Es war Mittag. Die Sonne stand senkrecht über der Burg Ilaniz. Coral hockte schweißgebadet in einer Ecke des Burghofs hinter einem mächtigen Stapel Holz. Er war am Morgen zu den Männern gegangen, die dort die Scheite stapelten, die Stämme zersägten und die mächtigen Holzstücke mit den Äxten spalteten. Es waren keine Soldaten und sie hatten ihn deshalb misstrauisch gemustert.
»Geh weiter, Dicker«, hatte einer gesagt.
Aber Coral hatte nur gelacht und mit zugefasst. Das war den Holzarbeitern noch nie passiert, dass ein Soldat sich die Hände schmutzig machte. Es war auch das erste Mal, dass sie mit einem der Bewaffneten ihre Späße machen konnten, ohne dass der sich ärgerte oder die Waffe zog. Coral lachte laut mit, gab mit derben Späßen zurück, was er abbekam und freundete sich so mit den Männern an. Um die Mittagsstunde erklang eine Glocke vom Turm. Sofort ließen alle Arbeiter ihre Geräte sinken und trotteten auf den Teil der Burg zu, in dem die Bediensteten Kaims untergebracht waren.
Coral sagte: »Ich leg mich in den Schatten«, und trollte sich zu einer ausladenden Kastanie, um sich müde ins schüttere Gras sinken zu lassen.
Die Gänsemagd trieb ihre Tiere an ihm vorbei.
»Wo ist denn dein Freund?«, fragte sie.
»Der gefällt dir wohl?«, sagte Coral lachend.
»Ach wo!«, sagte sie schnippisch.
»Wann bekommen denn die Gefangenen ihr Essen?«
»Es muss gleich so weit sein«, sagte Marthe und trieb ihre Gänse weiter.
Flink war Coral auf seinen Beinen und schneller als man es dem kugelrunden Kerl zugetraut hätte, rannte er zu dem Holzstoß. Er hatte alles vorbereitet. Trockenes Stroh lag in einem Versteck. Mit schnellen Handgriffen schichtete er dünne Scheite übereinander, dann dickeres Holz darauf. Schließlich schob er Stroh in die Lücken. Dann blieb er vor dem Stoß hocken und schaute unverwandt zum Westflügel der Burg.
Dort lehnte Cyril an einem Mauervorsprung und sah so aus, als ob er sich langweilte. Jetzt hob er die linke Hand und schob den Helm aus der Stirn. Das war ihr Zeichen.
Cyril sah, wie sich eine breite Tür in der Burgmauer öffnete. Vier bewaffnete Soldaten traten heraus, dann zwei weitere, die zwischen sich eine Stange trugen, an der jener Essenkübel hing, der gleich zu den Gefangenen hinabgelassen werden sollte. Vier Bewaffnete machten den Schluss.
Der kleine Zug ging durch den sonnendurchglühten Hof auf eine runde Mauer zu, die aussah wie ein trockengelegter Brunnen und die mit mächtigen Bohlenbrettern abgedeckt war. Vier Riegel sicherten die Abdeckung.
Der Zug hielt. Der Essenbottich wurde auf dem Boden abgestellt. Je drei Soldaten stellten sich rechts und links von der Öffnung auf. Zwei weitere öffneten die Riegel. Dann wurden die beiden Flügel der Abdeckung aufgestellt. Zwei Soldaten schoben die Stange über das Loch, einer von ihnen nahm ein Seil von der Schulter und befestigte ein Ende am Henkel des Essengefäßes, dann schlang er den Strick zweimal um die Stange und fasste fest zu. Zwei Soldaten hoben den Kessel über die Öffnung.
In diesem Augenblick nahm Cyril seinen Helm vom Kopf. Coral stieß eine Fackel, die er zuvor entzündet hatte, in den Holzhaufen. Sofort loderten die Flammen prasselnd auf. Das Holz war trocken und brannte lichterloh.
»Feuer!«, brüllte Cyril.
Er stülpte den Helm wieder über den Kopf und rannte auf die Soldaten am Kerkereinstieg zu. Dabei brüllte er wie verrückt: »Feuer, Feuer, Feuer!!!«
Schon wurde sein Ruf aufgenommen, weitergegeben, hallte durch die Burghöfe. Fenster und Türen wurden aufgestoßen. Cyril erreichte den Trupp am Kerkereinstieg. Dabei rempelte er den Mann, der das Seil in der Hand hielt, so ungeschickt an, dass dem der Strick aus den Händen glitt. Schnell fasste Cyril zu und brüllte: »Kaim schickt mich. Befehl!«
Alle sahen ihn an. »Befehl von Kaim«, wiederholte Cyril, »ihr sollt sofort löschen.«
Einige der Soldaten rannten schon los.
»Halt!«, brüllte einer, der offensichtlich ihr Anführer war, »zuerst wird die Klappe wieder geschlossen!«
»Das kann ich machen!«, sagte Cyril.
»Wieso du, du kannst genauso gut löschen!«, schrie der Anführer und sah den Jungen misstrauisch an.
Doch bis auf drei rannten die Soldaten bereits über den Hof. Die Flammen züngelten an der Wand hinauf, schon brannten einige Holzfensterkreuze. Cyril band das Seil sorgfältig fest. Dann sah er den Anführer an und maß die beiden anderen mit den Augen. Dann blickte er sich um. Coral kam quer über den Burghof auf die Gruppe zu gerannt. Das gab Cyril Mut.
»Natürlich kann ich löschen«, zischte er den Anführer an, täuschte vor, als ob er sich abwenden würde und wirbelte dann blitzschnell herum.
»Was ist denn mit dir …«, weiter kam der Soldat nicht, denn Cyril rammte ihm seinen behelmten Kopf in den Magen, dass er gequält aufschrie und nach hinten stolperte. Er taumelte gegen den Rand zu dem Einstieg, kämpfte um sein Gleichgewicht, verlor es und stürzte mit einem markerschütternden Schrei, der zunehmend hohler klang, in die Tiefe.
Die beiden anderen Soldaten zogen ihre Schwerter. Der größere von beiden holte aus und – wunderte sich, denn seine Hand blieb in der Bewegung stecken. Coral hatte ihn gerade erreicht und die weit ausholende Hand erfasst. Mit einem kraftvollen Griff zog er den großen Soldaten nach hinten. Ein Schmerzensschrei verriet, dass er ihm das Schultergelenk ausgerenkt hatte. Der Soldat stürzte rücklings zu Boden.
Im gleichen Augenblick schlug der andere von Kaims Männern zu, aber Cyril tänzelte leichtfüßig zur Seite. Coral rammte dem Angreifer seine Faust in den Nacken. Mit einem Ausruf des Erstaunens stürzte der Soldat nach vorne und genau in die Faust von Cyril, der mit all seiner Kraft zuschlug.
»Schnell«, rief Coral, »wir müssen uns beeilen.«
Cyril ließ das Seil mit dem Essengefäß in den dunklen Schacht hinunter und rief: »Terrloff, halte dich fest.« Es dauerte nicht lange, da verspürte der Junge ein Gewicht an dem Seil. Ächzend zogen er und Coral. Immer wieder blickten sie sich um, aber in der Verwirrung, die auf dem Burghof herrschte, wurde niemand misstrauisch. Manche glaubten wohl, die beiden Soldaten seien damit beschäftigt, den Essentrog wieder heraufzuziehen.
»Gleich haben wir’s«, stöhnte Coral.
Wer schildert ihr Erstaunen, als Janors Kopf über dem Rand des Einstiegs erschien. Um ein Haar hätten sie ihn vor lauter Überraschung wieder hinabfallen lassen. Geschmeidig schob sich der hagere Janor über den Rand. Er griff sofort nach Cyrils Schwert und sagte: »Ich decke euch den Rücken, Terrloff ist noch da unten.«
Das Seil hatte schon wieder den Kerkerboden erreicht. Wieder zogen die beiden Männer eine schwere Last herauf. Diesmal erschien Terrloff. Er sah erschreckend aus. Obwohl er nur einen Tag, eine Nacht und noch einen halben Tag in dem Verlies gewesen war, hatte er blutunterlaufene Augen und ein bleiches Gesicht, das mit schwarzen Stoppeln übersät war.
»Wir holen herauf, soviel wir schaffen«, befahl er.
»Wir müssen fliehen«, sagte Janor.
»Lass es uns versuchen!«, sagte Terrloff und griff nach dem Schwert von Coral.
Mit der linken Hand halfen Terrloff und Janor ihren Freunden. Gleichzeitig beobachteten sie die beiden Soldaten am Boden und das Geschehen im Hof mit der Waffe in der rechten Hand, um sich jederzeit verteidigen zu können.
Das Häuflein armseliger Gestalten wurde immer größer. Es mochten zwölf sein, als plötzlich Kaims Stimme alles andere übertönte. »Wer war der Brandstifter«, brüllte er. Noch war er nicht zu sehen, aber Terrloff sagte nun doch: »Rasch – weg hier!«
»Aber wohin?«, fragte einer der Befreiten.
»Folgt mir«, sagte Janor.
Es war ein seltsames Bild, Janor und Cyril führten den Zug an. Ihnen folgten zwölf zerlumpte Gestalten, die ihre Hände über die Augen hielten, weil sie das Licht so sehr blendete, dass sie kaum etwas sehen konnten. Sie konnten nur mit Mühe einen Fuß vor den anderen setzen. Die Hoffnung allein, vielleicht doch die Freiheit zu gewinnen, trieb sie an. Am Ende des Zugs gingen Coral und Terrloff mit gezückten Schwertern. – Janor hatte sich den Plan der Burghöfe genau eingeprägt. Er wusste, dass es vom Marstall aus, wo Kaims Pferde untergebracht waren, einen schmalen Pfad über eine Zugbrücke gab, der zu den Weiden führte.
Ungesehen gelangte der Zug in die Ställe. Dort stellten sich ihnen zum ersten Mal Männer Kaims entgegen – drei verschlafene Pferdeknechte, die ihre Mittagsruhe auf dem Stroh gehalten und noch nicht einmal das Geschrei vom Hof her vernommen hatten. Vielleicht hatten sie es aber auch ganz bewusst überhört, um ihre Ruhe nicht unterbrechen zu müssen.
Cyril und Janor überwältigten sie allein, während Terrloff und Coral einige der Pferde losbanden und sattelten. »Für diese Jammergestalten brauchen wir einen Wagen«, sagte Coral.
»Nein, wer reiten kann, soll ein Pferd nehmen«, befahl Terrloff. Bis auf drei Männer kletterten sie mehr oder weniger mühselig auf eines der Reittiere. Die drei letzten zogen Cyril, Janor und Terrloff zu sich herauf.
»Du machst das Tor auf und lässt die Brücke herunter!«, befahl Terrloff einem der Reitknechte.
»Das darf ich nicht!«
»Dann stirbst du«, sagte Janor kalt und holte mit dem Schwert aus.
Der Mann jammerte verzweifelt: »Kaim wird mich töten lassen, da sterbe ich lieber gleich.«
»Dann komm mit mir, ich mache dich zu meinem ersten Reiterführer«, sagte Terrloff.
Der Soldat war wieselflink auf den Beinen und schwang sich auf eines der Pferde.
»Kann ich auch …?«, fragte ein anderer zögernd.
»Aber ja, jeder Mann ist für uns wichtig!«, Terrloff lachte. Schließlich schlossen sich alle drei Soldaten an.
»Draußen sind aber Wachen«, sagte einer.
»Wie viele?«, wollte Terrloff wissen.
»Vier!«
»Die überreiten wir«, sagte Janor.
»Das wird nicht gehen«, wandte einer der Reitknechte ein, »das Tor ist nur von außen zu öffnen, die Brücke ist oben und nur die Wachen können sie herunterlassen.« »Alles verloren«, sagte einer der Gefangenen mit weinerlicher Stimme.
»Unsinn«, herrschte Janor ihn an und glitt wieder von seinem Pferd. Er zog sich an einer der schmalen, schießschartenartigen Maueröffnungen hinauf und quälte seinen Körper durch den engen Spalt.
Cyril machte es ihm nach. Sie steckten fast gleichzeitig ihre Köpfe rechts und links über dem Tor zur Zugbrücke aus den Löchern. Unter ihnen sahen sie vier Soldaten, die ihre Ohren an die Tür gepresst hatten, um zu hören, was drin vor sich ging und kampfbereit die Waffen in den Händen hielten. Cyril schob sich noch einmal zurück, um Terrloff Zeichen zu geben. Dann krochen sie hinaus, hockten sich in die schmalen Öffnungen, verständigten sich mit einem Blick und stürzten sich mit furchtbarem Gebrüll auf die lauschenden Soldaten hinunter.
Janor hatte seinen schmalen Dolch gezogen, Cyril kämpfte mit den Fäusten. Zwei der Männer waren von dem Aufprall zu Boden gestürzt, ein dritter in den Burggraben hinab gerutscht, der vierte stellte sich, und er war ein guter Fechter. Janor kämpfte mit ihm, während Cyril die schweren Balken zur Seite schob, die vor das Tor gelegt waren und in mächtigen Eisenschienen ruhten. Noch bevor er den letzten Balken ganz zur Seite geschoben hatte, löste er die Kette, die links von dem Tor über zwei lange Eisenstangen gewickelt war. Rasselnd fiel die Brücke herunter und krachte auf der gegenüberliegenden Seite des Burggrabens auf.
Jetzt schob Cyril den letzten Balken zur Seite und riss das Tor auf. Als erster preschte Terrloff heraus. Er hatte eine der zerlumpten Gestalten vor seinem Sattel, an der linken Hand führte er ein zweites Pferd. Cyril sprang auf und setzte sich an die Spitze. Die Hufe dröhnten über die hölzerne Brücke.
Der Soldat, der mit Janor kämpfte, sprang erschrocken zur Seite. Janor schwang sich auf ein Pferd, das Coral am Zügel hielt.
Seit Cyril das erste Mal laut »Feuer!«, gerufen hatte, war nur wenig Zeit vergangen, aber der Ausbruch war inzwischen bemerkt worden. Fast im gleichen Augenblick, da Terrloff mit den Seinen über die Zugbrücke galoppierte, rasten Berittene durch das Haupttor der Burg, an ihrer Spitze Yato, Kaims bester Reiterführer.
Kaim stand mit wutverzerrtem Gesicht auf einer Zinne seiner Burg. Jetzt kam Terrloffs Haufen unter ihm in Sicht, und nur wenige hundert Meter entfernt, setzten seine eigenen Truppen dazu an, die Burgmauer zu umrunden, um auf den Weg zu kommen, den Terrloff nahm. Aber nicht nur Kaim beobachtete das Geschehen, auch einige Bäuerinnen auf den Feldern, die mit ihren schweren, von Ochsengespannen gezogenen Ackerwagen hinausgefahren waren, um die Rüben zu ernten, sahen, was geschah.
Als ob sie sich für diesen Fall verabredet hätten, stiegen sie auf ihre Wagen und fuhren langsam auf den Weg zu, der zur Unterstadt führte, und auf dem Terrloff mit den Seinen daher geprescht kam.
Wie die wilde Jagd raste die erste Gruppe an den Frauen vorbei. Erstaunt sahen die Bäuerinnen die zerlumpten Gestalten und manch eine von ihnen mag einen ihrer Männer oder Söhne erkannt haben.
Als Yato heran geritten kam, fuhr der erste Bauernwagen gerade auf die einzige schmale Brücke, die über den Bach führte. An dieser Stelle war das Ufer zu steil, um hinab zureiten.
»Verschwinde mit deinem Wagen!«, brüllte Yato mit hochrotem Gesicht.
Da hielt die Frau ihre Ochsen an, drehte sich langsam um und schrie zurück: »Was wünscht Ihr, Herr?«
»Du sollst mit deinem verdammten Bauernkarren von der Brücke verschwinden!«
»Ja doch, ja doch«, rief sie, »ich will doch weiß Gott auch gar nichts anderes tun, glaubt ihr denn, ich will auf dieser Brücke stehen bleiben?«
Die Pferde tänzelten aufgeregt hin und her. Einer der Reiter sprang ab und auf den Bauernwagen, er riss der Frau die Zügel und die Peitsche aus der Hand und trieb die Ochsen an. Genau in diesem Augenblick erreichte von der anderen Seite eine Frau mit ihrem Ochsenkarren den Steg.
»Zurück, zurück«, brüllte Yato.
Die Frau hielt ihr Gespann an und stieg ab. Sie fasste den Leitochsen am Gehörn und drückte ihn zurück. Langsam fuhr der Wagen eine enge Kurve und blieb dann halb auf dem Weg, halb im angrenzenden Acker stehen.
»Das ist nicht so einfach!«, sagte die Frau, »aber unsere Männer sind ja im Silberstollen, da muss man als Bäuerin sehen, wie man alleine fertig wird.«
Unendlich langsam brachte sie ihr Fuhrwerk von der Straße. Der Soldat trieb nun das andere Ochsengespann über die Brücke. Und endlich konnte auch Yato mit seinem Tross hinüber sprengen. Er bedachte die Frauen mit bösen Flüchen und Drohungen, aber die machten nur tiefe Knickse und hoben die Schürzen vor ihre Gesichter, damit man nicht sehen konnte, wie sie die Soldaten auslachten.
Terrloff war längst zwischen den Häusern der Stadt verschwunden. Dort, wo sich enge verwinkelte Gassen ineinander verschlangen, wo niedrige Häuser und Hütten, dichte Gärten und Hecken und schweigsame Menschen Schutz boten.
Kaim stand auf seiner Burg. Sein Gesicht wechselte ständig die Farbe vor Zorn. Schließlich schüttelte er seine Faust: »Du entkommst mir nicht, Terrloff!«, schrie er, dass es weit über den Burghügel hallte.