»Dein Sohn wird mit Nahrung und Medikamenten versorgt.«
Ich presste das klobige Handy ans Ohr. Beim ersten Anruf hatte ich versucht, Fragen zu stellen. Diesmal lauschte ich schweigend. Es war zwecklos, etwas zu sagen.
»Gegenforderungen werden nicht akzeptiert.«
Hagen wiederholte exakt denselben Text. Doch es war keine Aufzeichnung. Es klang, als würde er die Worte …
… ablesen?
»Es wird kein Lebenszeichen geben.«
Die Hintergrundgeräusche waren anders. Ich kannte den Wortlaut, also konzentrierte ich mich auf anderes. Den Nachhall seiner Stimme. Kurz, scheppernd. Ein Keller? Im Hintergrund ein Plätschern. Ein Wasserhahn?
»Wenn die Polizei kontaktiert wird, ist er tot.«
Etwas klapperte. Nein, eher ein Klicken. Als würden Zahnräder ineinandergreifen. Ich konnte es nicht zuordnen.
»Wenn andere Personen kontaktiert werden …«
Atemzüge. Nicht die von Hagen. Er war nicht allein.
»… ist er tot.«
Ich wusste, was folgte.
Wir melden uns.
Danach würde die Verbindung unterbrochen werden. Der Druck war erhöht, ich selbst weiter im Unklaren. Bis ich irgendwann so zermürbt war, dass ich am Boden lag.
Es kam anders.
»Die Forderung beträgt …«
Ich hörte die Summe. Ein weiterer Schalter legte sich in meinem Verstand um.
»Keinen Cent weniger. Wir wissen, dass du das Geld hast.«
Mir war sofort klar, dass die Behauptung korrekt war. Als die Verbindung in der nächsten Sekunde unterbrochen wurde, wusste ich bereits, wo ich suchen musste. Ich kam allerdings nicht dazu, darüber nachzudenken, denn kaum hatte ich mir Gewissheit verschafft, klingelte mein übergewichtiger Nachbar aus dem Haus schräg gegenüber, um sich einen Phasenprüfer zu borgen.
Wirklich, kein Witz.
Einen verdammten Phasenprüfer .
»Müsste die Werkstatt mal wieder aufräumen«, keuchte er mit einem entschuldigenden Grinsen. »Keine Ahnung, wo meiner ist.«
Mein Nachbar stand schwer atmend im Hausflur, das feiste Gesicht vom Treppensteigen gerötet. Anstelle der Latzhose trug er plumpe, formlose Jeans. Ein schwarzes, unter den Achseln von Schweiß durchnässtes T-Shirt mit dem verwaschenen Aufdruck TRINKE BIER , SPARE WASSER spannte über seinem Bauch.
»Sarah will, dass ich die Steckdose in der Küche repariere. Die funktioniert schon seit Monaten nicht. Aber nein«, er verdrehte die wässrigen Glubschaugen, »es muss unbedingt jetzt sein.«
Neulich hatte ich beobachtet, wie eine Frau in Kittelschürze und mit ähnlicher Statur wie mein Besucher (allerdings einen Kopf kleiner) drüben auf einem der Balkone im Erdgeschoss mit einer grünen Plastikgießkanne die Geranien in den Blumenkästen goss. Das musste seine Frau gewesen sein.
Sie hieß also Sarah. Nützlich war diese Erkenntnis nicht.
»Dass ich zu spät ins Büro komme, interessiert da nicht«, plapperte er weiter. »Na ja, Weiber. Du kennst das ja.«
Ich schob die Mundwinkel nach oben in der Hoffnung, sein Grinsen halbwegs glaubwürdig zu erwidern. Ich hatte ihn über ein Dutzend Mal klingeln lassen, doch er war hartnäckig geblieben, weil er wusste, dass ich da war. Es war kaum zu überhören gewesen. Ich hatte ziemlichen Lärm gemacht.
»Hast du zufällig einen, Jacky?«
Hatte ich. Der Werkzeugkasten stand weniger als anderthalb Meter hinter mir. Doch wenn ich zurücktrat, gab ich den Blick auf die Schwelle zum Wohnzimmer frei. Der Typ war ein Trottel, doch selbst ein Trottel würde Fragen stellen.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich hab kaum Werkzeug, höchstens ’nen Schraubenzieher. Du weißt doch«, schoss ich ins Blaue, »am Computer kenne ich mich aus, aber handwerklich bin ich ’ne Niete.«
»Schon klar.« Als er nickte, verschwand sein Kinn in den Speckfalten am Hals. »Und sonst?« Er reckte sich, um an mir vorbei einen Blick in die Wohnung zu werfen. »Alles okay?«
»Bestens.«
Ich lehnte mich in den Türrahmen und verdeckte ihm die Sicht. Er bemerkte mein verdrecktes Hemd, auch meine Hände starrten vor Schmutz. Die Finger der gesunden waren regelrecht schwarz, die Knöchel aufgeschürft, der Verband über der anderen von einer dicken Staubschicht bedeckt.
»Bin am Aufräumen«, kam ich seiner Frage zuvor. »Ich hab das Sofa zur Seite geschoben, da hat sich ’ne Menge angesammelt. Hab ja Zeit, bin noch ’ne Weile krank geschrieben.«
»Was ist eigentlich passiert?«
»Arbeitsunfall. Die Rechner in der Revisionsabteilung werden neu verkabelt. Da mussten etliche Leitungen gezogen werden. Eigentlich macht das die Haustechnik, aber die sind ewig nicht fertig geworden. Also bin ich selbst auf die Leiter gestiegen. War ’n Fehler. Du kennst mich ja.« Ich schätze, beim zweiten Versuch gelang mein Grinsen besser. »Wenn ich irgendwo anfasse, wird’s schlimmer, als wenn zwei andere loslassen.«
Sein Lachen dröhnte durch das Treppenhaus wie der Brunftschrei eines asthmatischen Walrossbullen.
»Ich sag’s immer wieder!« Er rieb die tränenden Augen. »Du hättest Komiker werden sollen!«
Ein Bild schoss durch meinen Kopf. Zwei Männer lümmeln an einem lauen Sommerabend unten auf den Bänken der gemauerten Grillecke hinter den Carports. Der eine – ich – nippt an einem alkoholfreien Bier und erzählt einen Witz (gibt ’ne Frau ’ne Kontaktanzeige auf: Suche Mann mit Pferdeschwanz, Frisur egal) , worauf sich sein grölender Nachbar so heftig auf den dicken Schenkel klopft, dass das Hefeweizen aus der Flasche schäumt.
Jakob Fender war also ein Witzbold.
War das eine nützliche Information?
Auch darüber konnte ich mir nicht weiter den Kopf zerbrechen, denn der Dicke wiederholte kichernd, noch nie einen größeren Spaßvogel getroffen zu haben, ballte die behaarte Faust und gab mir einen Stups in den Bauch.
Zwei Dinge wurden mir klar. Erstens, dass meine Rippen verheilt waren, denn ich spürte keinerlei Schmerz. Zweitens wurde die Zeit immer knapper, denn es gelang mir nur noch mit allergrößter Mühe, die Fassade des leutseligen Kumpels aufrechtzuerhalten. Es war eine Frage von Sekunden, bis ich meinem ungebetenen Besucher kreischend an die Kehle springen würde.
»Also dann …« Ich nickte ihm zu. »Mach’s mal gut.«
Pause.
»Dennis.«
Halleluja! Du erinnerst dich an seinen Namen!
»Alles klar. Bis dann, Jacky.«
Er wandte sich glucksend ab. Watschelte breitbeinig die Treppe hinab, die breiten Schultern bebten vor Lachen.
Ich schloss die Wohnungstür. Meine Knie wurden weich, ich sank mit dem Rücken am Türblatt nach unten und kam auf den polierten Dielen zum Sitzen.
Ich betrachtete den Spalt im Fußboden, direkt hinter der Schwelle zum Wohnzimmer. Das Dielenstück lehnte hochkant neben dem Werkzeugkasten an der Wand. Ich hatte nicht nach dem passenden Schraubenzieher suchen müssen, es war derselbe, mit dem ich die Schrauben befestigt hatte. Das Lösen war im Handumdrehen erledigt, doch die Diele war verhakt – was das ständige Knarren erklärte –, weshalb ich ein Stemmeisen benutzen musste. Nachdem das Päckchen zutage gefördert war, hatte ich mich auf den Bauch gelegt, den Hohlraum abgetastet und mir das Hemd eingesaut. Außer Staubflusen und uralten Dreck hatte ich nichts weiter gefunden.
Das Päckchen lag jetzt auf dem Couchtisch, in etwa so groß wie eine Stange Zigaretten. Fünfzig-Euro-Scheine, in Banderolen zu fünftausend Euro verpackt, das Ganze in Folie verschweißt und zusätzlich mit Klebeband umwickelt. Nachzählen musste ich nicht.
Einhundertzwölftausend Euro. Exakt das, was für Holms Freilassung gefordert wurde. Die Summe hatte das morsche Getriebe in Gang gesetzt. Einen Moment nur, denn nach einem kurzen Ruck hatte es sich wieder verhakt.
Wir wissen, dass du das Geld hast.
Tja. Ich wusste’s jetzt auch. Woher ich’s hatte und warum es unter der Diele versteckt war, blieb ein Rätsel. Ebenso wie die Frage, woher Holms Entführer diese Informationen hatten.