Cyril lag auf dem Rücken. Durch die Löcher im schindelgedeckten Dach sah er die Sterne am nachtblauen Himmel. Er konnte nicht schlafen.
Neben ihm auf dem Strohlager schnarchte Coral. Auf der anderen Seite sah Cyril den schmalen Schatten von Janors Körper. Auch er atmete gleichmäßig im Schlaf. Unter der Tür stand Terrloff. Er hatte die Hände auf dem Rücken gefaltet und wippte gelegentlich auf den Zehenspitzen. Cyril erhob sich leise. Das Stroh raschelte ein wenig. Sofort hörte Coral auf zu schnarchen und Janor hob den Kopf. Cyril ging zu Terrloff hinüber und sagte flüsternd: »Wenn du willst, löse ich dich ab. Ich kann sowieso nicht schlafen.«
»Ich finde jetzt auch keine Ruhe«, sagte Terrloff, »komm, lass uns nach draußen gehen.«
Sie verließen leise die Hütte. Im Freien fauchte ihnen ein kalter Wind entgegen. Die einsame und halb verfallene Strohhütte stand hoch an einem Berg, dort wo die Pflanzenwelt schon dürftiger wurde und ins karstige Felsgestein des Ilaniz-Gebirges überging.
Terrloff und seine Männer waren auf Schleichwegen hierhergelangt. Nach dem waghalsigen Ausbruch aus Kaims Gefängnis hatte Janor vorgeschlagen, jeder solle sich selbst einen Weg suchen. Drei Nächte später wollten sie sich an jener Stelle treffen, an der sie nach ihrer Überfahrt gelandet waren. Die Männer waren in den engen Gassen versickert wie Wasser im trockenen Sand. Bauern und Bergarbeiter hatten sie aufgenommen und versteckt.
Seltsamerweise schien es schon einen Tag nach der Flucht so, als ob Kaim nicht weiter suchen lassen würde. Man sah nur selten Soldaten in den Straßen und Gassen. So konnten Terrloff und seine Freunde ohne Schwierigkeiten in der dritten Nacht nach der Flucht durch das Gebirge zu der vereinbarten Stelle gelangen. Von den zwölf Gefangenen, die mit Terrloff und Janor geflohen waren, meldeten sich nur drei: Der alte Grauhaarige, der sich Holder nannte; dann Zelon, ein junger Mann, der breitschultrig und kräftig wirkte, obwohl er wie alle anderen fast bis zum Skelett abgemagert war. Als letzter Tacco, der Pfeifer, ein Musiker, der früher in Ilaniz zum Tanz aufgespielt hatte und für sein loses Mundwerk bekannt war.
Sie hatten vereinbart, dass die drei Männer aus Ilaniz ihren eigenen Weg suchen sollten, Terrloff, Coral, Janor und Cyril wollten sich ohne fremde Hilfe eine Bleibe suchen. Drei Nächte später sollte dieselbe Stelle an der Küste wieder der Treffpunkt sein.
»Warum kannst du nicht schlafen?«, fragte Terrloff.
»Wenn ich das wüsste, ich bin unruhig und weiß nicht warum«, sagte Cyril.
Terrloff nahm eine Handvoll kleiner Steinchen auf und ließ sie nacheinander auf den Boden zurückfallen.
»Kaim führt etwas im Schilde«, sagte er, »es gefällt mir nicht, dass er uns offensichtlich nicht weiter verfolgen lässt.«
»Das gefällt dir nicht?«, Cyril sah den älteren Freund überrascht an.
»Dass Kaim plötzlich andere Befehle gegeben hat, zeigt mir, dass er glaubt, er könne mich auf andere Weise bekommen.«
»Das verstehe ich nicht.«
Plötzlich sah Terrloff dem Jungen direkt ins Gesicht und fasste ihn an beiden Schultern. »Traust du es dir zu, dich in eines der Dörfer hinabzuschleichen und dich umzuhören? Du müsstest aber sehr vorsichtig sein und dürftest keinerlei Aufsehen erregen.«
»Ich gehe sofort los«, sagte Cyril begeistert.
»Du musst klug sein, komme lieber unverrichteter Dinge zurück, als dich gefangen nehmen zu lassen.«
»Ich passe schon auf mich auf.«
»Das will ich hoffen.«
Schon kurze Zeit später war Cyril auf seinem Weg ins Tal. Leichtfüßig sprang er von Fels zu Fels. Die Sterne und der Mond leuchteten das karstige Gebirge gut aus. Die scharfen Augen des Jungen hatten sich schon bald an das Dämmerlicht gewöhnt. Er kam schnell voran. Nur selten hielt er inne, um sichernd Ausschau zu halten oder sein Ohr auf den Boden zu legen. Ihm war, als ob er in dieser Nacht der einzige Mensch wäre auf Ilaniz.
Das nächste Dorf lag in einem schmalen Flusstal. Es waren nicht mehr als zehn oder zwölf Häuser. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Cyril die ersten Gärten erreichte, aber er konnte über den Dächern schon die ersten Rauchkräusel sehen; durch die Fenster erkannte er das Flackern der Herdfeuer, von denen der Rauch kam. Die Bauern und Bergarbeiter auf Ilaniz mussten früh von ihren Lagern aufstehen, denn die meisten von ihnen arbeiteten nicht nur für Kaim in den Silberstollen, oder auf der Burg, sie mussten auch, um leben zu können, ihr eigenes Korn anbauen. Wer eine Kuh oder auch nur eine Ziege sein Eigen nannte, galt als reich.
Cyril trug die Kleider eines armen Bauernjungen. Er ging zu einem Brunnentrog, der vor einem flachen Haus stand und den eine Quelle sprudelnd füllte. Er trank in gierigen Zügen.
»Wer bist du?«
Cyril fuhr herum.
Unter der Tür der Bauernkate stand ein kleiner, dicker Mann. Er hatte einen kahlen Schädel und eine große runde Nase. Cyril griff verstohlen nach seinem Kurzschwert, das er unter dem groben Bauernkittel trug. »Was immer du denkst, wer ich sei – du irrst dich«, sagte er listig.
»Ich denke nichts, ich will es von dir wissen, Grünschnabel«, fuhr ihn der Mann an und kam einen Schritt aus dem Haus. Hinter ihm tauchte eine hagere Frau auf, die gut und gerne zwei Köpfe größer war und ein langes weißes Hemd trug.
»Jag ihn davon, Mann!«, befahl sie.
»Jag ihn davon, Mann«, äffte Cyril sie nach, »na, was ist, Bauer, so jag mich doch davon.«
Das dürre Weib schob den kugelrunden Mann vor sich her und keifte: »Auf was wartest du noch?«
»Vielleicht darauf«, sagte Cyril und zog sein Kurzschwert. Die Frau spitzte den Mund und sagte: »Oh!«, weiter nichts, nur »Oh!«, aber man konnte mehr Erstaunen als Angst heraushören aus diesem »Oh!«.
»Nun mal ruhig«, sagte der dicke Mann mit zitternder Stimme, »wir suchen keinen Streit.«
Cyril wog das kurze, gedrungene Schwert in der Hand. »Ich bin in friedlicher Absicht gekommen und habe hier nur einen Schluck Wasser getrunken, aber ihr tut gleich, als ob ich ein Soldat Kaims oder ein Mann Terrloffs wäre.«
Als Cyril den Namen Kaims erwähnt hatte, war der Mann unwillkürlich zusammengezuckt. Jetzt lachte der Junge und steckte das Schwert wieder ein. »Vor Kaim scheint ihr mehr Angst zu haben als vor Terrloff.«
»Na ja«, sagte der Mann und seine Stimme klang wieder etwas ruhiger, »Kaim ist mächtig und niemand will seinen Zorn auf sich laden.«
»Und Terrloff?»
»Terrloff, wer ist schon Terrloff? Kaim hat ihn in der Hand.«
»Das stimmt nicht, wenn ich richtig unterrichtet bin«, sagte Cyril, »Terrloff ist entkommen.«
»Na ja, das schon«, gab der Mann zu, »aber Kaim mit seinem Faustpfand …«
»Faustpfand? Was meinst du denn damit?«
»Hast du denn die Ausrufer Kaims nicht gehört?«
»Nein.«
Der dicke Mann sah Cyril misstrauisch an. »Jeder hat sie gehört.«
»Ich aber nicht. Ich bin seit drei Tagen und drei Nächten in den Bergen auf der Jagd.«
»Na ja«, der Mann kratzte seinen kahlen Schädel, »also die Ausrufer haben verkündet, Chlenos werde hingerichtet, wenn sich Terrloff nicht ergebe und unterwerfe. Von heute an gerechnet …«, der Bauer zählte die Tage mühselig an seinen dicken Fingern ab, ». . . also von heute an gerechnet in acht Tagen ist es soweit. Meldet sich dieser Terrloff nicht, dann ziehen sie seinen Bruder am Galgen hoch.«
Cyril versuchte gleichgültig dreinzusehen. »Na und, was geht’s mich an?«
»Was geht’s mich an, was geht’s mich an?«, die hagere Frau fuhr auf Cyril los wie eine wild gewordene Gans. »Kaim will diesen jungen Mann töten, den mutigsten, den besten und den schönsten. Einfach töten und du sagst ›Was geht’s mich an?‹ Schämen solltest du dich, du hergelaufener Strolch.«
Cyril grinste. »Nichts für ungut«, sagte er, »mich interessieren diese Geschichten nun einmal nicht besonders.«
»Willst du ein Stück Brot?«, fragte der Bauer plötzlich freundlich.
»Nein, ich danke euch«, sagte Cyril und schlenderte davon. Dabei pfiff er leise vor sich hin.
»Ein seltsamer Junge«, sagte der Bauer, aber seine Frau schniefte nur geringschätzig durch die Nase und ging ins Haus zurück.
Das Dorf, in dem Cyril war, lag nur wenige Meilen von der Burg entfernt. Unschlüssig stand der Junge herum und spielte mit einem Grashalm dabei summte er leise das Lied der Silberminenarbeiter vor sich hin.
»Ich möchte auch so dichten können«, dachte er, »die Melodie dazu würde ich schon finden.« Es fiel ihm in der Tat leicht, seiner einfachen Flöte die schönsten Tonfolgen zu entlocken. »Aber man braucht natürlich etwas, worüber man dichten kann«, sagte er leise zu sich. Da fiel ihm Marthe ein, das Mädchen, das im Burggarten von Ilaniz die Gänse hütete. Cyril ging langsam aus dem Dorf hinaus über eine Wiese bis zu einem Waldrand, dort hockte er sich am Fuß einer mächtigen Zypresse nieder und lehnte sich gegen den Stamm. Die Sonne ging auf, sie schickte ihre ersten Strahlen über den schmalen Rücken des Gebirges. Im Dorf erschienen die ersten Menschen auf der Straße. Es war ein schönes und friedliches Bild.
»An einem schönen Sommertag«, begann Cyril leise, »an einem schönen Sommertag, wenn morgens der Tau in der Sonne vergeht hab’ ich gemerkt, wie es um mich steht, hab’ ich gemerkt, wie gern ich dich mag.«
Cyril lachte ein bisschen verlegen. Er hatte ein Gedicht gemacht und es gefiel ihm sogar selbst, und es kam ihm gleich eine Melodie dazu in den Sinn und so wurde aus seinem kleinen Gedicht sein erstes kleines Lied. Niemand, nicht einmal Cyril selbst, konnte ahnen, dass er, der Junge von gerade sechzehn Jahren, später ein großer Dichter werden würde. In diesem Augenblick, am Rande eines kleinen Dorfes auf Ilaniz hatte es begonnen, mit diesem Lied aus vier Zeilen. Aber Cyril ging es gar nicht so sehr um das Gedicht. Was er bei seiner Verseschmiederei begriff, war, dass er Marthe so gerne mochte. Plötzlich war ihm klar, dass er sie sehen wollte, dass er Sehnsucht nach ihr hatte.
Er sprang mit einem Satz auf beide Füße, klopfte die Baumrinde von seinem Wams und die trockenen Grashalme vom Hosenboden und ging mit langen Schritten in Richtung auf die Burg Ilaniz davon.
Er war noch keine Meile gegangen, als er hinter sich einen Wagen rumpeln hörte. Er sah sich um und erkannte den dicken Mann mit der Glatze und der Knollennase, der auf seinem schmalen Leiterwagen saß und seinen Zugochsen mit der Peitsche zur Eile antrieb.
»Steig auf!«, rief der Bauer fröhlich.
»So lustig auf einmal?«, fragte Cyril und schwang sich auf den Wagen.
»Ja, immer wenn ich meiner Alten entronnen bin.« Der dicke Mann zwinkerte Cyril zu und kramte unter seinem Wams einen kleinen Ledersack hervor. »Da ist Wein drin, nimm einen Schluck.«
Cyril sah den Bauern an und musste daran denken, wie er und Coral die Soldaten mit ihrem Schlaftrunk unschädlich gemacht hatten. »Trink du«, sagte er deshalb, »mir ist’s noch zu früh.«
»Zu früh am Tag oder zu früh im Leben, bist noch reichlich jung, nicht wahr.« Der Bauer lachte und trank in kräftigen Zügen.
»Und du bist alt genug, um vom vielen roten Wein schon eine rote Nase zu haben«, gab Cyril keck zurück.
»Ho, ho! Hör sich einer den Grünschnabel an.« Der Bauer lachte, dass es von den Wänden des Gebirgstals zurückschallte, durch das sie ihr Weg nun führte.
Nach einer Weile fragte der dicke Mann: »Weißt du, wer Rulant ist?«
»Ist das nicht Kaims Vertrauter?«
»Das war er einmal. Er hat mit dem Fürsten gebrochen und ist spurlos verschwunden. Kaim lässt ihn überall suchen.«
Cyril sah gespannt in das runde Gesicht des Bauern. »Aber den finden sie noch weniger als Terrloff«, sagte der Mann.
»Vielleicht ist er längst übers Meer davon.«
Der Bauer schüttelte mit dem Kopf. »So leicht ist das nicht, vor vier Jahren ist Namur verschwunden, der Waffenschmied. Er hatte Kaim den Kampf angesagt. Kaim hat die Küste bewachen lassen wie ein Juwel, aber Namur tauchte nirgends am Meer auf, aber auch nirgends auf der Insel.«
»Er wird tot sein«, sagte Cyril.
»Der und tot, pah! Der lebt und irgendwann einmal taucht er wieder auf, der große, starke Namur.«
»Erzähl mir von ihm«, bat der Junge.
Als die Mauern der Burg auftauchten, kannte Cyril die Geschichte des Waffenschmieds in allen Einzelheiten. »Und wo, glaubst du, ist er jetzt?«, fragte er schließlich. Der Bauer hob die Schultern. »Da musst du den Bader im Schloss fragen.«
»Wen?«
»Den Alten in der Krankenstube, der hat das zweite Gesicht, er kann zaubern und die Sterne deuten. Die Leute sagen, er sei mit dem Teufel im Bunde.«
Cyril erinnerte sich, wie er mit Coral in die Krankenstube auf der Burg gekommen war. Es schauderte ihn.
»Was hast du denn?«, fragte der Bauer, aber Cyril ging nicht darauf ein, sondern bedankte sich nur höflich bei seinem dicken Reisegefährten, der seinen Ochsenkarren nun in Richtung Unterstadt lenkte, während Cyril langsam auf die Burg zuging.
Es war kein Problem, in den Burghof hineinzukommen. Cyril schloss sich einer Gruppe von Männern an, die mit Säcken beladen durch das Haupttor gingen. Dann lehnte er sich an die Burgmauer, kaute auf einem Grashalm herum und sah scheinbar teilnahmslos auf das emsige Treiben. Schließlich löste er sich von den grauen Steinquadern der Mauer und schlenderte über einen kiesbestreuten Weg und ein paar Stufen hinunter zu einem der vielen Seitenhöfe. Dort war ein kleiner Tümpel, der von einer zertrampelten Wiese umgeben war. Überall lugte der lehmige Untergrund durch das dünne Gras. An dem Tümpel stand eine Weide, deren lange Zweige bis zum Boden hinab reichten. Aus dem schmutzigen Wasser wuchsen ein paar Seerosen heraus. Dazwischen schwammen Enten und Gänse. Am Ufer unter der Weide, von den Zweigen fast verdeckt, spielte Marthe, die Gänsemagd mit ihren nackten Zehen und sang leise ein Lied vor sich hin. Außer ihr war zu dieser Tageszeit niemand in diesem Teil des Burggeländes.
Cyril ging langsam zu ihr hinüber. Als er direkt hinter ihr stand, legte er ihr seine Hände über die Augen und sagte mit verstellter Stimme: »Rate, wer ich bin.«
Marthe war ein wenig erschrocken. Sie sagte: »Blöder Soldat, lass den Unsinn.«
»Bin kein Soldat«, sagte Cyril und versuchte mit einem ganz tiefen Bass zu sprechen.
»Kein Soldat?«, fragte Marthe überrascht. Sie hob ihre schmalen Hände und tastete seine Finger ab. »Dann bist du der Strauchdieb Pomernack.«
»Bin ich nicht.«
»Dann kenn ich dich nicht.«
»Du hast mich nur einmal gesehen, aber du kennst mich bestimmt.«
»Bist du …?«, das Mädchen brach ab.
»Nun?«
»Bist du etwa … na, wie war gleich der Name … ein Junge, der von Riamis sprach? Warte – ich hab’s gleich, nur noch einen Augenblick. Bist du Cyril?«
»Erraten.« Cyril zog seine Hände von Marthes Gesicht.
Sie wandte sich um und sah ihn mit strahlenden Augen an.
»Jetzt darf ich mir etwas wünschen.«
»So, warum?«
»Nun, weil ich richtig geraten habe.«
»Dann wünsch dir was!«
»Einen Kuss!«
Cyril wurde rot. »Einen was?«
»Bist du schwerhörig? Ich wünsche mir einen Kuss.«
»Aber …«, Cyril unterbrach sich. Er wollte nicht zugeben, dass er noch nie einem Mädchen einen Kuss gegeben hatte. Schnell beugte er sich zu ihr hinab und berührte für einen Augenblick ihre linke Wange. »So!«, sagte er zufrieden.
»Das war nichts«, protestierte Marthe, »bei einem Kuss müssen sich die Lippen berühren.« Sie stand auf, wischte sich die Hände an der Schürze ab, fasste Cyrils Kopf hinter den Ohren und zog ihn zu sich herab. Dann drückte sie ihre Lippen auf den Mund des Jungen, bis beiden die Luft ausging. »Puh«, machte sie und ließ los.
Cyril wischte sich mit dem Handrücken über den Mund:
»Das hat mir gar nicht so schlecht gefallen.« Dann setzte er sich ins Gras.
»Was machst du hier, wirst du denn nicht gesucht?«, fragte Marthe, »du gehörst doch zu Terrloff, nicht?«
»Ja, schon«, sagte Cyril zögernd.
»Aber dann ist das doch gefährlich hier für dich.«
»Mich erkennt doch niemand wieder.«
»Da wäre ich nicht so sicher.«
Cyril antwortete nicht. Er ließ sich nach hinten ins Gras fallen und starrte durch die Weidenäste in den blitzblanken blauen Himmel hinauf.
»Warum bist du hier?«, fragte Marthe wieder.
»Ich wollte dich sehen.«
»Du schwindelst.«
»Nein, nein«, Cyril war wieder ein wenig verlegen, »es ist wegen dir, aber nicht nur deshalb. Ich muss für Terrloff etwas auskundschaften. Außerdem will ich zu dem Bader in die Krankenstube.«
»Bist du krank?«, Marthes Stimme klang plötzlich sehr besorgt.
»Nein, aber man sagt, er habe das zweite Gesicht. Ich will ihn etwas fragen.«
»Lieber nicht«, sagte Marthe hastig, »er könnte dich verzaubern.«
»Im Ernst?«
»Ja, er kann sehr gemein sein.«
Cyril sah das Mädchen zweifelnd an. »Ich glaube nicht an so etwas.«
»Aber du glaubst, dass er dir Antworten auf deine Fragen geben kann.«
»Versuchen kann ich es ja einmal.« Damit erhob sich Cyril wieder von der Erde. »Zeigst du mir, wie ich ihn finde, ohne zu vielen Menschen zu begegnen?«
»Ich darf die Gänse nicht allein lassen.«
»Nur einen Augenblick.«
»Na gut, komm!«, Marthe nahm Cyril bei der Hand und zog ihn hinter sich her. Vom Gänsehof ging es durch einen dunklen schmalen Gang in den Nordflügel der Burg hinein. Es war kalt und feucht in diesem Teil des weitläufigen Gemäuers.
Marthe erklärte: »Wenn du bis zum Ende des Ganges gehst, findest du zwei Treppen; eine führt hinab, eine hinauf. Du musst hinuntersteigen. Im unteren Gang sind links und rechts sieben Türen. Die letzte, die siebente links, ist es. Du kommst auf diesem Weg von hinten ins Krankenquartier.«
Cyril strich Marthe übers Haar und sagte: »Danke.«
»Sei bitte vorsichtig und reize den Alten nicht, er ist wirklich gefährlich, wenn er in Wut gerät.«
»Ja, ja«, sagte Cyril ungeduldig, »wenn ich zurückkomme, suche ich dich.«
Marthe nickte nur schweigend, drehte sich dann rasch um und eilte auf ihren nackten Sohlen schnell durch den dunklen Gang davon.
Plötzlich fühlte sich Cyril allein. Nichts bewegte sich in dem düsteren Gemäuer. Vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß, bis er die Treppe erreichte. Es waren glitschige ausgetretene Steinstufen. Cyril zählte bis einundzwanzig, dann war er unten angekommen. Eine einzelne Fackel erleuchtete dort den Gang. Die ersten vier Türen konnte der Junge erkennen. Langsam tastete er sich vorwärts. Für einen Augenblick flammte das Feuer der Fackel heller auf, als ob es von einem Luftzug angefacht würde. In diesem Moment erkannte Cyril auch die siebente Tür auf der linken Seite. Sie unterschied sich von den anderen. In Kopfhöhe war ein weißer Totenschädel auf das dunkle Bohlenholz genagelt. Cyril musste sich selbst Mut zusprechen. Mit unsicheren Schritten näherte er sich der letzten Tür. Gerade als er sie erreichte, wurde es wieder für einen Augenblick heller in dem unteren Gang. Der Totenkopf schien ihn anzugrinsen. Cyril versuchte zurückzugrinsen, aber es wurde nur eine Grimasse daraus. Er sagte leise: »Na, du alter Pirat.« Dann griff er nach der Türklinke und drückte sie nieder. Er hatte ein lautes Knarren oder Quietschen erwartet, aber die Tür ging geräuschlos.
Cyril betrat einen Raum, der durch viele Kienspäne hell erleuchtet war. Auf der Strohschütte an den Wänden lag niemand.
Vorsichtig durchschritt Cyril den Raum. Ein schmaler Durchlass führte in einen kleineren Raum, der ebenfalls hell erleuchtet war. An der Wand stand ein Regal voller Flaschen und Dosen. Davor ein gewaltiger Stuhl, der offensichtlich aus einem mächtigen Baumstamm grob herausgehauen war.
Hier saß der alte Mann mit geschlossenen Augen. Er sagte: »Komm herein, neugieriger junger Kerl.«
Zögernd betrat Cyril den Raum.
Der Alte hielt die Augen geschlossen. »Was suchst du hier?«, fragte er.
»Ich habe Euch gesucht, Bader.«
»Nenn mich nicht Bader«, die Stimme des Alten überschlug sich fast vor Zorn.
»Ich bitte um Nachsicht«, sagte Cyril betreten, »ich weiß leider nicht, wie man Euch richtig anredet.«
Von einem Augenblick zum andern verwandelte sich die böse Grimasse des Alten in ein freundliches Lächeln. Zum ersten Mal öffnete er die Augen. »Nenn mich Morath. Ich bin Morath, der alte Medicus.«
»Gut, ich will es mir merken.«
Der alte Medicus sah Cyril nun prüfend an. Er hatte graue Augen, die so wirkten, als ob ein hauchfeiner Schleier darüberhinge. »Was willst du von mir?«
»Man sagt, ihr könntet Dinge sehen, die anderen verborgen sind.«
»So, sagt man das? Wer behauptet so etwas?«
»Bauern auf dem Land, die ich getroffen habe.«
»Ach Schnickschnack!«, der Alte machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann sagte er: »Du warst neulich schon hier, mit so einem dicken Kerl. Ihr habt mir einen Soldaten angeschleppt, der weiter nichts als besoffen und mit einem Kräutermischmasch eingeschläfert war.«
»Ja, das stimmt, wir mussten eine List gebrauchen, um in die Burg zu gelangen.«
»Hihihihi«, der Alte kicherte die Tonleiter hinauf. »Was willst du werden, wenn du ausgewachsen bist?«
»Darüber habe ich noch nicht viel nachgedacht.« Cyril hielt nachdenklich inne: »Dichter vielleicht«, brachte er dann leise und verlegen hervor.
»Hoho, Dichter, ich dachte schon König oder Kaiser.« Der alte Mann stemmte sich aus seinem groben Holzsessel und ging mit gebeugtem Rücken ein paar schlurfende Schritte auf und ab. »Ich könnte einen Lehrling brauchen.«
Cyril starrte Morath an. »Kann man das denn einfach so lernen?«
»Na ja, natürlich nicht einfach so«, der Alte kicherte, »aber wenn ein Junge nicht gar zu dumm und auch ein wenig willig ist … «, weiter sprach er nicht.
»Das würde ich gern lernen«, sagte Cyril mehr um den alten Morath freundlich zu stimmen, als aus Überzeugung. »Nun gut, ich behalte dich«, sagte der Medicus bestimmt. Cyril erschrak. »Verzeiht, aber es geht jetzt nicht, ich muss zurück zu … «, er brach ab.
Mit einer schnellen Bewegung fuhr die ausgemergelte Gestalt des Alten zu Cyril herum, der hagere Habichtskopf schoss auf das Gesicht des Jungen zu. »Zu wem? Hä? Zu Terrloff, was?«
»Ihr habt doch das zweite Gesicht«, sagte Cyril.
»Ich kann nur einfache Rätsel lösen und dieses war einfach.«
»Terrloff braucht mich«, sagte Cyril mit dem Mut der Verzweiflung, »und niemand kann mich daran hindern, zu ihm zurück … «, weiter kam er nicht. Ein gewaltiger Luftzug rauschte durch das Gemäuer und übertönte fast das hässliche Kichern des Alten. Dann schlugen mehrere Türen zu.
»Niemand kann mich daran hindern, dich hierzubehalten«, sagte der Alte und seine Stimme klang dabei wie das Zischen einer Schlange.
Cyril dachte fieberhaft nach. Schließlich sagte er: »Können wir uns nicht einigen? Ihr lasst mich ziehen und ich verspreche Euch wiederzukommen, sobald ich meinen Auftrag für Terrloff erledigt habe.«
»Du bist ein schlaues Bürschchen, aber ich will darauf eingehen. Wir machen einen Vertrag.«
»Einen Vertrag?«
»Ja. Ich schreibe das alles auf … kannst du lesen?«
»Natürlich kann ich lesen.«
»Gut. Ich schreibe alles auf und du unterzeichnest mit deinem eigenen Blut.«
Cyril schauderte. »Mit Blut? Habt Ihr keine Tinte?«
»Wer mit Blut schreibt, ist auf ewig gebunden.«
Morath holte eine Rolle Pergament und ein Tintenfass aus dem Regal an der Wand. Er strich das Pergament auf einem Tisch glatt. Dann zog er einen Federkiel aus dem Ärmel seines Gewandes und begann zu schreiben. Er malte wunderbare gleichmäßige Buchstaben. Am Ende stand auf dem Pergament:
Ich, Cyril, Sohn des Bauern Northa aus Cholem gelobe, als Schüler bei Morath dem Medicus die Heilkunst zu erlernen.
»Woher wisst Ihr, wie ich heiße und wo ich zu Hause bin?«, fragte Cyril, »ich habe niemanden auf Ilaniz meinen Namen verraten.«
Morath machte eine wegwerfende Geste und sagte nur: »Unterschreib.«
Cyril wurde es immer unheimlicher. Er konnte sich dem alten Mann nicht entziehen. Wie unter einem mächtigen Zwang ließ er alles mit sich geschehen.
Morath holte ein schmales blinkendes Messerchen aus einem hölzernen Kästchen und zog damit einen hauchfeinen Schnitt in Cyrils Unterarm, dicht über dem Handgelenk. Wie an einer Perlenschnur traten Blutstropfen hervor. Der alte Mann zog einen neuen Federkiel hervor und stipste die Spitze in einen der hellroten Tropfen auf Cyrils Arm. Dann drückte er dem Jungen das Schreibwerkzeug in die Hand.
Cyril unterschrieb.
Der alte Morath stieß hörbar den Atem durch die Nase aus und ließ sich in seinen Sessel zurückfallen.
Nach einer Weile sagte er: »Nun sprich: Warum bist du wirklich zu mir gekommen?«
»Aus Neugierde«, sagte Cyril wahrheitsgemäß.
Morath lächelte: »Und was willst du von mir wissen?«
»Was wird mit Chlenos geschehen?«
»Kaim will ihn hängen, wenn Terrloff sich nicht unterwirft.«
»Das habe ich gehört, aber seht Ihr seine Zukunft?«
Mit dem alten dürren Mann ging eine Veränderung vor sich. Er hob seine Arme zur Decke, die Handflächen nach oben. Sein Kopf senkte sich langsam nach hinten in den Nacken. Die grauen strähnigen Haare hingen jetzt weit über seine Schulterblätter hinab. Die Augen waren geschlossen. Seine Lippen zitterten ganz leicht. Jetzt öffnete er sie. »Chlenos wird ein großes Leben leben.«
Cyril starrte den Alten an. Er hätte zu gerne gefragt, was das ist, ein großes Leben, was Morath darunter verstand? Aber er traute sich nicht, danach zu fragen. Statt dessen sagte er: »Wo ist Namur, der Waffenschmied?«
Für einen Augenblick verharrte der Alte in seiner Erstarrung, dann bewegten sich seine Lippen wieder.
»Namur ist an einer Stätte ohne Wiederkehr.«
»Tot, also?«
»Nein, er lebt, er lebt im Tal ohne Wiederkehr. Und dort – oh!«, Morath brach ab und begann zu zittern. »Nicht allein«, murmelte er dann, »nicht allein, nicht allein«, er brabbelte immer unverständlicher, dann sank er in sich zusammen, erschöpft und müde.
Cyril starrte eine Weile auf die zusammengesunkene Gestalt hinab, dann wandte er sich ab und schlich sich auf Zehenspitzen in Richtung Tür. Plötzlich bellte die Stimme des Alten in seinem Rücken: »Du bist mir verpflichtet, wirst Medicus, kommst mir nicht aus.«
Der Junge sah sich um, aber Morath saß unverändert, wie schlafend in seinem grob behauenen Holzsessel. Schnell verließ Cyril den Raum. Er ging auf dem gleichen Weg zurück, auf dem er gekommen war. Doch als er den Durchgang zum Gänsehof durchschritt, blieb er vor Überraschung wie angewurzelt stehen. Als er Marthe verlassen hatte, war es früher Vormittag gewesen. Jetzt standen die Sterne am Himmel.
Die Burgtore waren verriegelt und von Soldaten bewacht, an den Mauern brannten Pechfackeln.
Cyril schlich sich zu der Weide und legte sich dicht am Stamm nieder. Noch im Einschlafen schüttelte er immer wieder den Kopf. Er hatte doch nur ein paar Sätze mit dem alten Morath gewechselt – und darüber sollte ein ganzer Tag vergangen sein. Cyril schlief ein. Er träumte: Er selbst saß an einem Tisch und schrieb Zeichen auf Pergament, die er nicht verstand. Vor ihm stand eine Sanduhr. Der Sand rieselte gleichmäßig und unaufhaltsam vom oberen ins untere Gefäß, aber er wurde oben nicht weniger und unten nicht mehr. Der alte Morath beugte sich zu ihm herab und murmelte: »Ja, so ist das mit der Zeit – du meinst, du hast sie und da ist sie schon verflossen, du willst sie schneller machen und da bleibt sie stehen.«
Der Traum dauerte noch viel länger, aber als Cyril am Morgen aufwachte und sich verschlafen die Augen rieb, konnte er sich nur noch an diesen Teil erinnern. Vorsichtig sah er sich um, als er endlich wach genug war, um zu begreifen, wo er sich befand. Niemand war im Gänsehof. Auf allen vieren kroch Cyril zum Rand des Teiches und warf sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht – es war zwar nicht ganz sauber, aber es erfrischte ihn.
Das nächste, was er feststellte war, dass er einen Riesenhunger hatte. Er musste an Coral denken, der jetzt in dem sicheren Bergversteck die schönsten Speisen brutzelte.
Bei dem Gedanken an seine Gefährten erschrak Cyril. Sie würden sich bestimmt Sorgen machen. Aber noch war nicht genug Leben im Burghof, um sich unbeachtet unter die Menschen mischen zu können. Ungeduldig starrte der Junge zur Burgzinne hinauf, die bereits von der Sonne beschienen war.
Da hörte er das Schnattern der Gänse. Und schon kurze Zeit später kam die erste Gans über die drei Steinstufen herab gewatschelt, gefolgt von ihren Artgenossen.
Marthe sah ihn sofort und kam um den Teich herum auf ihn zugerannt.
»Ich hab’ mir schon Sorgen gemacht«, flüsterte sie aufgeregt als sie ihn erreicht hatte.
»Mir passiert doch nichts«, prahlte Cyril.
»Hat dir der alte Zauberer wirklich nichts getan?«
Cyril erinnerte sich an den Vertrag, den er unterzeichnet hatte. Er starrte betreten auf seine Zehenspitzen und sagte lahm: »Was soll der mir schon tun.«
»Er ist sehr gefährlich.«
»Zu mir war er freundlich.«
»Das ist ein Glück.« Marthe sah Cyril aus ihren strahlenden blauen Augen an und schien tatsächlich glücklich zu sein darüber.
»Ich habe Hunger«, sagte Cyril.
»Da nimm!«, Marthe streckte ihm ein Brot hin.
»Und was isst du?«
»Irgendeine Gans wird schon ein Ei für mich legen.« Ohne weiter zu fragen, biss Cyril in das Brot. Es schmeckte kräftig und würzig.
»Wo warst du bloß den ganzen Tag über gestern?«, fragte das Mädchen.
Cyril kaute auf beiden Backen und zuckte wortlos mit den Schultern. Als er endlich geschluckt hatte, sagte er: »Ich muss fort, Terrloff wird mich schon vermissen.«
»Ich zeige dir einen Weg, den fast niemand kennt.« Marthe ging voraus. An einer schadhaften Stelle überstieg sie die Mauer, die den Gänsehof umgab. Sie erreichten eine grabenartige Vertiefung, der sie ein paar Meter folgten, bis sie an einen Durchlass direkt am Boden kamen. »Früher floss hier Wasser«, erklärte das Mädchen, »und wenn es zu hoch stand, konnte es hier abfließen.«
Der Durchlass war breit genug für Cyril, um mühelos durchzukriechen.
»Auf Wiedersehen«, sagte der Junge.
»Bekomme ich keinen Kuss?«
Wie tags zuvor zog Marthe resolut den Kopf Cyrils zu sich herunter und gab ihm einen langen, kräftigen Kuss. Und wie einen Tag früher wischte sich der Junge mit dem Handrücken über die Lippen. Dann glitt er wie eine Schlange durch den engen röhrenförmigen Durchlass. Er landete in einem mächtigen Schlehenbusch, der das Loch in der Mauer überwucherte. Schnell prägte er sich die Stelle ein. Dann rannte er mit langen Schritten talwärts.
»Wir haben uns große Sorgen gemacht«, sagte Terrloff zu Cyril, der staubbedeckt, verschwitzt und lehmverschmiert in dem Versteck eingetroffen war, als die Sonne bereits schon wieder unterging.
»Es hat sich aber gelohnt, dass ich so lange geblieben bin.« Cyril erzählte in allen Einzelheiten, was er erlebt und erfahren hatte. Nur den Vertrag, den ihm der alte Morath aufgezwungen hatte, ließ er aus.
Terrloff klopfte seinem jüngsten Gefährten anerkennend auf die Schulter. »Du bist wirklich ein Teufelskerl.« Cyril strahlte.
Janor fasste nachdenklich zusammen: »Also, Kaim will Chlenos als Faustpfand benützen. Schlau, sehr schlau! Namur scheint zu leben. Im Tal ohne Wiederkehr. Wie er dort hingelangt ist, wissen wir nicht, aber es muss einen Weg geben; denn wir haben Grund anzunehmen, dass auch Rulant dort ist. Er hat Kaim verlassen und das ist für den Fürsten ein schwerer Schlag.«
»Nenn ihn nicht einen Fürsten«, fuhr Terrloff wütend dazwischen.
Janor beachtete den Einwand nicht, sondern fuhr fort: »Cyril hat einen Durchlass in der Mauer gefunden, durch den wir vielleicht in die Burg eindringen können.«
»Alle außer Coral«, sagte Cyril und grinste.
Janor sagte: »Wir müssen die wenigen Kräfte sammeln, auf die wir zählen können. Das sind außer uns vieren der alte Holder, der dürre Zelon und Tacco der Pfeifer und die drei früheren Pferdeknechte Kaims. Wir müssten noch Namur, den Waffenschmied und Rulant finden.«
»Dann wären wir zwölf gegen dreihundert«, Terrloff lachte bitter. Coral legte seinen dicken Zeigefinger auf die Lippen und deutete auf Cyril, der eingeschlafen war. Wortlos entfernten sich die drei Gefährten von dem Jungen, dann unterhielten sie sich leise weiter.
Janor sagte: »Wir sind natürlich viel mehr, weil wir das Volk auf unserer Seite haben, aber um den Menschen auf Ilaniz Mut zu machen, muss noch viel geschehen.«
»Woran denkst du?«, fragte Terrloff.
Der hagere Janor ging langsam auf und ab. Weder Terrloff noch Coral störten ihn in seinen Gedanken. Schließlich sagte er: »Es scheint unmöglich, aber wir müssen es versuchen. Wir müssen Chlenos heraushauen. Wenn uns das gelingt, wird das Volk von Ilaniz so viel Vertrauen in uns haben, dass es uns auch gegen Kaim folgt.«
»Du weißt, dass das unmöglich ist«, sagte Terrloff ernst. »Es schien auch für Coral und Cyril unmöglich, uns beide zu befreien und dennoch ist es ihnen gelungen.«
»Man sollte aber das Schicksal nicht zu oft herausfordern«, sagte Coral und hob dabei seinen Zeigefinger in die Luft.
Janor grinste: »Einmal sollten wir es noch versuchen.«
»Wir haben noch sieben Tage Zeit«, sagte Terrloff. »Wenn wir Rulant finden könnten, wäre dies ein großer Vorteil, er kennt Kaim, die Burg Ilaniz und die Insel wie kein Zweiter, nicht umsonst war er bisher Kaims wichtigster Ratgeber.«
Terrloff sah den Freund nachdenklich an. »Dass er sich von Kaim getrennt hat, bedeutet noch lange nicht, dass er sich uns anschließen wird.«
»Da magst du recht haben«, gab Janor zu.
»Und wie ist es mit Namur?«, fragte Coral.
»Wir wissen zu wenig über ihn«, sagte Terrloff, »aber immerhin war er immer ein Feind von Kaim.«
»Also geht es jetzt darum, zuerst einmal Namur und Rulant zu finden«, riet Coral.
»Wenn das so leicht getan wäre, wie es sich sagt«, meinte Janor.
Terrloff sagte: »Wir müssen es versuchen.«
Die vier waren sich einig, dass Janor und Terrloff einen Weg ins Tal ohne Wiederkehr suchen sollten. Coral und Cyril sollten sich mit Holder und den anderen treffen.