Prolog

Ich heiße Jakob Fender.

Hört sich nett an, oder? Ich kann mich allerdings nicht entsinnen, diesen Namen jemals gehört zu haben. Eigentlich erinnere ich mich an überhaupt nichts. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, wie ich in dieses Krankenzimmer gekommen bin.

Ich weiß gar nichts.

Klingt nach einer spannenden Geschichte. Ist es wahrscheinlich auch. Keine Ahnung, ob ich ein guter Erzähler bin, ich werd’s zumindest versuchen. Wie gesagt, es könnte interessant werden. Zumindest für mich.

Also, noch mal von vorn:

Ich heiße Jakob Fender.

Sagt zumindest die Ärztin. Sie wirkt kompetent, also wird es wohl stimmen. Als sie ins Zimmer kam, hat sie sich als Doktor Carlsson vorgestellt (ein Name, der mir genauso wenig sagt wie mein eigener). Ich scheine sie ziemlich dämlich anzuglotzen, denn sie erklärt, dass ich fünf Tage im Koma gelegen habe. Mein Erinnerungsvermögen wird bestimmt bald wieder einsetzen.

Aha.

Doktor Carlsson ist hübsch. Schlank, zierlich und ziemlich jung. Schwarzes, wahrscheinlich gefärbtes Haar, mit einem weinroten Gummiband im Nacken zu einem kurzen Zopf gebunden (besser kann ich sie nicht beschreiben – was immer ich auch sein mag, Schriftsteller oder etwas in der Art bin ich wohl nicht).

Sie fragt, ob ich Schmerzen habe. Als ich den Kopf schüttele, knistert der gestärkte Bezug des Kopfkissens dicht an meinen Ohren. Die gummierten Sohlen ihrer weißen Sneakers quietschen auf dem Linoleum; sie kommt näher, beugt sich über das Bett, fixiert mich aus dunklen Augen. Ich rieche ihr Parfüm. Lavendel und frische Orangen.

»Brauchen Sie etwas, Herr Fender?«

Fender. Jakob Fender.

Das bin ich.

Ich sage, dass ich Durst habe. Mit heiserer, belegter Stimme. Meiner Stimme. Ich habe sie noch nie gehört.

Durst.

Ein seltsames Wort, doch ich kenne seine Bedeutung. Ich weiß auch, dass das schwarze Ding rechts oben unter der geweißten Decke ein Fernseher ist (Flachbildschirm, neunzehn Zoll). Das Plastikviereck daneben ist eine Steckdose. Das kurze Kabel versorgt den Fernseher mit Strom, zweihundertzwanzig Volt, fünfzig Hertz (mit Technik kenne ich mich offensichtlich aus). Das rhythmische Piepsen rechts neben mir stammt von den Geräten, die meine Herztöne überwachen. Die Glasflasche, die links neben dem Bett an einem Stativ hängt, ist ein Tropf. Über den durchsichtigen Schlauch fließen Medikamente in meinen Körper (welche genau, kann ich nicht sagen, Mediziner bin ich also auch nicht). Ich weiß, dass der Tisch in der Ecke ein Tisch ist. Die Tür ist eine Tür. Das winzige schwarze Ding, das über mir surrend unter der Neonröhre kreist, ist eine Fliege.

Ich weiß noch mehr: Drei mal drei ist neun. Die Hauptstadt von Polen ist Warschau. Der Papst lebt in Rom. Netflix-Abos werden ständig teurer.

Mein Verstand funktioniert.

Warum weiß ich dann nicht, wo ich herkomme? Wer ich bin?

Die Ärztin erkennt meine Verwirrung.

Partielle Amnesie, erklärt sie. Ausgelöst durch die Schläge.

Schläge?

Sie tastet nach meiner Stirn. Erst jetzt bemerke ich den Verband um meinen Kopf. Mein Blick streift ihren Ausschnitt. Brüste, fällt mir ein, werden auch Titten genannt. Oder Möpse. Das widerstrebt mir; ein vulgärer Mensch scheine ich also nicht zu sein. Ich schließe die Augen, doch ich kann nicht verhindern, dass mir das Blut in den Unterleib schießt. Zumindest in dieser Hinsicht scheinen meine Körperfunktionen intakt zu sein.

Peinlich berührt sehe ich zum Fenster.

Die Sonne scheint schräg durch die Jalousien.

Als die Ärztin nach der Decke greift, glaube ich einen furchtbaren Moment, meine Erektion würde zum Vorschein kommen, doch sie streift die Decke nur bis zur Hüfte zurück. Ich hebe den Kopf, folge ihrem prüfenden Blick über meinen Oberkörper: flacher Bauch, kräftiger Brustkorb. Heller Flaum auf bleicher, glatter Haut. Der Körper eines durchtrainierten Mannes.

Mein Körper.

Ich scheine ebenfalls ziemlich jung zu sein.

Doktor Carlsson streicht über die Blutergüsse auf meinen Rippen. Ihre Finger sind kühl. Die Berührung ist sacht, doch ich sauge die Luft scharf zwischen den Zähnen ein.

Gebrochen, sagt sie, ist nichts, aber eine Prellung ist ebenfalls schmerzhaft. Auch mein Schädel ist unversehrt, das Röntgenbild zeigt keine Frakturen. Doch ich habe eine schwere Gehirnerschütterung.

»Sie sind übel verprügelt worden, Herr Fender.«

Meine rechte Hand verschwindet unter dicken Mullbinden. Sie hebt meinen Arm, um den Verband zu wechseln. Mein Kopf sinkt zurück in die Kissen. Die Augen fallen mir zu. Ein stechender Schmerz holt mich zurück in die Realität.

»Gleich vorbei«, beschwichtigt die Ärztin. »Ich muss nur die Nähte prüfen.«

Meine Hand hängt wie ein Fremdkörper am Unterarm, die Farbe erinnert an überreife Pflaumen. Doktor Carlsson bittet mich, die Finger nicht zu bewegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es überhaupt möglich wäre.

Der Daumen scheint unverletzt. Über die anderen vier Finger zieht sich ein Schnitt auf der Innenseite, als hätte man versucht, sie kurz über dem Handteller abzutrennen. Allem Anschein nach wäre das auch beinahe gelungen, die Wunden sind tief, mit feinen Stichen vernäht.

»Sie haben Glück gehabt, Herr Fender.«

Glück?

Die Wunden, erklärt Doktor Carlsson, heilen gut. Die Sehnen sind teilweise durchtrennt, doch die Knochen noch halbwegs intakt. Die Hand wird nie wieder vollständig funktionieren, zwei Finger werden wohl steif bleiben, aber es hätte wesentlich schlimmer kommen können.

Ich frage, was mit mir passiert ist.

»Das wissen wir nicht.« Sie beginnt, den Verband zu erneuern. »Die Polizei kann Ihnen bestimmt mehr sagen.«

»Die … Polizei?«

»Sie sind fast zu Tode geprügelt worden. Hätte man Sie eine halbe Stunde später in die Notaufnahme gebracht, wären Sie nicht mehr am Leben. Natürlich haben wir die Polizei informiert.«

Wieder sinkt mein Kopf in das Kissen. Der Tropf baumelt über mir am Stativ, die Sonne spiegelt sich auf dem Glas. Mein Blick folgt dem dünnen Schlauch, der unter einem Pflaster in meinem linken Unterarm endet. Egal, welche Medikamente ich bekomme, sie wirken hervorragend. Ohne die Schmerzmittel würde ich mich wohl schreiend auf den gestärkten Laken krümmen.

»Fertig.«

Doktor Carlsson lächelt mir aufmunternd zu. Als ich versuche, ihr Lächeln zu erwidern, spannt die verschorfte Haut auf meinen Wangen. Auch mein Gesicht hat wohl einiges abbekommen.

»Sie werden sich bestimmt bald erinnern.«

Ich nicke.

Die Ärztin verlässt das Zimmer. Ich hebe den rechten Arm, betrachte die frisch verbundene Hand. Es ist irgendwie tröstlich, dieses blau angelaufene, verkrümmte Ding nicht mehr ansehen zu müssen. Die Hand wird nie wieder richtig funktionieren.

Das, fällt mir ein, ist …

Die Tür wird aufgerissen, der blondierte Kopf einer korpulenten Krankenschwester erscheint im Spalt.

»Saft oder Tee?«

»Saft«, erwidere ich prompt. »Orangensaft, wenn Sie haben.«

Während mir das Gewünschte geholt wird, fasse ich zusammen, was ich bisher über mich weiß:

Vor einer knappen Woche wurde ich überfallen und ins Koma geprügelt. Ich bin jung und durchtrainiert. Den Haaren auf Brust und Unterarmen nach zu schließen, bin ich blond. Ich bin weder Arzt noch Schriftsteller. Ich mag keinen Tee. Wenn ich Saft trinke, bevorzuge ich Orangensaft.

Da ist noch etwas.

Ich versuche, die Finger unter dem Verband zu bewegen. Ohne Erfolg. Das ist nicht gut, denn ich brauche diese Hand. Wofür? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie wichtig ist. Unverzichtbar.

Das ist alles. Zugegeben, viel ist das nicht.

Mein Name ist Jakob Fender, und ich muss eine Menge herausfinden.

Einiges, fürchte ich, wird mir nicht gefallen.