Neununddreißig

»Ich störe nur ungern«, sagte Schröder. »Wir wissen, dass Sie Ruhe brauchen, aber ich habe ein paar dringende Fragen.«

Jakob Fender stand in der halb geöffneten Wohnungstür. Es hatte eine Weile gedauert, bis er auf Schröders Klingeln reagierte. Seine Augen waren gerötet, das Haar zerzaust. Er blinzelte, nickte dann, deutete einladend nach innen und ging voraus.

»Falls ich Sie geweckt haben sollte …«

»Kein Problem.«

Fenders Stimme klang belegt. Schröder folgte ihm durch den Flur in die Küche, warf im Vorbeigehen einen Blick in die Zimmer und taxierte sein Umfeld: Helle, lichtdurchflutete Räume. Geschmackvolle Einrichtung, überwiegend aus Chrom und Edelhölzern. Akribische, geradezu peinliche Sauberkeit, wodurch die Scherben der umgestürzten Designerlampe im Wohnzimmer und das zerwühlte Bett im Zimmer gegenüber noch mehr auffielen. Auch der süßliche, charakteristische Geruch entging Schröder nicht.

In der Küche bot sich ein ähnliches Bild, diesmal gestört durch eine Reihe Cornflakes, die auf dem polierten Küchentisch eine schnurgerade Linie bildeten.

»Ich habe Schwierigkeiten mit dem Essen«, entschuldigte sich Fender, wischte die Cornflakes mit der gesunden Hand in eine Porzellanschüssel und sank erschöpft auf einen Stuhl. Schröder lehnte seine Aktentasche an ein Tischbein und nahm gegenüber Platz.

»Geht es Ihnen besser?«

»Die Verletzungen heilen«, nickte Fender müde. »Psychisch gesehen kann ich nur hoffen.«

»Sie erinnern sich nicht?«

Fender hob traurig die Schultern. »Ich muss geduldig sein.«

Er rieb das verquollene Gesicht. Schweiß glänzte auf seiner Stirn, färbte die Achseln des zerknitterten Hemdes. Der Traum, aus dem Schröder ihn geweckt hatte, schien alles andere als angenehm gewesen zu sein.

»Ich war vor drei Tagen im Krankenhaus«, begann Schröder. »Ich habe mit Ihrer Ärztin gesprochen. Mit Ihrer Frau …«

»Ex frau.«

»… ebenfalls.«

»Mona hat erzählt, dass Sie zu mir wollten. Es ging um meine Fingerabdrücke.«

»Sie sind mit einem Baseballschläger angegriffen worden.«

Fender spannte sich. Ein wenig nur, doch Schröder entging es nicht.

»Wir brauchen Ihre Abdrücke, um die des Angreifers identifizieren zu können«, sagte er. »Aber dazu kommen wir später. Ich würde Ihnen gern ein paar …«

»Kann ich Ihnen etwas anbieten?«

Fender hatte Angst. Angst vor dem, was er von Schröder erfahren würde. Da es sich nicht vermeiden ließ, wollte er’s wenigstens so lange wie möglich hinauszögern.

»Einen Kaffee vielleicht?« Er wies auf die Espressomaschine. »Ich habe zwar keine Ahnung, woher ich das Ding habe, aber ich weiß genau, wie es funktioniert. Bei meinem Mac ist es ähnlich.« Er sah durch den Flur zum Wohnzimmer. »Den könnte ich problemlos bedienen. Allerdings fehlt mir das Passwort, und das«, er tippte sich an die Schläfe, »ist zwar auch irgendwo hier drin, aber ich finde es nicht.«

Schröder bemerkte die Untertasse mit dem ausgedrückten Joint neben der Spüle. Fender, der seinem Blick gefolgt war, räusperte sich.

»Ich habe versucht, meine Erinnerungen … nun ja, etwas aufzufrischen. Falls das …«

»Für Drogendelikte bin ich nicht zuständig«, lächelte Schröder. »Ich arbeite bei der Mordkommission.«

»Sie glauben, dass man mich ermorden wollte?«

»Sie nicht?«

Fender holte tief Luft. Das Hemd spannte über der sehnigen Brust.

»Doch«, murmelte er. »Ich weiß nur nicht, warum.«

»Ich bin hier, um mit Ihnen über ein anderes Verbrechen zu reden. Den Mord an der Hochstraße.«

»Welchen Mord?«

»Gestern Morgen. Sie haben bestimmt davon gehört.«

»Ich habe die Blaulichter gesehen und dachte, es wäre ein Verkehrsunfall.« Fender schüttelte den Kopf. »Doktor Carlsson meinte, ich solle mich nicht ablenken lassen. Also habe ich mich hier eingeschlossen und versucht, mich zu konzentrieren. Ich habe weder den Fernseher eingeschaltet noch die Nachrichten im …«

Fender stockte.

»Ich habe den Fernseher nicht eingeschaltet.« Er sprach mit sich selbst. »Und das andere …«, seine Zunge fuhr über die trockenen Lippen, »auch nicht.« Er sah Schröder hilflos an, deutete zum Fenster. »Sie wissen schon, das Ding auf dem Fensterbrett. Ich komme gerade nicht auf den …«

»Sie meinen das Radio.«

»Genau!« Fender lachte schrill auf. »Entschuldigung, kleiner Aussetzer. Das geht angeblich vorbei, aber im Moment«, er drehte den Zeigefinger vor der Stirn, »sind hier noch einige Schrauben locker.«

»Der Tote heißt Björn Kuchta«, sagte Schröder. »Ein bekannter Neonazi, der – alles in Ordnung?«

Fenders Finger umkrallten die Tischkante. Sämtliche Farbe wich aus seinem Gesicht, im Gegenzug erflammten die Blutergüsse auf der wachsbleichen Haut.

»Herr Fender?«

»Kuchta«, murmelte Fender.

»Kennen Sie ihn?«

»Ich … keine Ahnung.«

Fender sah Schröder ratlos an. Seine Verwirrung war nicht gespielt.

»Herr Kommissar, ich würde mich jetzt gern …«

»Eine Minute noch. Wir sind gleich fertig.«

Schröder hob die abgewetzte Aktentasche auf seinen Schoß, kramte einen Umschlag hervor und schob ein Überwachungsfoto der Verfassungsschützer über den Tisch. Im Innenhof, wo Fender verprügelt worden war, hatte Schröder sich vom Geschwätz der alten Dame ablenken lassen. Die blasse Frau, die zwischendurch aus dem Hinterhaus kam, hatte er nur flüchtig gesehen, doch trotz der Sonnenbrille auf den Observierungsfotos erkannt.

»Kennen Sie diese Frau?«

Fender beugte sich über das Foto.

»Nie gesehen.«

»Paula Hecht. Sagt Ihnen das was?«

»Glauben Sie mir«, Fender schüttelte ratlos den Kopf, »ich wäre schon froh, wenn mir mein eigener Name etwas sagen würde.«