Das Tal ohne Wiederkehr

Sie ritten nachts. Terrloff und Janor hatten die Hufe ihrer Pferde mit Stofffetzen umwickelt, um das Trappeln auf felsigem Untergrund zu dämpfen. Der abnehmende Mond und die Sterne spendeten ausreichend Licht. Sehr behutsam waren sie von ihrem Standort in den hohen Bergen hinab geritten. Jetzt führte sie ihr Weg meerwärts. Im leichten Trab durchquerten sie Orangenhaine und Weingärten. Dörfer und Gehöfte umgingen sie in weitem Bogen.

Immer wieder hielten die beiden Reiter an, um sich zu vergewissern, dass sie die richtige Richtung beibehielten. Terrloff genügte ein Blick zu den Sternen und zu den beiden höchsten Gipfeln des Ilaniz-Gebirges, um sich zu orientieren. Als der Morgen hereinbrach, erreichten sie den Rand eines Waldes, dem leicht anzusehen war, dass er schon lange nicht mehr gepflegt wurde. Alte knorrige Bäume streckten ihre mächtigen Häupter aus nahezu undurchdringlichem Gestrüpp. Aus zusammengestürzten und halbvermoderten Stämmen wucherten neue Bäume, die zum Teil wieder entwurzelt waren und zu neuem Nährboden für andere Pflanzen verrotteten.

Terrloff und Janor drangen ein. Sie fanden einen schmalen Reitpfad, der offensichtlich als Weg für Kaims Jäger gedacht war. Das sanfte Licht der frühen Morgendämmerung drang kaum bis in das Dickicht dieses Urwaldes. Nur das tausendstimmige Konzert der Vögel in den Baumkronen kündete vom Beginn eines sonnigen Sommertages. Die beiden Männer sprachen nicht. Auf zahllosen Ritten und Wanderschaften hatten sie die Fähigkeit entwickelt, sich gegenseitig auch dann zu verstehen, wenn sie schwiegen.

Der Weg führte leicht bergauf. Als sie etwa eine Stunde durch den Wald geritten waren, wurde das Dickicht lichter, der Untergrund härter. Auf dem felsigen Boden gediehen hier nur noch Farnstauden, Moose und dornenbewehrtes Gestrüpp, die Farben spielten von hellem bis zu dunklem, fast blauem Grün.

Ein leises Rauschen drang an die Ohren der Reiter. »Hörst du, das muss der Wasserfall sein«, sagte Terrloff. Janor nickte.

Dann ritten sie schweigend weiter. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Der Weg senkte sich und endete schließlich an einem breiten, schnell dahinfließenden Bach. Terrloff sagte: »Lass uns hier eine Rast einlegen und die Pferde tränken.«

Sie legten sich in den Schatten eines dichten Schlehenbuschs. Terrloff zupfte ein paar der blauen Beeren und zog mit den Zähnen das Fruchtfleisch ab. »Es heißt, dass von hier das Tal ohne Wiederkehr nie zu erreichen sei.«

Janor lächelte. »Wir werden sehen.«

»Wenn es stimmt, dass Namur dort unten lebt, muss er auch irgendwie hinabgestiegen sein.«

»Legenden!« Janor winkte ab.

»Nicht alle diese Geschichten sind Hirngespinste.«

»Na ja.« Janor stemmte sich auf die Ellbogen hoch, er legte seine Stirn in steile Falten. »Von Kaim erzählt man sich auf dem Festland, dass er seine Untertanen mit Netzen einfange, auf seine Burg bringe, sie foltere, und sie schließlich schone, nur damit sie ihm schmeicheln. Das ist so eine Legende.«

»Wahr daran ist immerhin, dass er geliebt werden möchte und nicht geliebt wird«, sagte Terrloff.

Janor zuckte gleichgültig mit den Schultern. Er holte ein Stück getrocknetes Fleisch aus seinem Sattelsack und biss hinein.

Als die Pferde sich erholt hatten, stiegen Terrloff und Janor wieder in die Sättel. Sie ritten nun den zum Fluss gewordenen Bach entlang, an dessen Ufer ein schmaler Reiterpfad talwärts führte. Mit jedem Schritt schien das Rauschen des Wasserfalls anzuschwellen. Bald war es so stark, dass sich die beiden Männer nur noch laut rufend verständigen konnten.

Janor hielt jäh sein Pferd an. Das Wasser brauste unter ihnen, tief eingegraben in das Felsgestein. Wenige Meter weiter brach das Gelände unvermittelt ab. Das Wasser stiebte auf und stürzte schäumend in die Tiefe. In der aufspritzenden Gischt brach sich das Sonnenlicht und funkelte in allen Farben des Regenbogens.

Lange starrten die beiden Gefährten auf das Naturschauspiel. Terrloff bewegte seinen Mund, aber die Worte wurden von dem gewaltigen Tosen der hinabstürzenden Wassermassen verschlungen. Janor stieg vom Pferd und band das Tier, das durch den Lärm und das farbige Wasserspiel unruhig geworden war, an eine niedrige Kiefer. Dann ging er vorsichtig bis zum Rand des Felsgesteins. Er legte sich auf den Bauch und schob seinen Körper so weit nach vorne, dass er über die Kante in den Abgrund hinunterschauen konnte.

Der Fels fiel senkrecht abeine glatte Fläche, wohl dreihundert Meter tief, nur unterbrochen von einigen schmalen Einbuchtungen, die wie kleine Terrassen aussahen und aus denen einzelne Büsche hervor wuchsen. Janor richtete sich wieder auf, sah zu Terrloff hinüber und schüttelte den Kopf.

Terrloff kannte Janor gut genug, um zu wissen, dass er nicht aus Angst den Abstieg ablehnte. Er nickte dem Freund zu und wendete sein Pferd nach rechts. Gefolgt von Janor drang Terrloff in das Gestrüpp ein und bahnte sich einen Weg dicht am Abgrund entlang.

Nach und nach wurde das Geräusch des Wasserfalls leiser. Terrloff war inzwischen vom Pferd gesprungen. Das Tier hinter sich führend, schlug er mit einer kurzstieligen Axt Äste und Zweige ab, die ihnen den Weg versperrten. Janor saß in Gedanken versunken auf seinem Pferd, das hinter Terrloffs Tier her trottete. »Sollten wir nicht umkehren?«, fragte er, »wir verlieren nur unnötig Zeit.«

Terrloff hielt für einen Augenblick inne, drehte sich um und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß aus seinem Gesicht. »Wir suchen bis Sonnenuntergang, und wenn wir bis dahin keinen Weg in die Schlucht finden, gebe ich es auf.«

Janor nickte. Er wusste, dass jeder Widerspruch sinnlos sein würde. Der Abend kam. Sie befanden sich tief im Unterholz. Das Bild hatte sich nicht geändert. Links von ihnen fiel die Felswand jäh zum Tal ohne Wiederkehr hin abglatt, steil und tödlich. Sie hatten abwechselnd einen Pfad in den gestrüppreichen Wald geschlagen. Jetzt lagen sie nebeneinander auf einem flachen Mooskissenmüde und entmutigt.

Lange sprachen sie nichts. Schließlich sagte Terrloff: »Bei Sonnenaufgang reiten wir zu den anderen zurück.«

Janor wurde von dem hellen Gesang eines Vogels geweckt. Der hagere Mann schlug die Augen auf und suchte den gefiederten Sänger, aber im Gewirr der Zweige war er nicht zu erkennen. Langsam stand Janor auf. Er streckte sich. Die Morgendämmerung war gerade angebrochen. Ein mildes Licht lag über dem Land. Noch hatten die Bäume und die Felsen nur eine eintönig graue Färbung. Behutsam schritt Janor in den Wald hinein. In der rechten Hand hielt er seinen Bogen. Er suchte nach jagdbarem Wild.

Terrloff war aufgewacht, als Janor sich erhoben hatte. Aber er blieb liegen. Durch all seine Glieder zog eine bleierne Müdigkeit. Janor ging auf die Jagd. Das war gut so. Terrloff wollte noch eine Weile schlafen. Nur noch verschwommen sah er den hageren Mann zwischen den niedrigen Bäumen und Büschen verschwinden.

Janor entdeckte schon bald die Spur eines Hirschs. Er folgte den Abdrücken, zu denen sich bald andere gesellten. Die Spuren zeigten ihm, dass sich hier ein ganzes Rudel zusammengefunden haben musste. Der erfahrene Jäger wusste, dass dies meistens auf eine Tränke schließen ließ. Die Spuren bildeten einen engen Pfad, dem leicht zu folgen war, und der jetzt eine leichte Biegung machte und auf den Abbruch zum Tal zuführte. Janor ging fast geräuschlos, er spürte, dass ein leichter Windhauch vom Tal herkam, seine Witterung konnte also nicht zu den Tieren getragen werden, denen er folgte.

Der schmale Wildpfad senkte sich und führte zwischen zwei schroffen Felsen hindurch. Janor blieb stehen und untersuchte die rauen Steinwände links und rechts vom Weg. Überall fand er Haare aus dem Fellkleid von Rehen und Hirschen. Nach den Felsen knickte der Weg ab. Janor ging jetzt geduckt. Als er vorsichtig um die Ecke lugte, um zu sehen, wie der Weg weitergehen würde, sah er etwas, was ihn über die Maßen überraschte. Der Weg führte direkt auf eine Felsengrotte zu, deren Eingang fast zugewuchert war. Dort wo die Bäume und Büsche ihre Wurzeln in die Erde getrieben hatten, sickerte in kleinen Rinnsalen Wasser hervor. Der Wildpfad führte durch das Gestrüpp hindurch. Tiere waren nicht zu sehen.

Janor pirschte sich näher heran, zwängte sich durch den engen Durchlass und stand plötzlich in einer dunklen Grotte, die sich wohl zehn Meter hoch wölbte und deren Grund mit einem kristallklaren See bedeckt war. Am Wasser standen zwei Hirsche, ein Reh und ein Rehbock und tranken. Janor legte leise einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens. Im gleichen Augenblick hob einer der Hirsche, ein mächtiger Kerl, seinen Kopf und witterte in die Luft. Dann stob er davon, aber nicht in Richtung auf den Ausgang, in dem Janor mit straff gespannter Bogensehne stand, sondern entgegengesetzt. Mit mächtigen Sätzen flog der Hirsch förmlich durch das Wasser, nahe am rechten Rand. Hier musste der See sehr seicht sein. Die anderen Tiere folgten.

Janor ließ die Sehne los. Getroffen brach das letzte Reh zusammen und sank in das flache Wasser. Die anderen Tiere verschwanden im Dunkel.

Es musste einen zweiten Ausgang geben. Janor ging schnell zu dem Reh hinüber und stieß ihm seinen kurzen Dolch in die Halsschlagader. Dann zerrte er das tote Tier hinaus vor die Grotte.

Bevor er sich aber auf den Rückweg zu seinem Gefährten machte, folgte er dem Weg, den die Tiere genommen hatten. Das Wasser reichte ihm nur bis zu den Knien. Sorgfältig tastete er vor jedem Schritt den Grund ab. Immer tiefer führte ihn der Weg in die Grotte hinein, die hier in eine Höhle überging, durch die ein weiterer Bach floss. Nach etwa hundert Schritten teilte sich der unterirdische Gang. Dort schien es Janor auch, als ob er einen Lichtschimmer entdeckt hätte. Die Helligkeit kam aus jenem Teil der Höhle, durch die der Bach floss. Ein trockener Gang führte nach links, und wenn Janor die Orientierung nicht verloren hatte, dann musste dieser Weg in Richtung auf das Tal ohne Wiederkehr führen. Zunächst aber folgte er dem unterirdischen Bach schräg rechts zurück, auf der Suche nach der Quelle des Lichts. Der Weg war jetzt mühsam, weil er steil anstieg und immer enger wurde. Janor musste im Wasser gehen, dessen Strömung zunahm. Zudem war der Untergrund glitschig. Schließlich hatte er sich so weit vorgekämpft, dass er einen engen Durchlass erkennen konnte, durch den die Tiere geflüchtet sein mussten. Er hatte eine hohe, ovale Form und ging offensichtlich nach Osten, denn die Sonne schickte ihre ersten Strahlen herein.

Janor kehrte um und ging zurück bis zu der Gabelung. Nun tastete er sich durch den anderen Gang vorwärts. Hier war es so dunkel, dass er seine Hand nicht vor den Augen sehen konnte. An manchen Stellen ragte die Decke weit herab, so dass er nur kriechend weiterkam. Die Luft war stickig. Doch Janor ließ sich nicht beirren. Der unterirdische Gang senkte sich plötzlich sehr steil, und Janor hatte mit einem Mal die Idee, dies könnte der heimliche Weg ins Tal ohne Wiederkehr sein.

Er hätte nicht sagen können, wie lange er gegangen und wie weit er vorgedrungen war, als sich der Gang plötzlich weitete und ein erster Lichtschimmer zu erkennen war. Janor ging jetzt schneller auf das zunehmende Licht zu. Rrrrrratschschdicht über seinem Kopf schoss eine Fledermaus ins Höhleninnere. Er hielt an und sah zur Decke hinauf. Dort hingen sie dicht an dicht, ein schwarzer Himmel voller Fledermäuse.

Nach einer Biegung erblickte Janor die weiße Öffnung im Dunkel des Felsen. Er hatte den Ausgang dieser Höhle erreicht. Rasch ging er darauf zu, verhielt aber bald wieder seine Schritte, denn der Höhlenausgang verdunkelte sich plötzlich. Ein riesiger Vogel schwebte mit ausgebreiteten Schwingen darauf zu und landete geschickt. Janor erkannte einen Adler, der in seinen Horst zurückkehrte. Adlerhorste liegen aber hoch über der Erde. Der Höhlenaustritt musste also irgendwo mitten in der steilen Wand des Tals liegen.

Der gewaltige Vogel erhob sich aus seinem Nest, als Janor näher kam. Sein scharf gebogener Schnabel schoss nach vorne, die Flügel waren leicht angehoben. Janor versuchte zu erkennen, ob junge Brut in dem Nest war, dann hätte er sich keinen Schritt weiter gewagt. Doch als er noch ein paar Meter dichter herangegangen war, erhob sich der Raubvogel und flog in den blauen Himmel hinaus.

Janor atmete auf und legte die letzten Schritte zurück. Neben dem Nest des Adlers blieb er stehen. Unter ihm lag das Tal ohne Wiederkehr. Es sah paradiesisch aus. Dichte Laubwälder wechselten mit dunklen Tannengefilden. Ein breiter Bach, der vom Wasserfall gespeist wurde, schlängelte sich in weichen Kurven durch das Grün der Pflanzen. Dochwas war das? Ein dünner Rauchfaden stieg nicht weit entfernt zwischen Baumkronen auf und verlor sich in der Luft. Kein Zweifeldort musste ein Mensch ein Feuer entzündet haben.

Janor blickte nach oben. Die Felswand türmte sich über ihm. Er befand sich nahezu auf halbem Weg ins Tal. Nur, wie sollte er diesen Weg fortsetzen? Er suchte bedächtig die unter ihm liegende Wand ab. Jede Ritze durchforschte er mit seinen Blicken. Darechts von ihm zog sich eine Felsspalte schräg durch den Fels talwärts. Wenn er dort hineingelangen konnte, war es möglich, den Rest des Weges auch vollends zurückzulegen. Nachdenklich setzte sich Janor am Rande der Höhle nieder und prägte sich jede Einzelheit ein. Sie würden ein Seil über dem Höhlenaustritt festmachen müssenmöglicherweise gelang es dann, zu der Felsspalte hinüber zu pendeln.

Soweit war er mit seinen Gedanken gekommen, als er plötzlich ein vertrautes Geräusch hörte, das von der Talsohle leise zu ihm herauf drang: Das Trappeln von Pferdehufen.

Überrascht sprang Janor auf beide Beine und versuchte zu erkennen, wo das Geräusch herkam. Für den Bruchteil eines Augenblicks sah er durch das Blätterdach hindurch den Leib eines Schimmels. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Hatte er geträumt, oder war dies tatsächlich ein Pferd gewesen. Mehr noch: Er glaubte, erkannt zu haben, dass das Tier aufgezäumt war; dann aber musste auch ein Reiter dazugehören.

Hastig machte sich Janor auf den Rückweg. Er kämpfte sich schwer atmend durch die unterirdischen Gänge zur oberen Grotte hinauf, schulterte das Reh, das er am frühen Morgen geschossen hatte und rannte mehr als er ging zum Lager zurück.

Terrloff begrüßte Janor mit den Worten: »Du warst sehr lange fort«, dabei sah er ihn vorwurfsvoll an.

Janor warf das Reh vor sich nieder. Die Kleider klebten ihm am Leib, er rang nach Atem.

»Nun?«, herrschte ihn Terrloff an.

Langsam zog Janor sein Hemd über den Kopf und hängte es über einen Zweig, dann nahm er sein Messer aus dem Gürtel und begann, das Tier abzuziehen und auszuweiden. »Mach Feuer«, brummte Janor ohne Terrloff anzusehen. Terrloff rührte sich nicht.

Schweigend arbeitete Janor weiter. Als er das Tier abgezogen und ausgenommen hatte, band er es an den Hinterläufen zusammen und hängte den Körper an einem kräftigen Ast auf. Wortlos schritt er in den Wald, sammelte Holz, schichtete es geschickt auf, brach dünne Zweige ab, suchte trockenes Moos und Kiefernrinde und schob das Kleinzeug in einen Spalt am Fuß des Holzstoßes. Er befeuchtete den Finger mit der Zunge und hob ihn in die Luft, um festzustellen, aus welcher Richtung der Wind kam. Dann zog er zwei Feuersteine aus der Tasche und kniete sich vor dem Holzstoß nieder. Nach mehreren Versuchen gelang es ihm, Feuer zu schlagen und die trockene Rinde zum Aufflammen zu bringen.

Als das Feuer richtig brannte, schnitt er sich ein großes Stück Fleisch ab und steckte es auf einen Holzspieß, den er über zwei kräftige Felsbrocken legte, so dass das Fleischstück halb über und halb vor den Flammen war. Schon bald zog der Duft des Bratens zu den beiden Männern hinüber, die schweigend dasaßen.

Janor aß mit Appetit. Als er satt war, wischte er sich den Mund mit dem Handrücken ab und sah zu Terrloff hinüber, der noch immer unbeweglich und mit düsterer Miene unter einer schmalen Zypresse saß.

»Kann sein, dass ich einen Weg gefunden habe«, sagte Janor ruhig. Terrloff hob den Kopf.

»Und warum sagst du das erst jetzt?«

»Ich hatte Hunger, und ich hatte keine Lust, mich mit dir zu streiten.« Dann erzählte er in allen Einzelheiten, was er entdeckt hatte. Schließlich beendete er seinen Bericht mit der Frage: »Sollen wir das Wagnis eingehen, oder willst du lieber zurückkehren?«

Terrloffs Gesicht hatte sich verändert, er hatte immer gespannter zugehört. Es war ihm anzusehen, wie aufgeregt er war.

»Natürlich wagen wir es! Wir steigen heute noch hinunter und verbringen die Nacht in der Adlerhöhle. Morgen früh versuchen wir dann hinabzusteigen. Wenn ein Pferd im Tal ist, muss es einen geheimen Zugang geben, über den wir auch hinausgelangen können.«

»Nun, ich bin nicht ganz sicher…«

Terrloff ließ Janor nicht aussprechen. »Ich kenne dich gut genug, du würdest eher weniger als mehr erzählen. Also, dein Eindruck trügt dich bestimmt nicht. Dort unten ist ein Pferd, es trägt Zaumzeug, also gibt es einen Reiter.« Jetzt hielt es Terrloff nicht mehr. Er sprang auf. »Es muss Rulant sein! Und niemand kennt die Insel besser als er. Vielleicht war ihm schon immer bekannt, wie man in das Tal gelangt, und er wird auch gewusst haben, dass Namur, der Waffenschmied, denselben Weg einst gegangen ist. Wir steigen hinab!«

»Wie du meinst. Iss etwas.« Janor deutete mit seinem Messer auf das ausgenommene Reh.

»Du nimmst es mir übel, dass…«

»Lass gut sein«, unterbrach Janor seinen Gefährten, »du solltest allerdings wissen, dass es immer gute Gründe dafür gibt, wenn ich länger ausbleibe.«

Terrloff sah zu Janor hinüber. Er wollte sich entschuldigen, aber er brachte es nicht über sich. Zweimal holte er tief Atem und wollte ansetzen, um zu sagen »Verzeih mir…«, aber er brachte kein Wort heraus. Janor stand auf und sagte: »Ich hole Wasser.« Dann ging er nachdenklich mit dem Ziegenledersack in Richtung der Grotte, während Terrloff begann, sich ein Stück Fleisch zu braten. Nachdem sich auch Terrloff sattgegessen hatte, nahmen die beiden Männer ihre Bündel auf den Rücken, darin auch ein langes Seil, das sie mitgenommen hatten, weil sie mit einem möglichen Abstieg über die Felswand gerechnet hatten. Die Pferde ließen sie frei. Sie würden sich selbst einen Weg suchen und irgendwann bei einem Bauern oder einem Fischer ankommen.

Janor schritt voraus. Die Müdigkeit war ihm jetzt nicht mehr anzusehen. Sein Gang hatte die Geschmeidigkeit eines Tieres, wie man sie nur erlangen kann, wenn man ständig in der Natur lebt.

»Sollen wir eine Fackel anbrennen?«, fragte Terrloff, als sie an die Gabelung der Höhle gelangten. Seine Stimme klang seltsam hohl hier tief unter der Erde.

»Nein, sie würde uns die Luft wegnehmen«, sagte Janor, »folge mir, ich erinnere mich gut an den Weg.«

Terrloff fasste mit der rechten Hand den Gürtel seines Gefährten und ging nun wortlos hinter Janor.

Sie kamen sehr viel schneller voran als Janor am Morgen. So war es noch hell, als sie den Adlerhorst erreichten. Der Raubvogel war nicht in seinem Nest. Terrloff maß mit seinen Augen die Entfernung zu dem Felsspalt, dann sah er sich nach einer Möglichkeit um, das Seil zu befestigen. »Dort oben«, sagte er nach einer Weile und zeigte über den bogenartigen Grotteneingang hinauf, »siehst du den Wurzelstrunk?«

Janor nickte. Etwa zwei Meter über dem Höhlenrand wuchs ein knorriges Holzgeflecht aus einer Felsritze. »Ich sehe einmal nach«, sagte Janor. Er war der beste Kletterer von Terrloffs Leuten, und er fand oft auch dort einen Halt, wo andere nur glatten Fels erkennen konnten.

Janor stieg auf Terrloffs Schultern, fasste nach einem hervorstehenden Stein und:… »Achtung!«, brüllte er. Terrloff duckte sich, Janor rutschte ab, der Stein krachte aus dem Fels und schoss direkt an Terrloffs Kopf vorbei in die Tiefe. Janor krallte sich an einem schmalen Felsriss fest, aber seine Finger glitten langsam ab.

»Ich stürze!«, rief er.

Terrloff griff zu, er packte Janor um die Beine und warf sich ins Innere der Grotte. Sie fielen übereinander und blieben schwer atmend liegen.

Nachdem sie sich ein wenig erholt hatten, sagte Janor: »Ich weiß nicht, wie oft du mir schon das Leben gerettet hast.«

»Und umgekehrt«, Terrloff rappelte sich auf.

»Ich versuche nochmals, das Seil festzumachen«, sagte Janor. Terrloff wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihm davon abzuraten.

Wieder stieg der Hagere auf die Schultern seines kräftigen Gefährten. Diesmal hatte er mehr Glück, es gelang ihm, in dem Spalt, der durch den herausgebrochenen Stein entstanden war, Halt für seinen rechten Fuß zu finden. Geschickt stemmte er sich hoch und erreichte mit den Fingerspitzen den Baumstrunk.

Der war tief in die Wand eingewachsen. Seine Wurzeln hatten jede Lücke, jedes Loch und jede Erdkrume genutzt, um sich festzukrallen.

»Wirf mir das Seil herauf!«, rief Janor.

Er fing es auf und knotete es dicht am Fels um den kräftigen Stamm, dann ließ er sich an dem Seil zu Terrloff hinab.

»Ich gehe als erster«, sagte Terrloff.

Janor nickte.

Terrloff umfasste das Seil und ließ sich langsam hinab gleiten, bis er etwa einen Meter vor dem Ende angelangt war. Dann wickelte er mit einem geschickten Schwung das restliche Stück um sein linkes Bein, mit dem rechten Fuß drückte er seinen Körper von der Felswand ab und schwang weit hinaus und zurück, weich federte er ab und stieß sich erneut hinaus, diesmal noch weiter und ein Stück nach rechts.

Janor sah zu dem Holzstrunk hinauf. Er hielt stand. Terrloff erreichte erneut den Fels, diesmal drei Meter weiter rechts. Nun gab er seinem Körper eine andere Richtung. Er schwang weit nach links an Janor vorbei, wurde wieder gegen die Wand getragen und pendelte zurück zur rechten Seite. Er war sehr nahe an den Felsspalt herangekommen. Beim nächsten Mal schon konnte er ihn erreichen.

Wie das gewaltige Pendel einer riesigen Uhr schwang Terrloff an dem starken Seil vor dem Grottenausgang hin und her. Jetzt erreichte er den Mauerriss, aber noch einmal stieß er sich kräftig ab und segelte in einem weiten Bogen hinüber zur linken Seite. Die Füße berührten die Wand, Terrloff ging ganz tief in die Knie, für den Bruchteil eines Moments saß er dicht an die Mauer gedrückt, dann schnellte er wieder hinaus und in einem großen Bogen weit auf die andere Seite hinüber. Seine Füße erreichten den Spalt im Fels. Er hakte sich mit den Zehen fest und stemmte sich gegen den Pendelschwung, der ihn wieder aus dem Einschnitt herauszureißen drohte. Das Seil schwang in sich, wie eine mächtige Saite, dann beruhigte es sich und wurde zu einer straffen Verbindung zwischen dem Holzstrunk und Terrloffs starkem Körper. Er hatte das Ende des Seils um beide Arme geschlungen und stemmte sich mit den Füßen gegen den scharfen Rand der Felsspalte.

Janor griff über sich und umfasste mit seinen sehnigen Händen das Seil. Langsam hangelte er sich hinüber. Terrloff, dessen Körper als Pflock dienen musste, atmete schwer. Sein Gefährte wusste, dass er möglichst ohne starke Bewegung hinuntergleiten musste, denn jedes Schwingen konnte Terrloff das Seil aus den Händen reißen.

Es gelang!

Möglichst behutsam setzte Janor seine Füße auf die Felsspalte. Er suchte sich einen festen Griff. Als er sicher stand, sagte er: »Es ist gut.«

Gemeinsam machten sie das Seilende an einem Felsblock fest.

Rulant und Namur hatten vor der Höhle gesessen und Metallstücke geschmolzen in einem gewaltigen Feuer, das sie in einem tiefen Schacht entzündet und durch unterirdische Luftkanäle angefacht hatten, als sie das Poltern eines herabstürzenden Felsbrockens vernahmen. Namur war sofort auf den Beinen, Rulant sprang ebenfalls auf und horchte in die Richtung, aus der das polternde Geräusch kam.

»Das kam vom Fels«, sagte Namur und legte seine Stirn in Falten.

Rulant schwang sich auf seinen Schimmel, der zwar nicht gesattelt, aber noch aufgezäumt war. »Ich sehe nach«, er galoppierte davon.

Schon nach kurzer Zeit war er zurück: »Da sind zwei Männer in der Wand«, rief er schon von weitem.

»In der Wand?«, Namur konnte es nicht glauben.

»Ja, sie sind schon über die Hälfte abgestiegen und befinden sich jetzt in einer schräg abwärts laufenden Felsspalte. Sie können in einer Stunde die Talsohle erreicht haben.« Rulant stieg von seinem Pferd.

»Ein halsbrecherisches Unternehmen«, hatte Namur gesagt. »Wir wollen Zusehen, dass wir ihnen einen würdigen Empfang bereiten.«

 

Der Fels war fast weiß und hatte dunkelgraue Streifen. An manchen Stellen waren die Kanten messerscharf. Terrloff stemmte die Füße ein und drückte den Rücken gegen die andere Seite des steil hinabstürzenden Grabens. Vorsichtig ließ er sich Meter um Meter tiefer rutschen. Janor folgte dicht auf.

Im unteren Drittel der Steilwand wurde der Abstieg ein wenig flacher. Jetzt kamen die beiden Männer schnell vorwärts.

Der Felsspalt endete auf einem etwa drei Meter hohen Vorsprung. Dort setzten sich Janor und Terrloff nieder. Sie ahnten nicht, dass keinen Steinwurf entfernt zwei andere Männer hinter mächtigen Baumstämmen verborgen standen und lauernd zu ihnen herübersahen. Einer von ihnen hatte eine Armbrust an der rechten Schulter angelegt, die Sehne gespannt und einen Pfeil abschussbereit in die Rinne gelegt.

Die Sonne stand inzwischen schon tief am Himmel und warf die Schatten von Terrloff und Janor lang und schmal über den Fels.

Namur, der Mann mit der Armbrust, machte einen Schritt nach vorn, als er sah, dass die beiden Männer in elastischen Sätzen von dem Fels herabsprangen und leicht federnd unten ankamen. Rulant machte ihm ein Zeichen. Er zog sein Schwert und schritt schnell durch das Unterholz. Janor hob sofort den Kopf und griff seinerseits nach seinem schmalen Schwert. »Vorsicht!«, zischte er. Terrloff war mit drei schnellen Sprüngen hinter einem Felsbrocken. Ein Pfeil schwirrte durch die Luft und bohrte sich nur eine Handbreit neben Janors Kopf in einen Baum. »Keinen Schritt weiter«, donnerte eine tiefe Stimme aus dem Unterholz, »der nächste Pfeil sitzt in deinem rechten Auge.«

Janor blieb ruhig stehen und versuchte im grünen Blätterwerk der Bäume und Büsche etwas zu erkennen.

Jetzt ließ sich Terrloff hören. »Wer immer ihr seid, Rulant oder Namur, der Waffenschmied, oder gar beidewir kommen in friedlicher Absicht.«

»Worte!«, rief Namur geringschätzig. »Sagt, wer ihr seid!«, »Ich bin Terrloff, mein Gefährte heißt Janor.«

»Ich habe ihn erkannt«, bestätigte Rulant, »und auch Janor, beide waren schon auf der Burg, beide in Kaims Gefangenschaft.«

Namur gab einen unverständlichen Laut von sich und trat aus dem Unterholz, ein hochgewachsener, schlanker Mann mit einem mächtigen Bart. Die Armbrust hatte er noch immer angelegt.

Dann erschien auch Rulant.

Terrloff richtete sich auf und ging auf die beiden zu. Die Hände hielt er weit vom Körper, um zu zeigen, dass er keineswegs nach einer Waffe greifen wollte.

»Noch niemals hat es jemand geschafft, über diese Wand herabzusteigen«, sagte Namur, und es war herauszuhören, dass er diese Leistung bewunderte. Aber noch immer hielt er die Sehne seiner Armbrust gespannt, der Pfeil war auf die Brust Terrloffs gerichtet.

»Es muss aber noch einen anderen Weg geben«, ließ sich nun Janor vernehmen.

Namur schwenkte seine Armbrust, so dass er jetzt auf Janor zielte, als er ihm antwortete: »Ganz recht, es gibt einen Weg über eine schmale Bucht, die nur bei Niedrigwasser zu durchqueren ist.«

»Aha«, sagte Terrloff, »Rulant kannte diesen Weg also auch.«

Rulant nickte stumm.

»Dann kennt ihn auch Kaim.«

»Nein«, sagte Rulant mit Bestimmtheit.

»Nein?«, Terrloff war verwundert.

»Es war immer meine Absicht, Namur zu schützen, und ich wollte für mich selbst eine Fluchtmöglichkeit haben.«

»Trotzdem«, sagte Terrloff, »wenn wir richtig geraten haben, wo ihr euch versteckt haltet, wird dies auch Kaim gelingen.«

Rulant schüttelte den Kopf. »Mich lässt er nicht lange suchen, es geht ihm einzig um dich, Terrloff. Hast du davon gehört, dass er Chlenos als Geisel hält und töten will, wenn du dich nicht stellst.«

»Ja, ich weiß es, und ich gedenke nicht, es dazu kommen zu lassen.«

»Und wie willst du es verhindern?«

»Darüber wollte ich mit dir sprechen, nur darum habe ich den Weg hierher auf mich genommen.«

Rulant schüttelte den Kopf. »Ich kann und werde mich nicht gegen Kaim wenden.«

»Aber…«, Terrloff kam nicht weiter.

»Ich weiß, was du sagen willst«, unterbrach ihn Rulant, »er hat mich zu seinem Feind gemacht. Trotzdem, ich habe ihm einmal Treue geschworen, und ich habe ihm gesagt, dass ich mich möglicherweise von ihm abwenden müsste, aber dass ich mich niemals gegen ihn stellen würde.«

»Seltsam«, sagte Terrloff.

»Eine ehrliche und aufrechte Haltung«, sagte Janor.

»Ich hatte gehofft, du würdest dich mit uns verbünden«, Terrloff war ein paar Schritte auf Rulant zugegangen.

»Nein«, sagte der andere schlicht.

»Und wie ist es mit dir, Namur?«

»Wenn die Aussicht besteht, dass du Erfolg haben kannst, bin ich dabei.«

Terrloff sah dem Waffenschmied in die Augen. »Die Aussichten sind nicht gut. Wir sind gerade ein Dutzend, darunter ein paar halbverhungerte Gefangene. Kaim aber hat dreihundert gut ausgebildete und gut bewaffnete Soldaten.«

Namur kratzte sich den langen Bart. »Vielleicht habe ich etwas, was ein paar Soldaten aufwiegt.«

Terrloff und die anderen schauten den langen Namur überrascht an. Sein Gesicht hatte plötzlich einen verschmitzten Ausdruck bekommen. »Ich war Kaims bester und erfindungsreichster Waffenschmied.«

»Die Kunde davon ist bis zum Festland hinübergedrungen«, bestätigte Terrloff.

Zufrieden nickte der Waffenschmied. »Tja, das will ich gerne glauben. Nun, hier unten hatte ich drei Jahre Zeit, mir neue Waffen auszudenken. Ich habe sie auch Rulant noch nicht gezeigt.«

»Das stimmt«, sagte Rulant und er schien darüber verärgert zu sein.

»Diese Waffen habe ich erfunden und gebaut, um sie eines Tages einzusetzen, und es gibt nur einen Feind gegen den sie gerichtet werden sollen.«

»Kaim«, sagte Terrloff beinahe feierlich und Namur nickte dazu.

Die Sonne verschwand hinter der steilen Felswand und beleuchtete nur noch die Spitzen der Zypressen, die am Rand des Abgrunds standen wie ein grüner Zaun. Im Tal ohne Wiederkehr wurde es schnell dunkel.

»Lasst uns zu meiner Höhle gehen«, sagte Namur und hängte sich seine Armbrust über die Schulter.

Rulant, der lange geschwiegen hatte und abseits stehen geblieben war, stieß einen gellenden Pfiff aus.

Der weiße Hengst »Adler« kam herbei galoppiert.

»Ich werde mir ein Lager talabwärts suchen«, sagte Rulant.

Namur schüttelte unwillig seinen Kopf. »Du genießt meine Gastfreundschaft.«

»Versuch mich zu verstehen«, sagte der junge Mann, der jetzt seinen Schimmel bestieg, »ich muss meinen eigenen Weg gehen.«

Namur sah ihn unverwandt an. »Du bist mir ein Freund geworden in der kurzen Zeit, die du bei mir warst.«

»Mir geht es mit dir nicht anders«, sagte Rulant ernst, »und ich hoffe, dass wir uns eines Tages wiederbegegnen.« Er schnalzte mit der Zunge und »Adler« stob davon.

Als Namur, Terrloff und Janor die Höhle erreichten, sahen sie sofort, dass Rulant seine wenigen Habseligkeiten an sich genommen hatte und verschwunden war. Namur hob bedauernd die Schultern, dann schürte er schweigend das Feuer und holte aus der Tiefe der Höhle vorbereitetes Fleisch, das er über die Feuerstelle legte, sobald die Flammen herabgebrannt waren und die klotzigen Baumstücke nur noch glühten.

Sie aßen schweigend und tranken Wasser, das Janor aus der nahegelegenen Quelle geholt hatte.

Namur war sehr nachdenklich. Der Mond stand schon lange am Himmel, als er endlich das Wort ergriff.

»Ich habe lange auf den Tag gewartet, der mich aus diesem Tal wieder herausführen würde. Aber nun, da es soweit ist, fürchte ich mich fast davor. Ich habe Heimweh nach diesen Wäldern, nach den Tieren hier und nach dem klaren Bach, noch ehe ich weggegangen bin.«

Terrloff und Janor sagten nichts dazu.

»Dies hier ist unberührtes Land, fruchtbar und schön«, fuhr der Waffenschmied fort, »es gibt nicht mehr viele solcher Stellen auf dieser Insel.«

»Kaim hat das Land verkommen lassen«, sagte Terrloff. »Das ist wahr, er war vom Silber geblendet und hat den unermesslichen Schatz vergessen, den ein gesunder Boden bietet.«

Janor legte neues Holz auf die Feuerstelle. »Wenn es gelingen sollte, Kaim zu vertreiben, müssten wir zunächst dafür sorgen, dass der Bauer und der Jäger wieder zu seinem Recht kommt. Was Riamis gelungen ist mit ihrem Paradiesgärtchen in der Steinwüste, müsste auch woanders möglich sein.«

Namur nickte.

Terrloff sagte: »Man wird allerdings auf den Reichtum der Silberbergwerke nicht verzichten.«

Da sah ihn Janor scharf an. Terrloff wich dem Blick des Gefährten aus. Niemand sprach mehr, aber plötzlich lag eine seltsame Spannung über den drei Männern. Schließlich sagte Janor: »Ich werde mich früh schlafen legen.«

»Du kannst ein Lager in der Höhle haben«, bot Namur an, aber der Hagere lehnte ab:

»Ich bin es gewohnt, draußen zu schlafen.«

Janor nahm sich eine Decke, ging aus dem Lichtkreis des Feuers und legte sich unter einem breiten Laubbaum nieder, dessen gewaltige Äste sich wie ein Dach über einer Stelle mit dichtem Moos wölbten. Er schlief sofort ein. Namur sagte zu Terrloff: »Es steht mir nicht zu, dich zu belehren, aber wenn du die Macht auf Ilaniz erringen solltest, dann mache Pläne, um unsere Felder und Wälder wieder gesund werden zu lassen. Der Bauer muss seinen Acker und die Weiden bestellen, er soll nicht im Berg vergraben leben.« Damit erhob sich der Waffenschmied und ging in seine Höhle hinein.

Terrloff saß noch lange am Feuer und starrte in die langsam erkaltende Glut, die zu grauer Asche verfiel.

 

Am anderen Morgen wusch sich Janor schon am Bach, ehe die Sonne ihre Strahlen in das Tal schickte. Er sah lächelnd den Forellen zu, die in dichten Schwärmen durch das glasklare Wasser schossen, als ob sie miteinander Fangen spielten.

Dann streifte der hagere Mann durch den lichten Wald am Ufer des Bachs. Er war erstaunt, als er ein paar Rehe erblickte, die über das Wasser zu ihm herübersahenneugierig, wie es schien, und ohne Angst.

Ein Hase überquerte seinen Weg, eine silbern glänzende Schlange huschte unter die Wurzel einer Eiche. Im Geäst der Bäume sangen die Vögel, als ob ein Dirigent sie zu einem Chor vereinigen würde. Die ersten Sonnenstrahlen spielten auf den hellgrünen Blättern, die Zweige wurden von einem leichten Wind bewegt.

Janor setzte sich am Fuß eines Baumes nieder und lehnte sich gegen den Stamm. Er spielte mit einem Sauerkleeblatt, das er achtlos gepflückt hatte. »So muss es im Paradies aussehen«, dachte er. Dann fiel sein Blick auf den Klee, er hatte vier gleichförmige Blätter.

»Das soll ja Glück bringen«, murmelte der einsame Janor vor sich hin, dann schob er den Klee zwischen die Zähne und zerkaute ihn langsam. Er genoss den herb-säuerlichen Geschmack.

Schließlich ging er mit kräftigen Schritten zurück zu der Höhle. Überrascht blieb er am Rand der Lichtung stehen, die Namur vor dem Höhleneingang gerodet hatte. Terrloff und der Waffenschmied standen nahe dem Feuerplatz umgeben von seltsamen Gerätschaften.

Am meisten beeindruckte Janor ein großer Holzblock, der auf vier groben Holzrädern stand und über dessen Längsbalken eine seltsam glänzende Spirale angebracht war, die durch ein dickes Brett abgeschlossen wurde. Er ging näher. Namur, der das Gerät erklärte, nickte ihm zu. »Das ist ein starker Draht, den ich geschmiedet und in viele aufeinanderfolgende Kreise gebogen habe. Helft mir. Wenn viele starke Männer diese Kreise zusammendrängen, und wenn es gelingt, diese riesige, gespannte Feder hier hinten festzuhaken, wird jeder Stein, den wir vor dieses Brett legen, zu einem gewaltigen Geschoss.«

»Es ist wie bei einer Armbrust«, sagte Janor bewundernd, »nur dass hier keine Sehne gespannt wird, sondern eine stählerne Feder.«

Namur nickte. Gemeinsam pressten sie die Feder zurück und es gelang ihnen, sie hinter zwei Haken am Ende des Bockes festzuhalten.

Namur drehte nun den Bock so, dass er gegen die Felswand zeigte und legte einen schweren Felsbrocken vor das dicke Brett, das die Feder abschloss. Erst jetzt bemerkten Terrloff und Janor, dass der Längsbalken in der Höhe und in der Neigung verstellt werden konnte. »Wenn ich das Gewicht des Geschosses einschätzen kann«, sagte Namur, »ist es sogar möglich, damit zu zielen.«

Terrloff deutete auf den Höhleneingang in halber Höhe der Steilwand, dorthin, wo sie tags zuvor herausgestiegen waren und wo der Adler nistete.

»Triffst du die Höhle?«, fragte er.

»Ich könnte sie treffen, aber dort haust ein Freund von mir.«

»Ein Freund?«

»Ja, der Adler. Er besucht mich manchmal, er meldete mir gestern auch, dass Fremde in das Tal eindrangen.« Terrloff schüttelte ungläubig den Kopf, aber Namur fuhr unbeirrt fort. »Ich würde ihn vielleicht töten oder doch vertreiben. Das wäre undankbar und nicht freundschaftlich.«

»Mir scheint, du bist in deiner Einsamkeit ein wenig wunderlich geworden«, sagte Terrloff unwirsch.

Namur sah ihn an und sagte: »Ich hatte nicht erwartet, dass du es so sehen würdest.«

Dann richtete er den Bock auf den Wasserfall, der noch weiter entfernt war als der Höhleneingang und sagte: »Seht ihr die Felsnase, die dort aus dem Wasser herausschaut?«

Janor bedeckte seine Augen mit der Hand gegen die Sonne und sagte: »Ja, ziemlich hoch oben, willst du den Stein etwa bis dorthin schleudern?«

Namur sagte nichts mehr, sondern arbeitete mit ernstem Gesicht und sicheren Handgriffen ohne sich ablenken zu lassen. Schließlich war er zufrieden. Der Längsbalken stand in einem ziemlich steilen Winkel und war von Namur festgezurrt worden.

»Achtung«, sagte der Waffenschmied. Dann fasste er die beiden Haken links und rechts mit den Daumen, zog gleichzeitig kräftig daran. Die Bewegung der riesigen Feder war so schnell, dass sie mit den Augen nicht zu sehen war. Janor und Terrloff hörten nur einen hohen singenden Ton und sahen, wie die vielen stählernen Kreise der großen Spirale noch lange nachschwangen und zitterten. Der Felsbrocken flog in einem gewaltigen Bogen über die Baumwipfel direkt auf den Wasserfall zu und schlug dicht über der Felsnase ein. Es gab einen dumpfen Ton, Wasser spritzte und sprühte auf, dann polterte Geröll in die Tiefe.

»Großartig«, bewunderte Terrloff.

»Teufelszeug«, sagte Janor.

Namur lächelte zufrieden.

Er zeigte den beiden darauf alle seine neuen Waffen.

Da gab es eine seltsame Vorrichtung, auf der zwölf Pfeile gleichzeitig von einer Sehne abgeschossen werden konnten; Steinschleudern, die in sehr kurzen Abständen nacheinander zehn und mehr Kiesel schleuderten, wenn man zuvor die in verschiedenen Höhen montierten Züge gefüllt hatte.

Terrloff sagte schließlich: »Hier, in diesem paradiesischen Tal wirken solche technischen Wunderwerke wie Fremdkörper, wir brauchen sie droben, wir brauchen sie beim Sturm auf die Burg.«

»So ist es«, bestätigte Namur.

Terrloff wurde ärgerlich: »Und kannst du mir auch sagen, wie wir all diese Gerätschaften aus diesem verdammten Tal herausbekommen sollen?«

Namur sah ihn streng an. »Dieses Tal hat es nicht verdient, dass du es verdammst. Im Übrigen sind die Waffen nur über die Wand hinaufzubringen. Ich habe auch dafür vorgesorgt. Seit einem Jahr arbeite ich daran.« Er deutete zur Hohle hinüber. Links vom Eingang lag ein riesiger Berg seltsam ineinander verschlungener Seile. »Es war nicht einfach«, sagte Namur bedächtig, »ich habe die Seile aus Lianen, Hanf und besonders festen Gräsern geflochten. Sie sind stark. Dazu habe ich Räder geschmiedet, die wir an besonders starken Bäumen über der Steilwand anbringen können. Und nun seht mal dieses…«

Terrloff und Janor starrten auf einen sehr dünnen, scheinbar endlosen Faden, der eng zusammengerollt war.

»Das ist ein dünnes Seil von einer halben Meile Länge«, sagte Namur, »es wiegt wenig und braucht kaum Platz.«

»Und was willst du damit?«, fragte Terrloff ungeduldig. »Derjenige, der aus dem Tal hinaussteigt, nimmt es mit. Von der Kante dort oben lässt er es herunter. Dazu muss er es am Ende beschweren mit einem Stein. Sobald das Seil die Talsohle erreicht, wird es mit diesem dicken Seil hier verbunden. Man kann dann dieses hinaufziehen und ebenso die Räder und schließlich hat man alles oben, was man braucht, um die Waffen hinaufzuziehen.«

Terrloff legte seinen Arm um die Schulter Namurs und sagte: »Du bist wirklich ein Meister und ein Künstler in deinem Fach. Ich bewundere dich.«

Namur nickte bedächtig, gerade so als ob er gar kein anderes Urteil erwartet hätte.

»Ich schlage also vor«, sagte Terrloff, »dass Janor auf dem Weg, den du kennst, zu unseren Gefährten zurückkehrt und dass er mit ihnen gemeinsam morgen die Waffen hinaufzieht. Wir beide können derweil die Geräte bis zur Felswand schaffen.«

Janor nahm wortlos den zusammengerollten Faden und steckte ihn in einen geräumigen Beutel, den er über die Schulter schwang.

»Ich werde dich zu der Stelle begleiten, die aus dem Tal herausführt«, sagte Namur, er sah prüfend zur Sonne hinauf, »in zwei Stunden wird das Wasser zurückweichen, dann kommst du durch.«

Janor nickte wortlos, gab Terrloff die Hand und schritt dicht neben Namur zum Bach hinunter, dem sie in Richtung Meer folgten.

 

Janor ging mit schnellen, weitausgreifenden Schritten; er hatte die Bucht der Wogen hinter sich. Knietief war er im Wasser gewatet, dabei hatte er stets darauf geachtet, nicht zu hastig zu gehen. Auch als das Wasser anstieg, hatte er seine Schritte nicht beschleunigt. Ruhig behielt er seinen Rhythmus bei. Der Schweiß lief ihm über die Stirn, und er spürte, wie auch zwischen den Schulterblättern ein heißer Schweißbach hinab rann.

Jetzt kletterte er einen schmalen Bergpfad hinauf. Er fühlte sich leicht und kräftig. Auch nach sechs Stunden Fußmarsch, als die Sonne langsam hinter den Bergen von Ilaniz versank, spürte er noch keine Müdigkeit. Die ersten Sterne erschienen am Himmel, noch ehe die Helligkeit ganz verschwunden war. Janor sah hinauf und sagte sich, dass es eine helle Nacht geben würde. Er konnte noch vor Sonnenaufgang das Lager von Coral und Cyril erreichen.

Mit der Abenddämmerung war auch ein frischer Wind aufgekommen. Janor atmete tief. Wie immer auf langen Märschen hielt er sich genau an eine Technik, die ihm einst ein alter Wanderer verraten hatte: Drei Schritte lang atmete er tief ein, und während der nächsten vier Schritte atmete er aus. Als der hagere Mann den Gipfel des Ilaniz-Gebirges erreicht hatte und der beschwerliche Weg talwärts begann, stand die goldgelbe Mondsichel hoch am Himmel.

Janor rastete eine kurze Zeit und suchte sich dann seinen Weg zunächst über den schmalen Gebirgsgrat, später durch ein enges Seitental. Die lichte Nacht ging schon unmerklich in die graublaue Morgendämmerung über, als er sich dem Versteck seiner Gefährten näherte.

Der Platz war gut ausgesucht. Der schmale Gebirgspfad schlängelte sich hier zwischen schroffen Felswänden hinab und endete am Ufer eines reißenden Gebirgsbaches, der aufschäumend durch ein felsiges Bachbett daher gerauscht kam. Ein dicker Baumstamm war die einzige Verbindung über das reißende Wasser, das sich eine tiefe Schlucht gegraben hatte. Die andere Uferseite war mit dichten Haselnussbüschen bestanden, die wie eine undurchdringliche grüne Mauer dem Blick alles verbargen, was dahinter sein mochte. Der tosende Bach verschlang jedes Geräusch.

Janor setzte seinen Fuß auf den Baumstamm, den die Taufeuchtigkeit des frühen Morgens glitschig gemacht hatte. Er achtete darauf, keine Geräusche zu machen. Vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß. So erreichte er das jenseitige Ufer ohne auch nur einmal zu straucheln. Als er von dem Baumstamm aufs sichere Land sprang, stand plötzlich, wie aus dem Erdboden gewachsen, Cyril vor ihm. Wortlos umarmten sie sich. Dann folgte Janor dem jüngeren Gefährten über einen kaum erkennbaren Pfad, der hoch mit Farnkraut und Gräsern bewachsen war, tief in den Wald hinein.

Um ein niedriges Feuer, von dem kein Rauch aufstieg, saßen die Männer. Verwundert sah Janor, dass es viel mehr waren als die wenigen, die mit ihm und Terrloff ausgebrochen waren. Er zählte an die fünfzig Mann. Sie sahen jetzt alle gespannt zu ihm her.

»Wo ist Coral?«, fragte Janor.

»Er ist mit vier Männern auf Nahrungssuche«, Cyril lächelte den älteren Freund an.

»Und woher kommen all diese Männer?«

Cyril antwortete: »Seitdem Kaim verkünden ließ, dass Chlenos hingerichtet werden soll, brodelt es auf Ilaniz. Immer mehr Männer verlassen ihre Häuser und suchen Anschluss bei uns.«

Janor legte die Stirn in Falten und sah die Männer nacheinander scharf an. Schließlich, nach langem Schweigen, sagte er: »Und woher weißt du, welcher dieser Männer ein Spitzel Kaims ist?«

Unter den Männern erhob sich ein unwilliges Murren. Cyril starrte Janor fassungslos an: »Du hältst es für möglich…«

»Ich habe meine Erfahrungen. Unter so vielen Männern ist leicht einer, der es nicht ehrlich meint.«

»Du bist zu misstrauisch.« Das war Corals Stimme.

Janor wandte sich in die Richtung, aus der Coral gesprochen hatte, aber der Dicke war nirgends zu sehen. Das dichte Blattwerk verdeckte ihn.

Doch dann teilte sich das Gebüsch und Coral trat auf die kleine Lichtung. Er reichte Janor die Hand und sagte: »Wir bewachen das Lager nach außen und auch nach innen, wer uns ohne Auftrag verlassen wollte, würde sein Ziel wohl kaum erreichen.« Er lächelte, aber seine Worte hatten einen Unterton, bei dem man eine Gänsehaut bekommen konnte.

Janor schien zwar nicht beruhigt zu sein, aber jetzt ließ er sich am Feuer nieder und begann zu erzählen. Er sprach in abgehackten Sätzen und erwähnte nur das Nötigste, dabei behielt er seine Zuhörer stets im Auge. Wie ein Raubvogel beobachtete er die Männer um ihn herum. Schließlich sagte er: »Wir brechen sofort auf und suchen uns einen Weg zum Tal ohne Wiederkehr.«

»Alle?«, fragte ein junger Mann.

»Ohne Ausnahme«, sagte Janor, »ich gehe voraus. Coral und Cyril bilden den Schluss. Ich möchte niemandem raten, einen eigenen Weg zu suchen.«

»Aber«, wandte der junge Mann ein, »du musst sehr müde sein. Du bist seit vierzehn Stunden unterwegs.«

Janor sah den jungen Mann scharf an. »Sind es meine oder deine Beine?«

»Ich meine ja nur.«

»Du meinst ja nur, wie heißt du?«

»Velder.«

»Was hast du gelernt?«

»Er ist Müller«, sagte ein alter Mann, der dicht beim Feuer saß. »Velders Vater ist in Kaims Silberstollen gestorben. Ich bürge für diesen Mann.«

Janor sah den Alten an. Er hatte ein zerfurchtes Gesicht, um die Augen lag ein trauriger Zug. Der Mann sah aus, als ob er ein langes Leben lang viel Leid gesehen hätte. Janor nickte: »Ich danke dir, wie heißt du?«

»Ich bin Namurs Vater. Mein Herz ist glücklich, seitdem du von meinem Sohn berichtet hast.«

Cyril sagte zu Janor: »Die Männer von Ilaniz haben Namur zu ihrem Sprecher gewählt, er hat ihr Vertrauen.«

»Meines auch!«, sagte Janor mit Nachdruck und dies war einer der seltenen Augenblicke, in denen man ihn lächeln sah.

Die Männer schulterten ihre Bündel und folgten dem Hageren. Sie überquerten den tief eingeschnittenen Bach einige Meilen weiter nördlich und stiegen dann über einen halsbrecherisch steilen Pfad ins Gebirge hinauf. Janor schickte immer wieder Männer voraus, die nach Truppen Kaims Ausschau halten sollten. Aber er war so misstrauisch, dass er meistens dicht bei ihnen blieb, zumindest ließ er sie nicht aus seinem Blickfeld. Es war schon Nachmittag, als der junge Velder von einem solchen Kundschaftergang aufgeregt zurückkehrte und schon von weitem rief und fuchtelte. Janor ließ ihn herankommen und tadelte ihn: »Was du erkannt hast, behältst du in Zukunft bei dir, bis du wieder bei uns bist. Man könnte dich hören. Aufregung schadet nur.«

Velder nickte und schluckte und sprudelte dann hervor: »Reiter, mindestens zwanzig, vielleicht mehr.«

»Wo?«, fragte Janor ruhig.

»Sie steigen ein Seitental herauf. Ihr Weg kreuzt den unseren.«

Janor nickte. »Zwanzig sagst du?«

»Ja doch, ja!«

»Ruhig, ganz ruhig. Alle sind beritten?«

»Alle, ja.«

»Das sind zwanzig Pferde für uns und zwanzig Feinde weniger«, sagte Janor.

Die Männer standen mit offenen Mündern um ihn herum. Sie waren alle schlecht ausgerüstet. Die meisten barfuß und in abgerissenen Kleidern. Einige von ihnen hatten Pfeil und Bogen, andere trugen Speere, manche von ihnen verfügten nur über Steinschleudern.

Janor sah sie an und musste lächeln. Dann sagte er: »Wir stellen ihnen eine Falle. Dort wo ihr Weg den unseren trifft, stoßen zwei enge Täler aufeinander, denen die beiden Wege folgen. Ich bitte euch nun, in drei Gruppen so schnell und unauffällig wie möglich, die Kämme dieser beiden Täler zu erklimmen und euch zu verstecken. Ich werde den Berittenen genau an dem Punkt entgegentreten, wo die Wände am steilsten sind. Auf meinen Pfiff erscheint ihr über der Stelle und wehe dem, der nicht mindestens einen Felsbrocken drohend erhebt. Kaims Leute müssen den Eindruck haben, dass sie diesen Platz nicht lebend verlassen, es sei denn, sie ergeben sich. Kümmert euch nicht um mich. Im Zweifel müsst ihr mich mit ihnen töten.«

Cyril sagte: »Aber Janor…«

»Schweig«, unterbrach ihn Janor, »auch du musst lernen, dass man in solchen Fällen nur dann Erfolg haben kann, wenn der Gegner keinen Augenblick daran zweifelt, dass man es ernst meint.«

Es sah so aus, als ob noch mehr Männer widersprechen wollten, aber Janor ließ keinen mehr zu Wort kommen. Er zeigte auf drei Männer und sagte: »Jeder von euch nimmt ein Dutzend Leute, die anderen gehen mit Cyril und Coral. Beeilt euch, aber überhastet nichts.«

Die Männer zeigten, dass sie es gewohnt waren, sich in diesem Gelände zu bewegen. Manch einer von ihnen mochte sich an den wenigen freien Tagen oder in den Nächten auf die Jagd begeben haben, um ein Wild zu erlegen und die Kost seiner Familie aufzubessern.

Janor sah ihnen nach und nickte beifällig. Es dauerte in der Tat nur wenige Augenblicke, da waren die Männer fast lautlos zwischen den Felsen verschwunden.

Janor schritt langsam weiter den Pfad bergauf. Er summte leise vor sich hin. Als er nur noch wenige hundert Schritte von der Wegkreuzung entfernt war, hörte er die Hufe der Pferde. Er beschleunigte seine Schritte ein wenig.

Der Pfad, auf dem er ging, traf den anderen Weg, der breiter war, an einem kleinen dreieckigen Platz, jede Seite dieses Dreiecks wurde von einer steilen Wand abgeschlossen, so dass der Platz wie ein Schacht wirkte.

Janor verhielt seinen Schritt und blickte auf den vorspringenden Fels, um den die Reiter gleich einbiegen mussten. Als erster erschien ein kräftiger junger Mann in einer glänzenden Rüstung, er unterhielt sich mit einem anderen, der dicht hinter ihm reiten musste, aber noch nicht zu sehen war.

»Nanu«, sagte der Reiter, als er Janor entdeckte. Der Hagere lehnte am Fels und kaute auf einem Grashalm. »Wer bist du?«, fragte der Reiter.

Janor zuckte die Achseln und sah den Soldaten gleichmütig an.

Jetzt drängten drei weitere Pferde auf den kleinen dreieckigen Platz.

»Antworte mir!«, sagte der Reiterführer herrisch und hob die Peitsche.

Janor lächelte und sagte: »Mich hat noch niemals jemand ungestraft geschlagen.«

Die Peitsche sauste blitzschnell nieder, aber noch schneller hatte Janor zugepackt, die Riemen um sein Handgelenk geschlungen und den Reiter von seinem Pferd gezogen. Das Tier scheute und stieg mit den Vorderhufen hoch. Der Reiter fiel in den Staub und blieb benommen liegen. Janor starrte mit unbeteiligter Miene auf ihn hinab und murmelte: »Ich habe dich gewarnt, du Grünschnabel.«

Der gestürzte Reiter sprang auf. Er hatte einen hochroten Kopf. Inzwischen standen dort, wo der breite Weg auf den kleinen Platz traf, schon mehr als zehn Berittene. Zwei von ihnen hatten Pfeile auf ihre Bogen gelegt und die Sehnen gespannt. Sie zielten auf Janor.

Janor sagte: »Man hat mir schon berichtet, Kaims Soldaten seien besonders mutig, wenn sie in der Überzahl sind.«

»Lasst ihn mir«, brüllte der Reiterführer, der sich inzwischen aufgerappelt hatte.

Die Bogen senkten sich.

Janor sah seinen Gegner an. Er hatte ein junges Gesicht, gleichmäßige, weiche Züge. Er war zu jung und zu unerfahren für seine Aufgabe.

Janor grinste hämisch: »Dass dich deine Mutter überhaupt weggelassen hat.«

Der Soldat zog sein Schwert.

Janor stand gleichmütig da und sagte: »Ich muss dich warnen.« Doch der wütende Reiterführer schien nichts mehr zu hören. Er stürzte sich auf Janor, holte weit aus mit seinem Schwert und schlug zu. Der Hagere machte einen kurzen Schritt weg von der Mauer. Das Schwert traf auf den Fels. Funken stoben auf. Janor sagte: »So wird auch das beste Schwert stumpf.«

Inzwischen drängte sich der ganze Reitertrupp an dem engen Durchlass. Ein kurzer Blick zu den Soldaten hinüber zeigte Janor, dass nicht wenige von ihnen schadenfroh zusahen, wie ihr Anführer sich schwer tat.

»Du bist kein wirklicher Gegner für mich«, sagte Janor. Sein schmales Kurzschwert steckte noch immer im Gürtel und war von seinem Gegner noch nicht einmal wahrgenommen worden.

»Hah«, rief der junge Reiterführer, »dir wird der Spott noch vergehen, hergelaufener Bauer!«, Das Schwert stieß auf Janor zu, doch der wich ohne Mühe aus. Diesmal wäre der Reiter fast gestürztvom Gewicht der eigenen Rüstung und dem eigenen Schwung zu Boden gerissen.

Als er sich wieder gefangen hatte, zischte er: »Wer bist dudu musst mit dem Teufel im Bund sein.«

Janor sah ihn ausdruckslos an und sagte: »Ich bin Janor, und ich bin nicht mit dem Teufel, aber mit Terrloff und allen rechtlich Denkenden im Bund.«

Der Name Terrloff schien seine Wirkung nicht zu verfehlen. »Packt ihn«, schrie jetzt der Anführer, »worauf wartet ihr denn noch?«

In diesem Augenblick zog Janor mit einer pfeilschnellen Bewegung sein Kurzschwert. Mit dem Fuß trat er gegen das Handgelenk des Gegners. Dessen Schwert fiel zu Boden. Janor legte dem Reiter seinen Arm um den Hals und setzte ihm das Kurzschwert unter das Kinn. Dann stieß er einen gellenden Pfiff aus.

Man hörte ein Rumoren, einzelne Steine polterten von den Felswänden zu Tal. Überrascht starrten die Reiter nach oben. Dicht an dicht erschienen Männer in ihren zerschlissenen Bauernkitteln, drohend ihre Steinschleudern, gespannte Bogen oder auch nur Felsbrocken erhoben.

»Jeder, der meinen Befehlen jetzt nicht folgt, stirbt!«, donnerte Janor, und seine Stimme wurde von den Felswänden zurückgeworfen.

»Waffen weg!«, brüllte Coral, der eine Armbrust im Anschlag hielt. Einer der Soldaten, ein älterer Mann, schleuderte mit einer überraschend schnellen Bewegung seinen Speer und brach fast im gleichen Augenblick von einem Pfeil getroffen zusammen.

»Ihr seid verloren«, sagte Janor nun leiser, »wenn ihr unseren Befehlen nicht folgt.«

Der erste Reiter warf sein Schwert in den Staub. Nach und nach folgten ihm die anderen.

Janor sagte: »Wir werden euch fesseln. Ihr zieht mit uns als Gefangene. Terrloff soll entscheiden, was mit euch geschieht.«

 

Kaim stand seit Stunden nahezu bewegungslos auf dem Söller seiner Burg und starrte ins Land hinaus. Die Nachrichten der letzten Tage hatten ihn deprimiert. Dass Rulant nicht auffindbar war, dass Rebellen aus der Unterstadt und den Dörfern offensichtlich zu Terrloff überliefen, dass ein Reitertrupp im Gebirge verschwunden wardas alles trübte sein Gemüt noch mehr als sonst. Niemand aus seiner Umgebung wagte Kaim anzusprechen, und war es einmal unumgänglich, dann musste man damit rechnen, dass er aufbrausen und ungerecht handeln würde.

Nur noch eine Nacht trennte ihn von dem Tag, an dem Chlenos hingerichtet werden sollte. Und von Terrloff hatten sie noch immer kein Zeichen und keine Spur. Der Name geisterte zwar durch das Land und war auf aller Leute Lippen. »Terrloff«, wisperte es am Brunnen und in den kleinen Weinwirtschaften, »Terrloff« hörte man die Frauen am Waschtrog und sogar die Soldaten in Kaims Truppen leise raunen.

Er war überall und nirgends. Kaim schüttelte unwillig seinen mächtigen Schädel. Hatte ihn das Glück nun doch verlassen, ihn, den Reichen und Mächtigen.

Ein einzelner Reiter kam den Burgberg herauf gesprengt. Kaim kniff die Augen zusammen. Er sah, wie der Mann sein Pferd anhielt und eifrig auf die Torwachen einredete. Die Wachen sahen zum Söller hinauf, dann öffneten sie einen Flügel des Burgtors. Der Neuankömmling führte sein Pferd am Zügel in den Burghof. Ein Mann von der Wache eilte auf den Nordflügel zu und rief zu Kaim hinauf: »Da ist ein Mann, der etwas über Terrloff zu berichten weiß.«

Kaim löste sich aus seiner Erstarrung. »Schick ihn her zu mir.«

Mit raschen Schritten ging er auf und ab, bis der Reiter bei ihm eintraf. Es war ein Mann um die dreißig Jahre, er hatte ein bleiches, fast gelbes Gesicht und vorstehende Zähne, seine Augen blickten verschlagen. Er verbeugte sich tief vor Kaim.

»Nun?«, donnerte ihn der Herrscher an.

»Ich bin Riller, der Steuereinnehmer in eurem Dorf Nilamur am Ende der Insel, nicht weit vom Tal ohne Wiederkehr.«

Kaim nickte ungeduldig. »Weiter, weiter!«, drängte er. »Ich glaube ich weiß, wo Terrloff und seine Leute sind.«

»Nun?«

»Nehmt es mir nicht übel, Herr«, Riller machte eine tiefe Verbeugung, »aber ich bringe mich in Gefahr, ich meine, dass euch die Nachricht… nun, wie soll ich sagen…«

»…dass sie mir etwas wert sein muss, oder?«

»Ja, Herr, das meine ich.«

Kaim starrte den Mann angewidert an. Doch dann sagte er: »Wenn deine Nachrichten richtig sind, bekommst du fünfzig Silberlinge.«

»Ich danke dir, du bist sehr großzügig.«

»Nun?«, sagte Kaim wieder.

»Terrloff und die anderen sind am Wasserfall, das heißt ganz in der Nähe. Sie habenwie sie das fertiggebracht haben, weiß ich auch nicht –, also sie haben an langen Seilen Geräte über die Steilwand herauf gezogen.«

»Willst du dich lustig machen über mich?«

»Nein, Herr, es ist die reine Wahrheit. Ich habe es selbst gesehen. Und ich habe auch Namur…«

»Was?«, brüllte Kaim außer sich. »Namur lebt?«

»Ich glaube, dass er ganz neue Waffen geschaffen hat. Er muss im Tal ohne Wiederkehr gelebt haben bis jetzt.«

»Wie viele hast du gezählt?«

»Vierundsechzig Männer, die zu Terrloff gehören, vierundzwanzig Pferde und vierundzwanzig Gefangene, Soldaten.«

Das Gesicht Kaims verfinsterte sich bei jedem Wort mehr. Schließlich sagte er mit dumpfer Stimme: »Hast du auch Rulant entdeckt?«

»Nein, Herr, aber ich habe Gesprächsfetzen aufgefangen. Rulant soll sich geweigert haben, mit Terrloff gegen dich zu ziehen.«

Kaim nickte langsam, als ob er nichts anderes erwartet hätte. Dann klatschte er in die Hände. Ein Diener kam herein.

»Der Mann hier bekommt fünfzig Silberlinge«, befahl der Herrscher, »und er soll Yato alle Einzelheiten genau berichten.«

»Ihr seid so gütig«, Riller dienerte um Kaim herum und griff nach dessen Hand, aber der Herr auf Ilaniz entzog sie ihm barsch und spuckte aus.

»Damit du nichts Falsches denkst«, sagte er, »ich verachte dich; ich brauche manchmal den Verrat, aber ich hasse Verräter.« Damit wies er Riller hinaus.

Wenige Augenblicke später hallte Kaims mächtige Stimme durch die Hallen der Burg. »Bringt Chlenos hierher.« Der junge Mann erschien, begleitet von zwei Wächtern. Seine Handgelenke waren in Ketten. Chlenos sah krank aus. Die Wangen waren eingefallen, die Augen hatten rote Ränder und waren verklebt, ein schütterer Bart bedeckte die untere Gesichtshälfte, die Haare hingen wirr und verfilzt um seinen Kopf.

»Öffnet die Fesseln!«, befahl Kaim.

Chlenos hob die Arme und massierte die Handgelenke als er befreit war. Er sah Kaim in die Augen.

»Ist es schon so weit?«, fragte er mit ruhiger Stimme. Kaim senkte den Blick und sagte leise: »Ich wollte, Terrloff würde sich unterwerfen, damit ich dir die Freiheit geben kann.«

»Was macht es für einen Unterschied, ob ich im Kerker bin oder Terrloff, ob du mich töten lässt oder ihn?«

»Der Unterschied ist groß, glaub mir, Terrloff ist machtbesessen und falsch. Du bist beides nicht.«

Chlenos lehnte sich müde gegen die Wand und sprach mit leiser Stimme: »Ich gehe noch weiter: Was macht es für einen Unterschied, ob ich da unten schmachte oder irgendein anderer Mann. Sie alle sind meine Brüder, sie alle leiden unter deiner Herrschaft.« Er machte ein paar unsichere Schritte auf Kaim zu: »Ich sterbe nicht gern, ich habe Angst. Ich wollte noch so vieles sehen und erleben, lernen und probieren. Ich wollte noch reisen, andere Völker und andere Länder besuchen. Ja, alles in mir sträubt sich gegen den Gedanken, dass ich heute oder morgen sterben soll. Trotzdem würde ich Terrloff raten, sich dir nicht zu unterwerfen. Das würde ich überhaupt niemandem raten.«

Kaim sah Chlenos lange an. Schließlich brach es aus ihm heraus: »Glaubst du denn im Ernst, dass ich das alles gern tue?«

»Und warum tust du es dennoch?«, fragte Chlenos.

»Es geht nicht mehr anders. Die Dinge treiben unaufhaltsam auf eine Entscheidung zu. Es ist schon viel zu viel geschehen, was ich nicht mehr rückgängig machen kann. Ich bin der Gefangene meiner eigenen Entscheidungen. Jedes Nachgeben, jedes Einlenken käme jetzt zu spät.«

»Du könntest mit Terrloff reden.«

»Paaah!«, Kaim lachte bitter, »Terrloff ist im Anmarsch auf Ilaniz. Mit eigenen Truppen und Waffen, die wir noch nicht einmal kennen.«

»Du glaubst, er wird deine Burg angreifen?«

Kaim hob die Schultern. »Ilaniz ist schwer einzunehmen, aber er hat vielleicht das Volk auf seiner Seite.«

Chlenos nickte. »Du hast es nie für nötig gehalten, das Volk für dich zu gewinnen oder gar an wichtigen Entscheidungen zu beteiligen.«

»Hör auf, mir zu predigen«, fuhr Kaim auf.

Chlenos musste lächeln. »Ich bin ein Todeskandidat, denkst du, du könntest mir jetzt noch etwas befehlen?«, Kaim goss sich aus einem Zinnkrug Rotwein in einen Becher. Als er sprach, hatte sich seine Stimme verändert und plötzlich einen weicheren Klang bekommen. »Angenommen, ich wärewie duzum Liebling des Volkes geworden, glaubst du, dass Riamis mich dann geliebt hätte?«

Chlenos sah den anderen überrascht an. »Wie soll ich das wissen.«

Danach schwiegen die beiden Männer lange. Kaim trank in langen Zügen von seinem Wein, aber er bot dem Jüngeren keinen an. Er gestattete ihm lediglich, sich auf einen der Hocker zu setzen. Plötzlich ertönten aus dem Burghof die Geräusche von Hämmern und Sägen.

»Du lässt den Galgen für mich richten?«

»Ja, auf der höchsten Erhebung des Burgberges. Das ganze Volk soll es sehen.« Die Stimme von Kaim klang jetzt trotzig.

Chlenos erhob sich langsam und so, als ob er ein schweres Gewicht zu tragen hätte. »Lass mich bitte in den Kerker zurückbringen.«

»Du gehst, wenn ich es erlaube.«

»Unser Gespräch hat jeden Sinn verloren. Du bist verblendet und siehst keinen anderen Weg als den des erbarmungslosen Kampfes. Was sollen da noch Worte.« Chlenos ging zu der schweren eisenbeschlagenen Tür und rief: »He, Wache!«

Sofort traten zwei Soldaten ein.

»Bringt mich zurück.«

Kaim ließ es geschehen, ohne noch einmal das Wort an Chlenos zu richten. Er stierte noch eine Weile auf den Tisch, reckte dann plötzlich die Schultern, erhob sich zu seiner ganzen Größe und brüllte mit seiner Donnerstimme: »Yato!«

Der alte, weißhaarige Reiterführer kam sofort.

»Was hat dieser Steuereintreiber erzählt, hilft es uns?«,

»Ich habe sieben meiner besten Kundschafter losgeschickt. Wenn es uns gelingt, herauszufinden, welchen Weg Terrloff nimmt, können wir einen Hinterhalt legen.«

»Wir haben noch einen halben Tag und eine Nacht Zeit.«

»Das wird reichen«, sagte Yato knapp.

Zur gleichen Zeit, als Kaim mit Yato sprach, formierte sich der Zug in einem Felsversteck etwa vier Meilen vom Wasserfall entfernt landeinwärts. Terrloff hatte vier Gruppen gebildet und jeder von ihr einen genauen Weg befohlen. Am Morgen des nächsten Tages, kurz vor Sonnenaufgang wollten sie nahe der Burg Ilaniz wieder Zusammentreffen.

Mit Terrloff ritt Namur.

Janor, Coral und der alte Namur, den das Wiedersehen mit seinem Sohn zu verjüngen schien, führten je eine weitere Gruppe.

Es war ein bunter Haufen. Die meisten trugen noch immer abgerissene Kleider, aber jetzt hatten sie alle Waffen. Namurs Höhle schien bis zum Rand damit gefüllt gewesen zu sein. Fast jeder von Terrloffs Kämpfern verfügte über eine sehr genau schießende Armbrust, dazu trugen die meisten ein Zwischending von einem Degen und einem Schwert. Lange, beidseitig geschliffene Klingen, die sehr schmal waren und an einem kurzen Handgriff geführt wurden.

Trotzdem behielten die Bauern und Bergarbeiter ihre Steinschleudern und ihre einfachen Bogen bei sich.

Sechs Pferde zogen in drei Zweiergespannen die Kampfgeräte, die Namur entwickelt hatte.

Sie kamen gut vorwärts. Als die Nacht hereinbrach, war Terrloffs Trupp nur noch sieben Meilen von der Burg entfernt.

»Ich bin erstaunt, dass wir nicht auf Kaims Truppen gestoßen sind«, sagte Terrloff nachdenklich, als er sich im dichten Unterholz neben Namur setzte.

»Irgendetwas stimmt da nicht«, sagte auch Namur, »so verhält sich nur ein völlig Ahnungsloser, oder einer, der das Gegenteil ist.«

»Wie meinst du das?«

Namur stand unruhig auf und ging hin und her. »Nimm einmal an, Kaim lässt uns die ganze Zeit beobachten, er kennt jeden unserer Schritte und er wartet nur auf den günstigsten Augenblick, um zuzuschlagen.«

»Du könntest recht haben.«

Ein junger Mann trat aus dem Gebüsch auf die beiden zu. »Man hat Riller, den Steuereintreiber, auf der Burg gesehen.«

»Was bedeutet das?«, fragte Terrloff.

»Riller soll der Wache gesagt haben, er wisse etwas über dich, Terrloff. Der Steuereinnehmer wohnt in der Nähe des Wasserfalls. Er ist eine Schleichkatze und hat seine Ohren überall. Er ist heimtückisch und geldgierig. Wenn er etwas beobachtet hat, wird er Kaim für Geld alles sagen.«

Der alte Holder erschien zwischen den Bäumen. »Entschuldigt«, sagte der grauhaarige Mann, »aber Tacco, der Pfeifer hat mir soeben eine Nachricht gebracht, die mir wichtig erscheint.«

»Und warum kommt Tacco nicht selbst hierher?«, fragte Terrloff unwirsch.

»Er ist sofort wieder losgegangen, um noch mehr zu erfahren.«

»Gut, erzähle.«

»Yato, der Reiterführer, ist vor wenigen Stunden mit der Mehrzahl von Kaims Truppen ausgerückt. Es scheint, als ob sie unseren Treffpunkt für morgen früh kennen würden. Sie kreisen ihn ein.«

Terrloff hieb mit der Faust auf die flache Hand. »Wir müssen die anderen warnen.«

Die Männer um ihn herum nickten.

»Schickt Kuriere zu Janor, Coral und dem alten Namur, sie sollen…«

Terrloff unterbrach sich und ging unruhig auf und ab, niemand wagte ihn bei seinen Gedanken zu stören. »Ja, wir müssen es wagen«, sagte Terrloff schließlich, »sie sollen alle hierherkommen. Wir wollen versuchen, Yatos Reiter ihrerseits einzukreisen. Und noch eins: sagt Cyril, er soll mit Tacco und Zelon versuchen, sich in die Burg einzuschleichen. Wie auch immer die Kämpfe hier verlaufen, diese drei müssen auf der Burg bleiben und versuchen, Chlenos zu helfen.«

»Ich habe alles verstanden«, sagte der alte Holder und verschwand im Dickicht des Waldes.

»Und jetzt wollen wir versuchen, eine oder zwei Stunden zu ruhen«, sagte Terrloff.

Terrloff wurde von einem laut tirilierenden Vogel geweckt. Es war die Stunde vor der Dämmerung. Der Himmel über Ilaniz verfärbte sich langsam vom nächtlichen Blau in ein tiefes Rot. Terrloff erhob sich und ging zu einem nahegelegenen Bach, er wusch sich, kleidete sich an und schnallte sein Schwert um und griff nach seiner Armbrust. Dann stieg er auf einen Felsvorsprung hinauf, wo eine der Wachen ihren Platz hatte. Wortlos zeigte der Mann talwärts. Dort näherte sich eine Gruppe zu Fuß. Dann deutete der Wachhabende zum Berg hinauf. Im fahlen Licht der Morgendämmerung konnte Terrloff einen Reiter erkennen, der wie ein Scherenschnitt gegen den Himmel stand.

Nachdenklich ging Terrloff zum Lager zurück. Nacheinander trafen die Trupps unter Führung von Janor, Coral und dem alten Namur ein. Die Männer fielen müde ins Gras. Ihre Anführer versammelten sich um Terrloff. Janor berichtete: »Cyril, Tacco der Pfeifer und Zelon haben sich auf den Weg zur Burg gemacht. Sie werden versuchen, auf dem Schleichweg, den Cyril kennt, ins Innere zu kommen. Tacco hat uns zuvor noch berichtet, dass Yatos Truppen sternförmig auf den Tiefen Grund zu marschieren, ziemlich genau dorthin, wo wir uns eigentlich in zwei Stunden treffen wollten. Unser Plan muss verraten worden sein.«

Terrloff nickte. Dann wandte er sich an Namur, den Waffenschmied. »Kannst du deine Werfer so in Stellung bringen, dass du in zwei Stunden mit dem Beschuss der Burg beginnen kannst?«

Namur nickte, stand auf und sagte: »Ich brauche zwölf Mann.«

»Such sie dir aus!«, sagte Terrloff.

Namur verließ die anderen mit seinem Trupp.

Coral, der auf einem Stück Speck herum kaute, sah ihnen nach und murmelte: »Na, dann viel Glück und zerstört mir die Speisekammern nicht.«

»Wie stark schätzt ihr Yatos Truppen?«, fragte Terrloff.

»An die dreihundert Mann«, sagte Coral.

»Dann können auf der Burg nicht viele geblieben sein«, Terrloff kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Mit Yatos Leuten können wir es nicht aufnehmen, aber mit denen, die auf der Burg zurückgeblieben sind.«

»Du willst direkt die Burg angreifen?«, fragte Janor ungläubig.

»Das ist unsere einzige Möglichkeit?«, Terrloff sah zum Himmel. Die blutrote Farbe war verblasst, die Sonne kündigte sich mit leiser Helligkeit an.

»Chlenos soll in der Mittagsstunde sterben«, sagte der alte Namur mit ruhiger Stimme.

»Dann wollen wir keine Zeit mehr verlieren.«

»Einen Augenblick«, sagte Janor, »wenn es nicht anders geht, müssen wir tatsächlich sofort die Burg angreifen, aber dann lass mich etwas zur Ablenkung von Yatos Truppen tun.«

»Wie viel Mann brauchst du?«, fragte Terrloff.

»Gib mir Coral mit, das wird genügen.«

»Zwei Mann gegen dreihundert?«

»Ich will nicht gegen sie kämpfen, ich will sie lediglich ablenken.«

Terrloff zuckte die Achseln und sagte: »Wie du willst, mir wäre es lieber, du wärst an meiner Seite.«

»Am Abend werden wir wieder zusammen sein«, Janor nickte den anderen zu, winkte Coral, ihm zu folgen und ritt davon.

Terrloff bestieg eines der erbeuteten Pferde, einen Rappen, und ritt aus dem Dickicht heraus. Die Männer folgten, teils auf Pferden, teils zu Fuß. Ihr Weg führte sie über den Felsvorsprung, den Terrloff schon einmal vor der Dämmerung erklommen hatte. Ein Reiter stand hoch oben am Felsgrat. Terrloff erkannte einen Schimmel. »Das muss Rulant sein«, sagte er zu sich selbst.

 

Janor und Coral ritten in gestrecktem Galopp auf den Tiefen Grund zu. Sie gaben sich keine Mühe, unentdeckt zu bleiben. Einmal hielt Janor an, als er einen alten Mann am Wegrand sah: »Sind Yatos Reitertruppen hier durchgekommen?«

Der Alte nickte verängstigt.

»Wie viele?«

»Vielleicht vierzig.«

»Wann?«

»Es ist noch keine halbe Stunde her.«

»Danke.«

Die beiden ritten weiter. Schon kurze Zeit später konnten sie die Nachhut des Reitertrupps erkennen. Janor zwang sein Pferd über eine steinige Böschung nach links und ritt mit unverminderter Geschwindigkeit über halbverdorrtes Gras auf ein Wäldchen zu. Das Pferd hatte noch nicht angehalten, da war er schon abgesprungen. Aus seinem Mantelsack riss er trockenes Moos und Holz heraus und schichtete es auf. Keiner war im Feuerschlagen geschickter als er. Trotz der Hast, mit der er alle Vorbereitungen getroffen hatte, waren jetzt die Handgriffe ruhig und überlegt. Kurze Zeit später züngelten erste Flämmchen.

Coral sagte: »Glaubst du, dass sie darauf hereinfallen?«

»Ich gehe davon aus, dass sie keine genauen Angaben darüber haben, wo wir lagern wollten. Der Tiefe Grund ist ein weitläufiges Gebiet. Mag sein, dass der schwache Rauch dieses Feuers sie wenigstens bewegt, weiter nach uns zu suchen.«

Coral sah den Gefährten zweifelnd an.

Doch Janor ließ sich nicht abbringen. »Wir müssen so tun, als ob hier ein Lager gewesen wäre.«

Coral ritt nun mehrmals zwischen dem steinigen Hohlweg und der Feuerstelle hin und her. Dabei achtete er darauf, möglichst auf weichem Untergrund zu bleiben, damit die Hufe seines Pferdes tiefe Eindrücke hinterließen. Janor umrundete einstweilen den Feuerplatz zu Fuß und auf seinem Pferd, riss Äste von den Bäumen, verstreute Hafer und ein wenig Stroh aus den Satteltaschen. Coral kam zurück. »Ein erfahrener Mann wird sich davon nicht täuschen lassen.«

»Zumindest nicht sehr lange«, gab Janor zu.

Die beiden Männer ritten aus dem Wald hinaus, umgingen ihn in einem weiten Bogen und legten im Abstand von mehreren Meilen noch drei weitere falsche Lagerplätze an.