Dreiundsechzig

Ich rief Mona an. Die Einladung zum Kaffee ersparte ich mir und bat sie einfach, zu kommen. Ich unterdrückte den Impuls, die mithörenden Polizisten Kommissar Schröder von mir grüßen zu lassen – es hätte womöglich wie eine Verhöhnung geklungen.

Der Kommissar war klug. Doch auch er würde keine Erklärung für das Geldpaket haben. Stattdessen würde er sich fragen, woher ich das Geld hatte. Ich konnte nur hoffen, es selbst herauszufinden. Aber die Zeit wurde knapp.

Ich verstaute das Päckchen in der Schublade mit den Kontoauszügen und blieb eine Weile am Schreibtisch sitzen.

Wir wissen, dass du das Geld hast.

Wer war das?

Wir ?

Die kannten meine Schwachstelle: Holm. Wussten nicht nur von dem Geld, sondern auch von dem Handy mit der Walkie-Talkie-Funktion. Sie wussten verdammt viel über mich. Mehr als Mona, mit der ich ein Kind hatte. Wer kam da eher in Frage als mein … bester Freund ? War es nicht logisch, dass er mich besser kannte als jeder andere?

Du hättest dich nicht mit mir anlegen sollen, Jacky.

Die letzten Worte meines Angreifers, bevor er mich ins Koma prügelte. Unmöglich zu sagen, ob die zischende Stimme dicht an meinem Ohr dieselbe war, die ich zuerst auf meiner Mailbox, später beim Telefonat mit dem iPhone und schließlich aus dem Walkie-Talkie-Handy gehört hatte. Aber ich war mir sicher: der Mann, der mir im Hinterhof aufgelauert hatte, steckte auch hinter Holms Entführung.

Er trug einen Bart, Hagen ebenfalls. Ein weiteres Indiz. Andererseits … warum hatte Hagen nicht versucht, seine Identität zu verbergen? Ich hatte ihn klar und deutlich gehört. Beim zweiten Anruf hatte er den Text Wort für Wort wiederholt. Als würde er ihn vorlesen. Konnte es sein, dass …

Mein iPhone vibrierte auf dem Couchtisch. Doktor Carlsson wollte wissen, warum ich am Morgen nicht im Krankenhaus erschienen war. Auch beim Psychologen war ich nicht aufgetaucht. Der Anruf kam mir in etwa so gelegen wie der Besuch meines Nachbarn. Doch aus ärztlicher Sicht waren die Mahnungen mehr als berechtigt, und da Doktor Carlsson nicht anrief, um sich einen Phasenprüfer zu leihen (haha), entschuldigte ich mich höflich, versicherte wider besseres Wissen, ab sofort keinen einzigen Termin mehr zu verpassen, und beendete das Gespräch.

Die Ärztin hatte verärgert geklungen (ich kann Sie nicht zwingen, Hilfe anzunehmen, Herr Fender!) . Ich hatte ihre eiligen Schritte auf dem langen Krankenhausflur gehört, den Widerhall ihrer Stimme von den Wänden. Dies lenkte meine Gedanken wieder auf Hagen.

Beim letzten Anruf hatte ich mich auf die Umgebungsgeräusche konzentriert. Ich erinnerte mich an das Plätschern, das ich mit einem tropfenden Wasserhahn assoziierte. Den Klang seiner Stimme, der auf einen Keller schließen ließ. Und an ein Klappern. Leise nur, doch es hatte mich aufhorchen lassen.

klack klack

Ich hatte es erst kürzlich gehört. Und zwar, als ich …

klack klack klack

Ich schloss die Augen. Rief mir das Geräusch in Erinnerung. Sah ein helles, freundlich eingerichtetes Zimmer. Ein schmales Bett. Darauf ein blonder, vierzehnjähriger Junge, gänzlich abgeschottet von seiner Umwelt. Einzig und allein fokussiert auf das Ding, das sich unablässig in seinen Fingern drehte.

klack klack klack klack

Ein Zauberwürfel.

Ich sah mich blinzelnd um. Das Helmut-Newton-Foto mit der nackten Frau hing schief. Ich beugte mich über das Sofa und rückte das Bild gerade.

Es wird kein Lebenszeichen geben.

Doch, ich hatte es erhalten. Obwohl es nicht beabsichtigt gewesen war.

Holm war also am Leben. Und er hatte gute Chancen, denn wenn man ihn freiließ, würde er seine Entführer nicht beschreiben können. Egal, woher ich das Geld auch haben mochte, ich hatte es. Ich würde die Forderung erfüllen. Es gab keinen Grund, Holm etwas anzutun.

Und Hagen?

Erpresser bleiben anonym. Schicken andere vor, um selbst im Hintergrund zu bleiben. Ich hatte nicht nur den Wasserhahn und das Klappern gehört, auch den Atem einer zweiten Person. Entweder es handelte sich um einen Komplizen. Oder wenn nicht, hatte man Hagen gezwungen, die Nachricht vorzulesen. In diesem Fall war er so gut wie tot, denn im Gegensatz zu Holm würde Hagen der Polizei Hinweise geben können.

Mona klingelte, und ich entschied, nicht weiter darüber zu spekulieren. Es galt, wesentlich kompliziertere Entscheidungen zu treffen; zumindest was Hagen betraf, schien die Lage relativ klar. Es gab nur zwei Möglichkeiten, welche davon zutraf, würde sich bald zeigen. Entweder Hagen gehörte zu den Entführern. Oder man hatte ihn ebenfalls entführt.

Im Nachhinein klingt das absolut logisch. Zumindest in diesem Punkt habe ich mir nichts vorzuwerfen, denn selbst die größte Spürnase des Universums hätte wohl kaum geahnt, dass es noch eine dritte Möglichkeit gab.