutter es erwartete. Im stillen bewunderte der junge Chlenos die Kraft, die Geschicklichkeit und auch die Macht, über die Kaim verfügte.
So kam es, dass er sich an allen Turnierspielen beteiligte, dass er mit zur Jagd ausritt und manchmal an der Tafel des mächtigen Mannes saß. Doch wenn Kaim mit seinen Truppen zum Festland übersetzte, um einen Auftrag des Kaisers zu erfüllen, musste Chlenos zurückbleiben. Zusammen mit seiner Schwester Adaline und seiner Mutter wurde er dann in dem weitläufigen Schlossflügel gefangen gehalten.
Das war für den jungen Mann besonders schmerzlich, denn seine ganze Liebe gehörte der Seefahrt. Viele Stunden am Tag studierte er Seekarten und übte die Navigation. Er kannte jeden Stern am Himmel, und es wäre ihm zweifellos möglich gewesen, ein Schiff sicher durch die Meere zu lotsen, wenn es ihm nur einmal gelungen wäre, die Insel zu verlassen.
Seine zweite Leidenschaft galt dem Schachspiel. Oft fand sich sein Freund Rulant zu einer Partie bereit und auch Kaim setzte sich manchmal dem jungen Chlenos gegenüber, um gegen ihn zu spielen. Chlenos gewann immer. Und jedes Mal stand Kaim mit zornrotem Kopf auf und knurrte wütend: »Man sieht es, du bist eben ein Terrloff.« Wenn Chlenos nicht über Schiffskarten saß oder mit dem Sextanten übte und er gerade auch nicht in Schachprobleme vertieft war, las er Bücher, die Kaims Leute ihm von jedem Festlandsbesuch mitbrachten. Seine Freunde wussten, was ihn neben der Schifffahrtskunst am meisten interessierte: Geschichte und Politik.
Mit seinem Freund Rulant redete er oft und gerne über das, was er gelesen hatte. Ein Gedanke bewegte ihn besonders: Da gab es Länder, die ganz anders regiert wurden als die Insel Ilaniz unter dem harten Herrscher Kaim. Dort regierten Männer, die vom Volk gewählt wurden und sich wieder einer Wahl stellen mussten.
Oft ging Chlenos abends in die Stadt hinunter, wenn die Arbeiter müde aus den Silberstollen zurückkamen. Sie saßen dann um die tiefen Ziehbrunnen, tranken einheimischen Wein und redeten miteinander. Chlenos gefiel es in der Gemeinschaft der einfachen Männer und Frauen von Ilaniz. Und weil er ein freundliches Wesen hatte, frei von Hochmut, mochten ihn auch die Leute gern.
Es hatte lange gedauert, bis sie ihr Misstrauen gegen den jungen Mann von der Burg überwunden hatten. Nach und nach merkten sie aber, dass er kein Spitzel und kein Aufseher war; er trieb sie nicht zur Arbeit an, im Gegenteil, er brachte den Kindern Geschenke und hörte sich alle Sorgen der Erwachsenen geduldig an. Und nie hatte jemand gehört, dass er das, was er erfuhr, auf der Burg weitererzählt hätte.
Dagegen hatten Kaims Leute bald bemerkt, dass sich Chlenos immer in der Unterstadt herumtrieb, abends mit am Brunnen saß und von den Menschen dort unten wie ein Freund, ja fast wie einer von ihnen behandelt wurde. Rulant warnte ihn manchmal: »Kaim wird sich das nicht mehr lange mit ansehen.«
Tatsächlich ließ Kaim eines Abends den jungen Chlenos zu sich rufen. Der Herr von Ilaniz saß wie immer allein in dem großen Raum im Südflügel der Burg an dem langen Eichentisch. Vor sich hatte er einen riesigen Zinnbecher mit Wein. Er sah Chlenos finster an.
»Ich höre, dass du dich ständig mit den Bauern und Silberminenarbeitern herumtreibst, das gefällt mir nicht«, sagte Kaim ohne Umschweife.
Chlenos sah ihn lange an, ohne etwas zu erwidern, dann sprach er mit leiser Stimme:
»Es sind Menschen wie ich, und sie unterliegen deiner Herrschaft wie ich.«
»Aber du wohnst auf der Burg, sitzt an meiner Tafel und gehst mit mir auf die Jagd.«
»Es stimmt, dass ich viele Vorzüge genieße«, sagte Chlenos bedächtig, »aber ich habe dich nie darum gebeten.«
»Was sprichst du mit den Menschen da unten?«, wollte Kaim wissen.
»Sie erzählen mir von ihrer Arbeit und von ihren Kindern, von ihrer Armut, aber auch von ihrem Glück.«
»Glück?«, Kaim starrte den Jüngling überrascht an.
Chlenos musste lächeln. »Natürlich, sie reden auch von ihrem Glück. Zugegeben, nicht oft, denn du lässt ihnen wenig Möglichkeiten und wenig Zeit zum Glücklich sein. Umso mehr genießen sie es, wenn sie beisammen sitzen können, wenn sie miteinander reden, lachen oder singen können.«
Kaim stemmte sich von seinem Sitz hoch und ging unruhig in dem saalartigen Raum auf und ab. Er schaute düster auf Chlenos hinab, der ruhig und ohne Angst auf einem einfachen Hocker saß. Plötzlich kam ein listiger Zug in Kaims Gesicht.
»Du sagst, dass du dich wohlfühlst bei ihnen?«
Chlenos nickte.
»Hast du Freunde dort, gute Freunde?«
Wieder nickte Chlenos.
»Dann werde ich dir einen Wunsch erfüllen, den du sicher hast«, sagte Kaim leise und seine Stimme bekam einen hämischen Klang, »ab morgen darfst du bei deinen Freunden wohnen und mit ihnen in die Silberstollen gehen.« Chlenos stand auf und verbeugte sich.
»Ich danke dir, Kaim«, sagte er ohne eine Gemütsbewegung zu zeigen.
Kaim stieg die Wut ins Gesicht. »Hinaus!«, brüllte er mit seiner mächtigen Stimme, »hinaus. Geh mir aus den Augen, oder ich lasse dich in den Turm werfen.«
Chlenos ging still aus dem Raum, holte bei seiner Mutter ein Kleiderbündel und etwas Proviant, verabschiedete sich von ihr und seiner Schwester Adaline, und noch in derselben Stunde verließ er die Burg und wanderte leise vor sich hin pfeifend in die Stadt hinunter.
So lebte Chlenos, der Sohn des alten Terrloff, nun schon beinahe ein Jahr in der Hütte des Bauern Hogarth.
Die Hütte war kaum sechs Schritte lang und ebenso breit. Sie hatte nur drei Räume: einen, in dem der offene Herd war und in dem sich die Familie zum Essen versammelte, einen, in dem Hogarth mit seiner Frau schlief und eine kleine Kammer, die sich Chlenos mit Hogarths Sohn Toyo teilte.
Jeden Morgen bei Sonnenaufgang reihte sich Chlenos in die Kolonne der Arbeiter ein zu dem einstündigen Fußmarsch in den Silberstollen. In der ersten Zeit war er schweigsam mit den anderen gegangen und hatte mehr gearbeitet als die meisten der Männer, die das Silberschürfen seit langem gewohnt waren. Misstrauisch beobachteten ihn die Aufseher Kaims, die ihrem Herrn jeden Abend berichten mussten.
Aber mit der Zeit ließ die Aufmerksamkeit der Antreiber nach. Offensichtlich hatte sich Chlenos in sein Schicksal gefunden. Er muckte nicht auf, sprach kaum mit seinen Schicksalsgenossen und war ein guter Bergarbeiter. Kaim ließ sich dadurch nicht täuschen. Immer wieder spornte er seine Männer an, den jungen Mann nicht aus den Augen zu lassen. »Die Stillen sind besonders gefährlich«, pflegte er zu sagen, und auch: »In diesem Kerl vom Festland steckt ein Aufrührer.«
Natürlich erfuhr auch Chlenos von diesen Worten des Herrschers. Dann lächelte er still in sich hinein. Abends saß er in der Hütte des alten Hogarth oder am Brunnen. Manchmal schlich er sich im Schutze der Nacht hinaus und wanderte auf versteckten Schleichwegen zu seiner Schwester Riamis. Dann saßen sie die ganze Nacht bis zum Morgengrauen beieinander, erzählten sich von früher und schmiedeten Pläne. Denn Chlenos gab sich mit seinem Schicksal keineswegs zufrieden. »Eines Tages«, sagte er immer wieder zu Riamis, »werden wir den Tyrannen stürzen.«
Wenn Chlenos abends allein am Brunnen saß, schrieb er Geschichten, die er anderntags den Kindern vorlas. Manchmal erzählte er auch einfach so, ohne den Text vorher aufzuschreiben. Es waren Märchen und Abenteuergeschichten, und seine kleinen Zuhörer konnten nie genug davon bekommen.
Ein Lied aber, das er in einer solchen Abendstunde gedichtet hatte und zu dem ihm auch eine schöne Melodie eingefallen war, sang er einmal einigen Freunden vor. Sie baten ihn sofort, es noch einmal zu wiederholen. Und schon beim dritten Mal fielen einige von ihnen ein, summten die Melodie mit, sangen einzelne Stücke des Textes. Sie lernten es schnell. Und sie sangen es anderen vor, und die anderen gaben es wieder an andere weiter. Bald kannten jeder Mann und jede Frau und viele Kinder in Ilaniz das Lied von den Männern im Silberstollen.
Wenn die Männer und Frauen sich morgens in die Kolonne einreihten, fing meistens einer an, das Lied leise vor sich hin zu summen, ein anderer fiel ein und noch einer und noch ein paar und zum Schluss alle.
Sie summten das Lied von den Männern im Silberstollen, und der Klang schwoll an und füllte das Tal, und die Melodie schwang sich wie auf Flügeln hinauf bis zur Burg. Niemand wusste, wo es herkam, niemand verriet, wer es ausgedacht hatte. Es war das Lied der armen Leute, die für Kaim Silber scharren mussten. Und Kaim begann sich zu fürchten, wenn es an sein Ohr klang.
Und wenn die Arbeiter abends müde aus den dunklen Schächten hervortraten und in die Abendsonne blinzelten, stimmten sie wieder die Melodie an. Es war gerade so, als ob ihnen ihr Lied das Leben leichter machen würde.
Und Chlenos ging mitten unter ihnen, legte manchmal einen Arm um die Schulter seines Nebenmannes und seine Stimme war die kräftigste und schönste und erhob sich über den Chor der anderen, wenn sie sangen:
Im Berg so tief ist das Leben schwer,
wir graben
wir arbeiten schwer, doch die Taschen sind leer,
wir graben
ein anderer nimmt uns das Silber ab,
wir graben
und graben und graben vielleicht einst sein Grab.
Freunde, fasst euch an den Händen,
einst wird alles Elend enden,
dann endet auch die Schinderei,
dann ist der Bauer wieder frei!
Im Berg so tief herrscht finstere Nacht,
wir graben
und der Mann mit dem Schwert hält finster Wacht,
wir graben
doch finsterer noch als im dunklen Schacht,
wir graben
ist’s im Herzen des einen, trotz all seiner Macht.
Freunde, fasst euch an den Händen,
einst wird alles Elend enden,
dann endet auch die Schinderei,
dann ist der Bauer wieder frei!
Gott hat den Menschen frei erschaffen,
wir graben
Menschenwerk sind Macht und Waffen,
wir graben
doch wird die Macht nicht immer dauern,
wir graben
bald sind wir wieder freie Bauern.
Freunde, fasst euch an den Händen
bald wird dieses Elend enden,
macht Schluss mit aller Schinderei
Bauer, werde wieder frei!
Kaim, dem der Text von seinen Aufsehern überbracht wurde, saß lange in seinem düsteren Raum und las die Zeilen immer wieder. Schließlich ließ er Rulant kommen. »Kennst du das Lied?«, fragte er ihn.
»Jeder in Ilaniz kennt es.«
»Wer könnte es geschrieben haben?«
Rulant sah verlegen aus dem Fenster und gab keine Antwort.
»Wir wissen es«, sagte Kaim mit grollender Stimme, »du und ich, wir wissen es. Nur einer ist dazu fähig.«
Kaim schien sich zu scheuen, den Namen von Chlenos auszusprechen.
Rulant sagte: »Es war ein Fehler, ihn als Arbeiter in die Unterstadt zu verbannen.«
Krachend donnerte Kaim seine Faust auf den Tisch. »Noch bin ich Herr auf Ilaniz. Noch bestimme ich, und ich lasse mir mein Volk nicht von einem jungen Burschen aufhetzen. Lass ihn gefangennehmen!«
Rulant sah Kaim direkt in die Augen. »Nein!«, sagte er bestimmt.
»Was?«, brüllte Kaim.
»Er ist mein Freund«, sagte Rulant schlicht.
Kaim ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen und stierte lange vor sich hin. Wie zu sich selbst sagte er leise: »Der eine sprach vom Glück der einfachen Leute, der andere spricht von Freundschaft, Glück, Freundschaft – Freundschaft – Glück.« Immer wiederholte er die beiden Wörter. Dann sprang er mit einem Satz auf und funkelte Rulant mit seinen dunklen Augen an. »Morgen reite ich selbst hinab, sollen sie mir ihr Lied doch ins Gesicht singen.«
Am anderen Morgen kleidete sich Kaim schon vor Morgengrauen an. Er schnallte seinen Kriegspanzer fest und bestieg sein schnellstes Pferd. Sein Weg führte ihn über schmale steingepflasterte Wege bergabwärts. Als er die ersten der kleinen Häuser erreichte, sah er die erstaunten Gesichter der Männer und Frauen hinter den Fenstern. Noch nie hatte es der Herrscher von Ilaniz gewagt, ohne Gefolge durch die engen Gassen der Unterstadt zu reiten. Einige Frauen, die zu den Brunnen unterwegs waren, beugten ihre Köpfe tief vor dem großen schwarzbärtigen Mann auf seinem gewaltigen Ross. Er beachtete sie nicht. Alle Gassen und Straßen der Unterstadt liefen sternförmig auf einen großen Platz zu, der von riesigen Platanen umstanden wurde, und in dessen Mitte ein Brunnen plätscherte. Dort traf sich früh am Morgen die Arbeiterkolonne.
Unbeweglich verharrte Kaim auf seinem Pferd. Die ersten Männer und Frauen kamen aus den Häusern und Gassen. Sie waren ärmlich gekleidet und hatten kleine Bündel bei sich, in denen sie etwas zu essen mitnahmen. Erstaunen und Furcht las Kaim in den Gesichtern der Arbeiter. Sie gingen stumm an ihm vorüber und neigten ihre Köpfe voller Ehrfurcht – oder war es Angst?
Kaim sah in jedes Gesicht, denn er suchte das eine, das Gesicht des jungen Chlenos.
Langsam formierte sich der Zug. Da begann eine tiefe Männerstimme ganz leise eine Melodie zu summen. Kaim schaute scharf in die Richtung, aus der die Töne kamen, aber alle schauten unbeweglich zu ihm her. Eine zweite Stimme, eine dritte, das Summen wurde deutlicher und lauter. Kaims Pferd wurde unruhig und scharrte mit den Hufen.
»Ruhe«, brüllte der Herr von Ilaniz.
Mehr Stimmen kamen dazu, die Töne schwollen an. Es klang wie eine riesige Orgel. Immer größer wurde der Trupp. Wortlos schlossen sich die Neuankömmlinge an, und mit jedem neuen Arbeiter, der seinen Platz in der Kolonne einnahm, schien das Summen lauter zu werden.
Kaim winkte seine Aufseher heran. »Schafft mir Ruhe«, rief er. Die Männer gingen auf die Menge der Arbeiter zu, die dichter zusammenrückten. Schulter an Schulter standen sie wie eine lebendige Mauer. Da kam Chlenos. Er war in Lumpen gekleidet, ärmlicher noch als all die anderen. Aber er ging hoch aufgerichtet, und seine Lippen umspielte ein leises Lächeln. Als er nahe an Kaim vorbeikam, beugte er sein Haupt. Dann erhob er es wieder stolz und ging auf den Arbeitertrupp zu. Eine Lücke öffnete sich, und Chlenos nahm seinen Platz ein, wie ein Stein in einer Mauer.
Die Aufseher standen unschlüssig vor diesem Bollwerk aus menschlichen Leibern.
»Was ist?«, brüllte Kaim außer sich vor Zorn, »werdet ihr wohl Ruhe schaffen?«
Peitschenhiebe prasselten auf die Männer und Frauen nieder. Aber sie summten unbeirrt weiter. Der Chor wurde noch stärker.
»Ihr züchtigt die Falschen«, schrie Kaim, und jeder wusste, was er meinte. Einer der Aufseher trat direkt auf Chlenos zu, hob die Peitsche, und da erhob Chlenos seine Stimme. Sie klang hell und klar:
»Freunde, fasst euch an den Händen, bald wird alles Elend enden, dann endet auch die Schinderei, dann ist der Bauer wieder frei!«
Die Peitsche sauste nieder und hinterließ eine blutige Spur auf der rechten Wange des jungen Mannes. Er rührte sich nicht.
»Gott hat den Menschen frei erschaffen«, sang er mit machtvoller Stimme, und die anderen alle fielen ein: »Wir graben.« Die Peitsche klatschte auf Chlenos nieder. »Menschenwerk sind Macht und Waffen.«
Und wieder folgte grollend der große Chor: »Wir graben.«
Der Aufseher holte aus.
»Doch wird die Macht nicht ewig dauern.«
Der nächste Hieb traf Chlenos wieder ins Gesicht.
»Bald sind wir wieder freie Bauern!«, die letzten Zeilen hatten alle gesungen. Dann brach Chlenos in die Knie.
»Fesseln!«, schrie Kaim in die Stille hinein, »bringt ihn in den Turm.«
Er wendete sein Pferd, hielt aber nochmals an und blickte finster auf die Menge der angetretenen Arbeiter: »Der Lohn wird für zehn Tage gestrichen.«
Die Menschen nahmen es stumm hin. Alle Augen waren auf Chlenos gerichtet, den zwei Männer davon schleppten. Niemand wagte ein Wort zu sagen. Schweigend trottete die Kolonne auf den Berg zu. Doch nach einigen hundert Metern begann ein großer breitschultriger Mann leise zu singen: »Freunde, fasst euch an den Händen«, zögernd fielen die anderen ein, und als sie das enge Tor zu den finsteren Stollen erreichten, klang ihr Lied schon wieder machtvoll über die Ebene hinüber zur Burg.
Kaim hörte es und auch Chlenos, der langsam wieder zu sich kam; Kaims Miene verfinsterte sich, Chlenos begann trotz seiner Schmerzen zu lächeln.
Das alles ereignete sich etwa vier Wochen vor Terrloffs Ankunft. Riamis hatte vergeblich auf die heimlichen Besuche ihres jüngeren Bruders gewartet. Eines Nachts erschien statt seiner der alte Hogarth und erzählte ihr in allen Einzelheiten, was geschehen war.
So konnte Riamis ihrem Bruder Terrloff die Geschichte von Chlenos’ Verhaftung erzählen, als er am Tag seiner Ankunft bei ihr erschien. Sie konnte ihm auch berichten, dass die Mutter krank und gebrechlich daniederlag und dass nur ihre Hoffnung, Terrloff noch einmal zu sehen, sie am Leben erhielt. Adaline pflegte sie und war sehr unglücklich, denn sie liebte Rulant, den getreuesten Gefolgsmann Kaims von Herzen und konnte dieser Liebe nicht nachgeben, weil es ihr Stolz nicht zuließ. – Terrloff saß auf dem Rand des Ziehbrunnens und schaute ernst vor sich hin. Nach einer Weile sagte er: »Chlenos ist der Klügere, der Mutigere und der Stärkere von uns.«
»Wie kannst du das sagen?«
»Wer sich dem Gegner ohne Waffen stellt und auch bereit ist zu leiden, ist stärker als all die Haudegen, die immer nur den Kampf suchen«, sagte er langsam. »Außerdem hatte er die bessere Idee.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Riamis.
»Er wollte Kaim nicht töten, er wollte ihm nehmen, was er am meisten liebt: die Macht. Wenn wir das Volk dazu bringen, ihn abzuschütteln wie ein Pferd einen lästigen Reiter, wird er tiefer getroffen sein, als wenn ich ihn im Kampfe töten würde.«
Riamis sah ihren Bruder voller Zweifel an: »Du willst das Volk von Ilaniz aufhetzen und vor deinen Wagen spannen?«
»Ich werde ihm die Freiheit geben.«
»Dir geht es nur um deine Rache«, sagte Riamis heftig, »Chlenos geht es wirklich um die Freiheit der Menschen von Ilaniz.«
Terrloff sprang missmutig auf sein Pferd und ritt wortlos davon, hinauf in die Berge.