Janor in Kaims Burg

Die Nacht war kalt, der Mond nur eine schmale Sichel. Wenn sich Wolken vor ihn schoben, konnte man die Hand nicht vor den Augen sehen.

Janor zog sich langsam und unendlich behutsam an der Burgmauer hoch, die aus mächtigen Quadern zusammengesetzt war und den Händen nur wenig Griffmöglichkeiten ließ. Als Janor sein schmales Gesicht über den oberen Rand der Mauer schob, sah er direkt auf den Helm eines Soldaten, der ihm den Rücken zuwandte und in den weitläufigen Burghof hinabsah.

Langsam zog sich Janor höher, bis er die Knie auf die Brüstung stützen konnte. Jetzt sah er, dass der Soldat auf einem schmalen Steg stand, der an der Innenseite der Mauer entlanglief. Im Abstand von etwa zwanzig Schritten standen weitere Bewacher. Janor zählte insgesamt zwölf, wobei die Männer immer abwechselnd den Innenhof und das Gelände jenseits der Mauer beobachten mussten.

Janor legte sich flach auf die Mauer und zog ein schmales spitzes Messer aus seinem Gürtel. Der Soldat drehte sich langsam, um einen Blick ins Land hinauszuwerfen. Janor schob sich noch näher heran. Sein Gesicht war nur eine Handbreit vom Kopf des Wächters entfernt. Der Soldat prallte zurück, als er plötzlich direkt in die scharfen Augen Janors blickte und vor sich das Messer aufblitzen sah.

»Keinen Ton!«, zischte Janor, »oder ich schneide dir die Kehle durch.«

Der Soldat begann zu zittern.

»Was willst du von mir?«, flüsterte er mit heiserer Stimme, als er sich wieder ein wenig gefangen hatte.

»Dein Wams und deinen Helm.«

»Du bist verrückt.«

Janor schob sein Messer vor, so dass die Spitze jetzt eine kleine Einbuchtung in den Hals des Wächters drückte. Eine große Wolke schob sich in diesem Augenblick vor den schmalen Mond. Tiefe Dunkelheit lag plötzlich über dem Burghof.

»Jetzt«, zischte Janor und schwang sich auf den Steg hinab, dabei verrutschte ihm sein Messer ein wenig und ritzte den Hals des Soldaten.

Die Angst trieb den Wächter an. Noch ehe die Wolke auch nur zur Hälfte über das Mondlicht gezogen war, saß der Helm auf dem Kopf Janors und auch das Wams hatte den Besitzer gewechselt.

»Armbrust und Schwert«, flüsterte Janor.

Der Soldat gehorchte zitternd. Janor hängte sich die Armbrust um, das Schwert, eine leichte und schmale Waffe, behielt er in der Hand.

Von der Burg her kamen Männer mit Pechfackeln und steckten sie nacheinander in Halterungen an der Innenseite der Mauer. Langsam breitete sich ein dämmriges Licht aus, das mit jeder Fackel zunahm.

Janor war mit wenigen Schritten an einer Treppe, die zum Hof hinabführte.

»Wo willst du hin, Kamerad«, rief ihm einer der Soldaten zu. Janor brummte etwas und hastete die Stiegen hinab. »Alarm, Überfall«, brüllte der Wächter, den Janor überrumpelt hatte, als der Eindringling gerade mit einem mächtigen Satz auf dem Boden des Burghofs landete.

Männer mit Fackeln hasteten die Treppen zu dem Mauerumgang hinauf. Zurufe kreuzten sich. Die Verwirrung war vollkommen.

Janor rannte auf eine schmale Holztür zu, durch die soeben die Männer mit den Fackeln herausgekommen waren. Er erreichte den Eingang und drehte sich noch einmal um. Er musste lachen. Auf dem Mauerumgang stand der Soldat im Hemd und ohne Helm, rang die Hände gen Himmel und wurde von fünf mächtig aufflammenden Fackeln beleuchtet. Alle Wächter starrten auf dieses ungewöhnliche Schauspiel. Janor glitt unbemerkt durch die Tür und zog sie leise hinter sich zu. Er war in einem engen gewölbten Gang, der von Pechfackeln notdürftig ausgeleuchtet wurde. Mit schnellen Bewegungen riss er die Fackeln von den Wänden, warf sie auf den steinernen Fußboden und trat die Flammen aus. Dann hastete er durch den Gang auf einen fahlen Lichtschimmer zu.

Er kam zu einer Art Vorplatz, von dem aus drei verschieden breite Treppen nach oben führten. Janor zögerte einen Moment, dann stürmte er die schmälste der drei Stiegen hinauf. Oben erreichte er einen breiten Korridor, von dem nach einigen Schritten ein schmaler Gang nach links abzweigte. Dem folgte Janor.

Jetzt hallten Schreie durch die Burg. Janor konnte nur einzelne Wörter verstehen.

»Fremder«, hörte er und »Eindringling«, dann den Namen »Terrloff«.

Der schmale Gang führte auf eine Galerie mit einem geschnitzten Holzgeländer hinaus. Janor verlangsamte seinen Schritt und presste seinen Körper an die Wand.

Geschmeidig näherte er sich dem Zutritt zur Galerie. Plötzlich blieb er stehen. Er vernahm Kaims mächtige Stimme, als ob er ihm genau gegenüberstünde.

»Habe ich Soldaten oder Schlafmützen auf Wache? Was soll dieses Geschrei. Niemand kann diese Mauern überwinden. Seit dieser Terrloff da ist, haltet ihr wohl alles für möglich.«

Janor hörte die Faust des Herrn von Ilaniz auf die Tischplatte schlagen. Der hagere Mann in dem schmalen Gang nahm die Armbrust von der Schulter, legte sorgfältig einen Pfeil in die Rinne und spannte die Sehne. Dann trat er leise auf die Galerie hinaus. Unter ihm war ein saalartiger Raum. Kaim stand breitbeinig am Kopfende des riesigen Eichentisches, links von ihm mit dem Rücken zu Janor ein Mann. Es war Yato, der Reiterführer.

Kaim starrte auf den Tisch. Er sagte: »Oh, was bin ich geschlagen mit diesen…« Er brach ab. Während er gesprochen hatte, hatte er langsam den mächtigen Kopf gehoben. Nun starrte er direkt Janor ins Gesicht, der ihm gegenüber auf der Galerie stand, kaum merklich lächelte und mit der Armbrust direkt auf ihn zielte.

»Wie meinst du?«, fragte der alte Yato beflissen.

Janor sagte mit messerscharfer Stimme: »Kaim du bist des Todes, wenn du jetzt eine falsche Bewegung machst.« Yato fuhr herum. Janor ging ein paar Schritte seitwärts, um nicht mehr den offenen Gang im Rücken zu haben. »Wer bist du?«, fragte Kaim.

»Janor, Terrloffs Gefährte.«

»Wie bist du hereingekommen?«

»Über die Mauer, diewie du, Kaim, sagstniemand überwinden kann.«

»Was willst du?«

»Terrloff oder dein Leben!«, Janor hatte es mit leidenschaftsloser Stimme gesagt.

»Du meinst es ernst, das fühle ich«, sagte Kaim und reckte sich, »aber ich weiche dir nicht, und ich gebe dir nicht nach. Wenn du mich jetzt niederschießt, war es ein Meuchelmord, kein Kampf.«

Janor lächelte böse. »Ich rede mit dir nicht über Ehre.« Kaim stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und beugte sich vor. Janor erkannte die Absicht des Gegners zu spät.

Mit einem gewaltigen Ruck hob Kaim unvermittelt den mächtigen Eichentisch an. Janor ließ die Sehne los, der Pfeil schoss durch den Raum und bohrte sich in das Holz der Tischplatte, die Kaim nun als Schild über sich stemmte.

Unter dem Tisch hervor erscholl ein gewaltiges Lachen. Janor erkannte sofort, dass er hier nichts mehr erreichen konnte, Yato war bereits zur Tür geeilt.

Jeder Augenblick, den er zögerte, konnte Janor das Leben kosten. Er hörte Rumoren in der Burg. Mit schnellen Schritten lief er die Galerie entlang, bis er einen weiten Gang fand, der sich wie ein dunkler Schacht vor ihm öffnete. Er stürmte hinein und lief mit langen Schritten, bis er einen größeren Raum erreichte.

Einen Augenblick lang blieb er stehen, atmete tief und sah sich um. Links von ihm waren zwei breite Maueröffnungen, die sich nach oben in einem spitzen Bogen verjüngten. Er schwang sich auf die Brüstung der Fenster und sah hinaus, aber hier war es so dunkel, dass er nichts erkennen konnte.

Eine Sturmbö fuhr ihm ins Gesicht, dass die Augen tränten. Jetzt hörte er im Innern der Burg Schritte. Seine Finger verkrallten sich in einer Mauerritze, langsam ließ er seinen Körper hinausgleiten. Tastend suchten seine Füße nach einem Halt. Schließlich gelang es ihm mit den Zehenspitzen einen waghalsigen Stand zu finden. Während er sich mit der linken Hand weiter festklammerte, suchte die rechte nach einem weiteren Griff.

Plötzlich wurde es hell. Eine Wolke gab den Mondschein frei. Janor sah unter sich und hätte beinahe losgelassen. An dieser Stelle gingen die Burgmauern direkt in einen senkrecht abfallenden Fels über. Das fahle Mondlicht ließ Janor nur ahnen, wie tief dieser Felssockel hinabreichte. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn und rann ihm in die Augen. Die rechte Hand fand einen lockeren Stein, Janor rüttelte daran, bis er sich löste und in die Dunkelheit hinabstürzte. Der Aufschlag war nicht zu hören.

Das Loch in der Mauer gab ihm einen guten Halt. Er zog das Bein an und schob seinen Fuß in die kleine Maueröffnung. Janor atmete schwer, aber nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte, klärten sich seine Gedanken schnell. Während der Mond für kurze Zeit die Burg in sein fahles Licht getaucht hatte, war Janor klar geworden, dass er auf diesem Weg nicht aus der Burg herauskam. Er musste zurück durch die Fensteröffnung. Stimmen und Schritte näherten sich. Der hagere Mann presste sich so eng es ging an die Mauer. Er hörte einen Mann rufen: »Hier ist er nicht, aber er kann doch nicht spurlos verschwunden sein.«

Ein anderer antwortete: »Er müsste gerade hier hinausgestiegen sein.«

»Dann liegt er zweihundert Klafter tief in der Felsschlucht«, sagte der erste.

Langsam entfernten sich die Stimmen und Schritte. Janors Muskeln zitterten von der Anstrengung. Langsam zog er sich wieder zum Fenstersims hinauf. Als seine Augen vorsichtig über den Mauerrand schauten, lag der kahle Korridor leer vor ihm. Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung schob sich Janor vollends über die Brüstung.

Eine Weile blieb er an die Mauer gelehnt stehen. Als sein Atem wieder völlig gleichmäßig ging und die Muskeln nicht mehr schmerzten, schlich Janor zu einer schmalen Treppe, die nur schwach von einer Fackel beleuchtet wurde. Sie führte hinab zu einer Rundbogentür, die nur angelehnt war. Als er die Tür erreichte, hörte er im Korridor über sich die schweren Tritte einer Wachmannschaft. Schnell zwängte sich Janor durch den schmalen Spalt und zog die Tür hinter sich zu. Er befand sich in einem fensterlosen Raum, der nicht mehr als drei Schritte breit und vier Schritte lang war. Am Boden sah er eine Falltür aus groben Dielen. An ihrer Längsseite war ein eiserner Ring angebracht. Janor hörte polternde Schritte auf der Treppe hinter der Rundbogentür. Er hatte keine Wahl. Schnell fasste er nach dem eisernen Ring und wuchtete die Falltür auf. Er schob seine rechte Schulter unter das zentnerschwere Brett und stieg mit der schweren Last der Tür langsam schmale Stufen hinunter. Sorgfältig ließ er die Falltür in ihre Umrandung zurückgleiten. Nur ein leises Knarren verriet, dass sie sich wieder geschlossen hatte. Janor zählte die Stufen. Als er bei fünfzig war, sah er plötzlich unter sich ein mildes, rötliches Licht. Als er siebzig zählte, konnte er die zurückweichenden Wände erkennen, nach der hundertsten Stufe erreichten seine Füße felsigen Grund.

Er war in einer großen Halle, die in angenehm warmes Licht getaucht wurde. Die rötlich-gelben Strahlen, die von den Kienspänen an den Wänden kamen, brachen sich tausend- und abertausendfach in silbernen Flächen und Rundungen. Erst als Janor genauer hinsah, erkannte er Spiegel, Gefäße, Pokale aus Silber, Schmuckteile aller Art auf langgezogenen Tischen, deren Platten mit blauem und rotem Samt bezogen waren. Da gab es das herrlichste Geschmeide in wundervoll harmonischen Formen: Armreife, Ohrgehänge, Ringe, kurze Halsbänder und lange Ketten.

Geblendet blieb der hagere Mann stehen. Er konnte sich kaum sattsehen.

»Es ist verboten, hier einzudringen, wer es dennoch versucht, zahlt es mit seinem Leben!«, sagte eine Stimme. Janor sah sich um, aber er konnte den Mann, der gesprochen hatte, nicht sehen.

»Wer bist du?«, fragte die Stimme.

»Und wer bist du?«, fragte Janor.

Da trat hinter einem mannshohen Spiegel ein Mann hervor, der zwei Köpfe größer war als Janor. Er trug einen silbernen Panzer, in der linken Hand einen Helm, in der rechten ein schmales Schwert, das so geschmeidig aussah wie ein Degen und dennoch die Stärke eines Schlachtschwertes zu haben schien.

»Ich heiße Titus und trage die Verantwortung für die Silberschmiede Kaims.«

»Ich bin Janor, der Gefährte Terrloffs. Wir sind gekommen, um von eurem Herrn Rechenschaft zu verlangen.«

»Ich wüsste nicht, dass Kaim jemandem Rechenschaft schulden würde.«

»Es gibt vielleicht vieles, was du nicht weißt, und das es dennoch gibt«, sagte Janor.

Titus hob langsam sein schmales Schwert. »Es gibt keinen Grund dafür, dass wir uns weiter unterhalten«, sagte er und blitzschnell schoss seine Rechte nach vorne. Janor konnte mit letzter Kraft ausweichen. Sein geübtes Auge hatte ihm die Stoßrichtung des Schwertes verraten und mit einer Geschmeidigkeit, die er in hunderten von Kämpfen erworben hatte, glitt er zur Seite. Im gleichen Augenblick zog auch er das Schwert, das er dem Wächter auf der Mauer abgenommen hatte.

»Verdammt«, entfuhr es dem Angreifer. Er wirbelte herum. Doch auch Janor war bereits wieder in Position gegangen. Er erwartete den neuen Angriff.

Titus täuschte einen Stich in Kopfhöhe an und führte dann sein Schwert steil nach unten. Janors Klinge fing den Angriff auf, Funken stoben, als Metall auf Metall prallte und es gab ein hässliches Geräusch. Für einen Moment hielten sie die Klingen gegeneinander gedrückt, Titus war stark, es gelang ihm, Janors Schwert und damit den Arm des hageren Mannes langsam immer tiefer zu pressen. Jeden Moment konnte die Klinge abrutschen, dann musste Janor nach vorn stürzen. Titus hätte dann leichtes Spiel gehabt.

Janor erkannte die Gefahr und er erinnerte sich an ein Wort Terrloffs: »Wenn du schwächer bist, musst du deine Schwäche zum eigenen Vorteil nutzen.«

Er schob seinen Fuß etwas zurück, dann ließ er plötzlich sein Schwert nach unten weggleiten, gleichzeitig stürzte er sich selbst mit mächtigem Schwung nach vorne, zog die rechte Schulter ein, landete auf dem Boden, nutzte den Schwung und rollte so schnell über die Schulter, dass ernoch im Schwungauf die Füße geriet und emporschnellen konnte. Titus hatte sofort zugestoßen, aber seine Klinge rammte mit der ganzen Wucht gegen den felsigen Boden und brach in der Mitte entzwei.

Plötzlich wirkte der große und starke Mann ungelenk und hilflos. Er keuchte. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn.

»Du bist mit dem Teufel im Bunde«, sagte er außer Atem. Janor lächelte. »Fällt dir nichts Besseres ein, wenn du verlierst?«

Mit einem wilden Schrei stürzte sich Titus auf seinen Gegner. Es war ein unüberlegter Angriff. Janor machte einen geschmeidigen Satz zur Seite, schob schnell seinen rechten Fuß vor und ließ Titus darüber stolpern. Mit gewaltigem Krachen donnerte der mächtige Kämpfer in einen der riesigen Silberspiegel, der sich an der Stelle, wo Titus’ Kopf aufprallte, tief einbeulte.

»Du bist wohl etwas aus der Übung«, sagte Janor lächelnd. Titus schüttelte den Kopf wie ein Hund, der einen Schwarm Hummeln verscheuchen will.

»Du hast recht«, sagte Titus schließlich, »seit vielen Jahren hatte ich es nur mit Neugierigen zu tun, mit harmlosen Bedienten an Kaims Hof, die das Verbot missachteten und hier herabstiegen.«

»Was ist mit ihnen geschehen?«, fragte Janor.

»Sie wurden entweder getötet, oder sie arbeiten hier und werden niemals mehr das Tageslicht sehen, so lautet der Befehl Kaims.«

Janor setzte Titus die Spitze seines Schwertes an den Hals. »Ich sollte dich töten.«

»Es wäre dein Recht«, sagte der Besiegte ernst, »aber wenn du mir das Leben schenkst, werde ich es dir danken.«

»So, wie denn wohl?«

»Ich kenne diese Burg und alle ihre Geheimnisse.«

Janor sah den mächtigen Kerl, der am Boden kauerte, lange an. »Ich traue dir nicht, aber ich werd’s dennoch mit dir versuchen. Steh auf!«

Mühsam rappelte sich Titus auf. Als er wieder stand, band ihm Janor die Hände auf den Rücken. Dann sagte er: »Wer hat all diese vielen wunderschönen Dinge geschmiedet?«

»Arivar der Jüngere und seine sieben Gesellen.«

»Und wo arbeiten diese Männer?«

»Folge mir«, sagte Titus.