Einundfünfzig

Als wir allein waren, saßen wir lange schweigend auf dem Sofa, Mona noch immer weitestmöglich entfernt, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Ich suchte vergeblich nach Worten, ging zum Fenster und sah die beiden Kommissare unten vor dem Haus auf einen weißen Volvo zulaufen – das neueste Modell, erst seit zwei Monaten auf dem Markt, trotzdem geradezu sträflich verwahrlost, wie im Licht der Laternen deutlich zu sehen war. Es überraschte mich nicht, dass der langhaarige Kommissar seine erst halb aufgerauchte Zigarette auf dem Bordstein zertrat, die verdreckte Fahrertür öffnete und sich schwerfällig hinter das Steuer hievte, während sein Kollege auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Er hatte mir seine Dienstmarke gezeigt – HAUPTKOMMISSAR CLAUDIUS ZORN –, und als der Wagen holpernd anfuhr, sah ich seine Initialen auf dem Nummernschild. Es handelte sich also um sein Privatfahrzeug. Es war eine Schande, geradezu empörend , den Volvo in diesem jämmerlichen Zustand zu sehen, doch es passte zu diesem Polizisten, dem es in seiner Ignoranz gelungen war, den Wagen innerhalb kürzester Zeit herunterzuwirtschaften.

Hinter mir knarrten die Lederpolster des Sofas. Ich wandte mich um, Mona sah mich schweigend an. Als sie nach ihrer Handtasche griff, um aufzubrechen, redete ich einfach drauflos.

»Die Wohnung ist ziemlich groß.«

»Was du nicht sagst.«

»Es ist schon nach Mitternacht. Wenn du nicht allein sein willst …« Ich geriet ins Stocken. »Ich meine, Platz ist mehr als genug. Wenn du magst …«

»Was?«

»… kannst du auch hier schlafen.«

Ich schwöre, ich hatte keinerlei Hintergedanken. Sex war das Letzte, woran ich dachte. Mona muss das bewusst gewesen sein, trotzdem reagierte sie, als hätte ich vorgeschlagen, den Reichstag zu sprengen.

»Du spinnst.«

Sie lachte auf. Es klang metallisch und rau, wie das Krächzen einer alten Frau.

»Warst du schon mal hier?«, fragte ich.

»Klar.« Kopfschüttelnd stand sie auf. »Letzte Woche, als ich deine Klamotten abgeholt hab.«

»Ich meinte vorher. Bevor du mir die Sachen ins Krankenhaus …«

»Nein.« Sie schien verblüfft, der Gedanke war offensichtlich absurd. »Warum sollte ich?«

»Wir müssen uns doch abgesprochen haben. Wegen Holm.«

»Da gab’s nicht viel zu besprechen. Er ist …« Sie wischte in einer fahrigen Bewegung mit dem Handrücken über die Augen. »Im Heim ging’s ihm gut. Das war alles, was wir für ihn tun konnten.«

Ich bat sie, noch einen Moment Platz zu nehmen. Mona gehorchte widerwillig. Als ich wissen wollte, ob wir Holm manchmal gemeinsam besucht hatten, verneinte sie. Ich selbst war samstags bei ihm gewesen, Mona an den anderen Tagen.

»Immer?«, fragte ich.

»Jeden Nachmittag, zwei Stunden bis zum Abendbrot.«

»Was … was habt ihr gemacht? Entschuldige«, ich versuchte zu lächeln, »aber ich würde das wirklich gern wissen.«

»Ich hab ihm vorgelesen.« Sie saß steif auf der Sofakante, die Augen auf die Handtasche auf ihrem Schoß gerichtet. »Das liebt er. Janosch, Schulbücher, egal was. Und er mag Memoryspiele. Und Puzzles. Am besten mit der Rückseite nach oben, da ist er richtig gut.« Monas Gesicht hellte sich auf. »Und seinen Zauberwürfel, den liebt er auch.«

Im Bruchteil einer Sekunde war ihr Lächeln wieder verschwunden. Es mag albern klingen, aber es erinnerte an einen Sonnenstrahl, der durch einen düsteren Wolkenhimmel bricht und im nächsten Moment wieder verdeckt ist.

Ich nickte. »Mit dem Würfel hat er heute Vormittag gespielt.«

Wir schwiegen einen Moment.

»Und er hat nie was gesagt?«, fragte ich.

»Nie. Aber er war glücklich, wenn ich bei ihm war.«

»Woran hast du das …«

»Ich bin seine Mutter.«

»Klar. Sorry, war ’ne blöde Frage.«

»Ich muss jetzt wirklich …«

»Warte kurz. Bitte.«

Plötzlich tauchten die Fragen auf, eine ergab die nächste. Ich wusste nicht, wann ich wieder Gelegenheit bekommen würde, sie zu stellen.

»Wir beide hatten keinen Kontakt?«

»So gut wie nie.«

»Und ich hab nie versucht … du weißt schon.« Ich versuchte ein weiteres Lächeln. »Wieder was mit dir anzufangen? Wegen der alten Zeiten und …«

»Nein!«

Ihre Finger krallten sich in die Henkel der Handtasche.

»Bist du wieder …« Ich überlegte einen Moment. »Das geht mich natürlich nichts an, aber … hast du ’ne neue Beziehung? Darauf musst du nicht …«

»Es gibt niemanden.«

»Und ich?«

»Du?« Sie schien mich nicht zu verstehen. »Woher soll ich das wissen?«

»Stimmt, die Frage war genauso dämlich.«

»Ich kann’s mir jedenfalls nicht vorstellen.«

»Warum?«

Sie hob stumm die Schultern. Mein Hals war trocken, ich hatte furchtbaren Durst. Doch das war jetzt unwichtig.

»Wieso warst du bei mir im Krankenhaus, Mona?«

»Offiziell sind wir verheiratet. Es gab niemanden, den sie hätten anrufen können.«

»Hatte ich Freunde? Abgesehen von Hagen?«

»Nein.«

»Ich … ich scheine ein ziemlich einsamer Mensch zu sein, oder?«

Monas Antwort bestand in einem weiteren Achselzucken. Ruckartig stand sie auf, endgültig zum Aufbruch entschlossen.

»Nur noch eine Frage, okay?«

Sie versuchte nicht, ihre Ungeduld zu verbergen. »Was?«

»Glaubst du immer noch, dass ich was mit Holms Verschwinden zu tun habe?«

»Das war mein erster Gedanke.«

»Und jetzt?«

Ich sah zu ihr auf wie ein Angeklagter in Erwartung des Urteils. Sie ließ sich Zeit. Lange, sehr lange.

»Nein«, sagte sie schließlich.

Es war nur ein kleiner Trost, doch dass sie mir nicht mehr die Schuld gab, erleichterte mich ungemein.

»Die werden Holm bestimmt finden.« Die Behauptung entbehrte jeglicher Grundlage, doch in diesem Moment glaubte ich meinen eigenen Worten. »Und ich erinnere mich bestimmt irgendwann«, sprudelte ich hervor. »Als ich bei Holm war, hab ich das Loch über seinem Schreibtisch gesehen und gewusst, dass da dein Foto gehangen hat. Und dann ist mir eingefallen, dass er seine Schokolade nur isst, wenn sie vorher im Kühlschrank war. Das ist natürlich Kleinkram, aber es wird besser. Und wenn das so weitergeht, dann …«

»Du hast keine Ahnung.«

Sie machte kopfschüttelnd kehrt, murmelte etwas im Gehen.

»Mona?« Ich stand auf. »Was hast du gesagt?«

»Ich sagte«, sie wandte sich um, »dass ich dich beneide.«

»Ich verstehe nicht …«

»Nimm die Hände von mir!«

Ihre Stimme bebte vor Wut.

»Bitte, Mona.« Ich ließ hilflos den Arm sinken. »Erklär mir das.«

Das tat Mona nicht. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, war ich also kaum klüger als zuvor. Nur in einem Punkt hatte ich jetzt Gewissheit. Früher mochte mich Mona vielleicht geliebt haben. Jetzt, so viel war klar, hasste sie mich.