Dreizehn

Als sie die Buchhandlung verließen, prallten sie unwillkürlich zurück. Zorn legte einen Arm um Friedas Hüfte, gleichzeitig schlossen sich Edgars Finger um seine verbliebene Hand.

Ohrenbetäubender Lärm gellte ihnen entgegen. Die verzerrte Stimme bellte über den Marktplatz, zurückgeworfen von den hohen Mauern der Kirche, der mit Sandstein verkleideten Rathausfassade und der verspiegelten Glasfront des Kaufhauses. Sie stammte von einem spindeldürren Mann, der auf der Ladefläche eines Pritschenwagens stand und geifernde Tiraden in ein Megaphon schrie, unterlegt mit dem Gejohle der Zuschauer. Oben im Laden hatte die Lautstärke auf eine größere Menschenmenge schließen lassen. Diese entpuppte sich nun als zwei etwas verloren wirkende Grüppchen, die sich in gebührendem Abstand vor dem Pritschenwagen drängten: Auf der einen Seite brachten knapp zwei Dutzend junge Leute ihren Unmut mit Trillerpfeifen und Buh-Rufen zum Ausdruck, auf der anderen bekundeten etwa ebenso viele, meist finster dreinblickende Gestalten grölend und klatschend ihren Beifall.

Zorn zog Frieda und Edgar nach links, um hinter dem alten Turm in einem Bogen zum Kaufhaus zu laufen.

Frieda lehnte ab: »Wegen diesem Wichser werde ich keinen Umweg machen!«

Edgar hob den Kopf, verwundert über ihre ungewohnte Wortwahl. Frieda selbst schien sich dessen nicht bewusst zu sein und ging mit zusammengepressten Lippen voraus.

Die Sonne stand tief zwischen den beiden schlanken Türmen der Kirche, hoch oben leuchteten die vergoldeten Spitzen wie gleißende Fixsterne. Der größte Teil des Marktes lag im Schatten des wuchtigen, spätgotischen Bauwerks, ausgenommen ein Streifen vor dem Rathaus gegenüber, vor dessen Eingangsportal der Pritschenwagen mit dem geifernden Mann parkte. Schräg hinter ihm hielt eine schwarz gekleidete Frau mit Schirmmütze ein Plakat in die Höhe (WIR SIND DAS VOLK ) , ihr Gesicht verschwand größtenteils hinter einer klobigen Sonnenbrille. Auch die stiernackigen Hünen links und rechts vor dem Kleintransporter trugen Schwarz, starrten ausdruckslos durch verspiegelte Sonnenbrillen und wippten mit gespreizten Beinen in ihren Springerstiefeln vor und zurück, während sich über ihre geschorenen Schädel eine hasserfüllte Tirade über den Markt ergoss.

»Papa?«

Edgar sah aus großen Augen zu Zorn auf. Er hatte darauf bestanden, die schwere Tüte mit dem Buch selbst zu tragen, die er jetzt schützend vor der schmalen Brust hielt.

»Ja?«

»Was macht ein Wichser?«

Gute Frage.

Zorn ging vor Edgar in die Hocke, deutete hinüber zu dem wild gestikulierenden Mann mit dem Megaphon. Das spärliche, im Nacken geschorene Haar war wie mit dem Messer gescheitelt, das hagere Gesicht gerötet, die Wangen von Akneflecken übersät. Speichel spritzte aus seinem Mund, der Adamsapfel hüpfte in dem dünnen, vogelähnlichen Hals auf und ab.

»Unsinn reden«, sagte Zorn. »Die Menschen gegeneinander aufhetzen.«

»Ich mag ihn nicht.«

»Ich auch nicht.«

»Er macht mir Angst.«

Zorn nahm Edgar wieder bei der Hand, sie gingen weiter. Der dünne Mann ereiferte sich über korrupte Eliten, Zwangsislamisierung und kriminelle Asylanten, die deutsche Frauen vergewaltigten und auf den Schulhöfen Drogen verkauften. Rechts vor dem Pritschenwagen brandete Beifall auf, Plakate wurden geschwenkt (BÜRGERMUT STOPPT ASYLANTENFLUT !), ein älterer Herr mit schwarz-rot-goldenem Anglerhütchen wedelte mit einer Reichskriegsflagge. Links bliesen die Gegendemonstranten in ihre Trillerpfeifen, einige trugen ebenfalls Transparente (RASSISTEN SIND ARSCHLÖCHER ), zwei junge Mädchen mit Palästinensertüchern trommelten auf ihren Bongos.

»Und was ist mit denen?«

Edgar zog an Zorns Hand und blieb stehen. Vor dem alten Glockenturm in der Mitte des Platzes parkte ein halbes Dutzend Mannschaftswagen mit flackerndem Blaulicht, davor stand eine Reihe martialisch aussehender Polizisten in schwarzer Montur.

»Die sind hier, weil sie ihn festnehmen wollen, oder?«

»Nee, Edgar. Das dürfen sie nicht.«

Edgar presste die Tüte an den Bauch.

»Aber du«, sagte er, »kannst ihn verhaften, oder?«

»Würde ich gern«, seufzte Zorn. »Aber ich darf’s auch nicht.«

Edgar sah sich ängstlich um. »Kannst du Ögi anrufen, Papa?«

»Warum?«

»Damit er herkommt.«

»Aber er will uns doch sowieso nachher zum Abendessen …«

»Er soll jetzt schon kommen.« Edgar warf einen bangen Blick zu dem Mann mit dem Megaphon. »Dann kann er den …«, er suchte einen Moment nach dem richtigen Wort, »Wichser verhaften.«

Wieder ging Zorn vor Edgar in die Hocke.

»Meinst du?«

»Ja«, nickte Edgar ernst. »Ögi kann alles.«

»Wir erzählen’s ihm nachher, okay?«

»Okay.«

»Vorher müssen wir noch einkaufen.« Zorn streichelte Edgars Wange. »Wollen wir danach noch ein Eis essen?«

»Nee.« Edgar schluckte. »Ich will nach Hause.«

Es war ein heller, sommerlicher Tag. Sonnenschirme flatterten vor dem italienischen Restaurant, es roch nach frischen Waffeln, gebratenen Würsten und den Blumen, die in den Buden rund um den Glockenturm verkauft wurden. Und doch fühlte auch Zorn sich unwohl. Es war beklemmend, als würde sich die Wutrede aus dem Megaphon zu einer Wolke verdichten, die wie eine düstere, gespenstische Glocke über dem Markt hing. Die Menschen liefen über den Platz, stiegen aus den Straßenbahnen und gingen in die Geschäfte. Kaum jemand blieb stehen, die meisten hasteten mit ihren Einkäufen vorbei. Ab und zu ein Kopfschütteln, ein verständnisloser Blick oder ein entrüstetes Murmeln, bevor sie in den engen Seitengassen verschwanden.

»Warum darf der das?«, fragte Edgar.

»Das erklär ich dir später, ja?«

Edgar war klug genug, das Gekeife zu verstehen. Doch es war schwer, einem sieben… nein, fast acht jährigen Jungen zu erklären, dass die Veranstaltung angemeldet war und nicht verboten werden konnte. Zorn verstand es ja selbst nicht.

Sie überquerten die Straßenbahnschienen und liefen auf Frieda zu, die an der Haltestelle wartete. Ein gelb-grün gestreifter VW -Bus mit dem Logo eines Lieferservices kam langsam näher. Der Fahrer, ein bärtiger Mann mit kurzgeschnittenem Haar, bremste, winkte Zorn und Edgar lächelnd vorbei und fuhr wieder an.

Ein Polizist stoppte den Bus, der Mann am Steuer zeigte ein gestempeltes Formular, wurde durchgewinkt und parkte gegenüber dem Pritschenwagen. Während die drei zum Eingang des Kaufhauses gingen, forderte die verzerrte Stimme die Polizisten auf, sich als freie Bürger nicht zu willenlosen Bütteln der Staatsmacht degradieren zu lassen, und ging plötzlich in einem dröhnenden Discobeat unter, der aus der geöffneten Heckklappe des VW -Busses dröhnte.

Der Slogan HELDEN DES GUTEN GESCHMACKS zog sich in fetten Buchstaben vom Kotflügel bis zum Heck, auf den Türen prangten Aufkleber mit einer stilisierten Salatschüssel auf Rädern. Essen wurde allerdings nicht ausgeliefert, der Laderaum war bis unter das Dach mit einer Beschallungsanlage vollgestopft, die über eine beachtliche Leistung verfügen musste: die Musik – ein fröhlicher Abba-Song – ließ die Fenster des Rathauses vibrieren, doch der Sound war glasklar.

Eine schmale Frau, die das Rentenalter schon vor Jahren erreicht hatte, löste sich aus der kleinen Schar der Gegendemonstranten, stellte sich mit ihrem OMAS -GEGEN -NAZIS -Plakat vor den Pritschenwagen, breitete die Arme aus und begann, lächelnd zu tanzen. Direkt über ihr schrie sich der Mann mit dem Megaphon die Seele aus dem dürren Leib in dem vergeblichen Mühen, die Musik zu übertönen. Zwei Punks gesellten sich zu der alten Dame, wirbelten in einem wilden Pogo umher, und obwohl der Song Jahrzehnte vor ihrer Geburt aufgenommen worden war, sangen sie jede Zeile von Dancing Queen mit.

Der Fahrer des VW -Busses lehnte mit verschränkten Armen an der Karosse. Er trug schwarze Jeans, ein weißes, bis zu den Ellbogen hochgekrempeltes Hemd, um den Hals schlang sich ein dunkelblauer Seidenschal. Als der Mann mit dem Anglerhut und der Reichskriegsflagge mit drohend erhobener Faust auf ihn zustürmte, wartete er seelenruhig ab. Zwei Polizisten stellten sich dem schäumenden Hütchenträger in den Weg und führten ihn ab. Die letzten Akkorde verklangen, die verzerrte Stimme schrie etwas von Meinungsfreiheit und Bürgerrechten, um im nächsten Moment unter dem Gitarrenlärm eines weiteren Popsongs zu verschwinden.

»COOL !«, schrie Edgar. »MICHAEL JACKSON

Ein dumpfer Knall erklang, der Redner schleuderte das Megaphon zu Boden, stieß wutschnaubend die schwarz gekleidete Frau zur Seite, sprang von der Pritsche und verschwand hinter dem Fahrerhaus.

Zorn bemerkte ein Kamerateam, das kurz nach dem gestreiften VW -Bus erschienen sein musste. Der bärtige Fahrer beugte sich in den Laderaum, die Musik wurde leiser, kurz darauf war der Bus von einer Schar Reporter umringt.

»Tja«, sagte Zorn. »So einfach kann’s gehen.«

Edgar, dessen Angst schlagartig verschwunden war, übernahm die Initiative und verteilte die Aufgaben. Um Zeit zu sparen, sollte sich Frieda unten in der Feinkostabteilung um das Essen kümmern, Zorn in der dritten Etage die Controller besorgen, danach würden sich alle hier treffen.

»Und du?«, fragte Zorn. »Was machst du?«

Das, erwiderte Edgar, lag ja wohl auf der Hand. Er selbst werde natürlich ebenfalls in die Technikabteilung fahren, allein wäre die olle Miesmuschel völlig aufgeschmissen und würde sich anstelle der Controller wahrscheinlich einen Toaster und eine Kaffeemaschine andrehen lassen. Diese Befürchtung war durchaus berechtigt, trotzdem empörte sich die Miesmuschel wider besseres Wissen über die bösartige Unterstellung.

Als die drei eine halbe Stunde später ihre vollgepackten Einkaufstüten über den Markt schleppten, hatte der Spuk sich verzogen. Pritschenwagen und VW -Bus waren verschwunden, der letzte Einsatzwagen brauste mit blinkendem Blaulicht davon. Nur ein zertretenes Plakat vor der Haltestelle und der aus einem Papierkorb herausragende Stiel einer Reichskriegsflagge erinnerten an das, was vor wenigen Minuten passiert war.

Und die beiden Punks, die mit ihren Bierbüchsen auf der Rathaustreppe in den letzten Strahlen der Sonne saßen und den Refrain von Dancing Queen sangen.