Siebzig

Der kleine Kommissar lief mit eiligen Schritten davon. Kurz vor der Treppe begann er zu humpeln, bückte sich im Gehen und pulte einen Kieselstein aus der Sandale. Dann richtete er sich auf, rückte die Aktentasche zurecht und verschwand im Gebüsch. Der hagere Polizist mit der fliederfarbenen Bundjacke war vorausgegangen, um mit ihm zu sprechen. Doch Kommissar Schröder hatte uns aus einem weiteren Grund allein gelassen (natürlich nur scheinbar, eine Menge Augenpaare beobachtete uns). Er wusste, dass wir ihm etwas verschwiegen, und gab uns nun die Gelegenheit, darüber zu reden.

Über Holm.

Unseren Sohn.

Ich dachte an Sybille, meine Mutter. Nachdem sie Hals über Kopf aus ihrer Wohnung gestürmt war, hatte sie mich am nächsten Tag angerufen, sich mit Kreislaufproblemen entschuldigt und behauptet, eine Weile zur Kur zu fahren. Danach war sie monatelang abgetaucht. Wo genau, habe ich nie erfahren.

Bis hierhin hatte ich jetzt Klarheit.

»Warum«, fragte ich leise, »hat sie’s nicht sofort gesagt?«

»Warum?« Mona lachte auf. Es klang, als würde jemand gegen einen Eimer mit rostigen Nägeln treten. »Weil die gute Sybille ihrem … Augenstern nicht weh tun wollte! Sie wollte ihn schützen, ihm die Wahrheit ersparen!«

Die Sonne war nach Westen gewandert, stand jetzt hoch über der Neustadt. Schwalben schossen über dem Fluss hin und her auf der Jagd nach den letzten Mücken des scheidenden Sommers.

»Sie wollte, dass du’s nie erfährst.«

Mona sah mich an, aus dunklen, glänzenden Augen. Keine Tränen. Nur kalte, silbrig schimmernde Wut. Als sie sich das Haar aus der Stirn strich, sah ich die Narbe am Handgelenk.

»Ich … ich habe dich gefunden«, murmelte ich.

»Oh, wir machen Fortschritte!« Ein weiteres, klirrendes Lachen. »Du hast mir das Leben gerettet. Und? Glaubst du, ich bin dir dankbar?«

Ich sah die Badewanne. Darin Mona. Nackt, hochschwanger. Ich sah ihren zur Seite gesunkenen Kopf. Den geöffneten Mund. Das nasse Haar über ihrem Gesicht. Ihren Bauch, der aus dem spiegelglatten, rostfarbenen Wasser ragte wie ein praller, bis zum Bersten aufgepumpter Ball.

»Sybille hat mich angefleht«, sagte Mona neben mir. »Aber auch da hat sie sich nicht getraut, es mir ins Gesicht zu sagen.«

Monas Arm hatte halb über die Wanne gehangen. Das Blut floss noch aus dem klaffenden Schnitt unter dem Handgelenk, tropfte von den Fingern auf die Fliesen. Die Lache trocknete bereits an den Rändern.

»Sie hat mir einen verdammten Brief geschrieben!«

Er lag im Waschbecken, die steile Mädchenschrift meiner Mutter war stellenweise verwischt. Bevor ich den Notarzt rief, hatte ich die letzten Zeilen gelesen.

Geh, bevor das Kind auf der Welt ist. Ich habe kein Geld, aber ich flehe dich an. GEH ! Es bringt nichts, wenn Jakob davon erfährt. Verschone ihn, ich bitte dich. Es sind schon genug Leben zerstört.

»Sie hat uns wochenlang weiter in einem Bett schlafen lassen.« Monas Stimme vibrierte wie ein bis zum Zerreißen gespanntes Drahtseil. »Sie hat zugelassen, dass wir … heiraten.«

Unsere Ehe dauerte exakt dreiundfünfzig Tage und endete, als Mona auf dem Heimweg vom Ultraschall den Brief meiner Mutter fand. Der Umschlag war mit durchsichtigem Klebeband an der Wohnungstür befestigt.

»Sie hat gewartet, weil sie sicher sein musste«, sagte Mona. »Hat mit meinen Stiefeltern gesprochen, die Urkunden geprüft. Es gab ja die Hoffnung, dass das alles nur ein unglaublicher Zufall war. Aber vor allem hat sie gewartet, weil sie feige war. So feige, dass sie’s nicht gewagt hat, uns jemals wieder unter die Augen zu treten.«

Ich sah meine Mutter vor mir. Sie hing am Türrahmen auf der Schwelle zum Kinderzimmer. Die Schraube, an der sie die Papiergirlanden zu meinen Geburtstagen befestigt hatte, reichte aus, ihr Gewicht zu halten. Sie trug das Kleid mit dem Sternchenmuster und einen breiten Gürtel aus gelbem Kunstleder, die Füße schwebten kaum zehn Zentimeter über der abgetretenen Schwelle. Ihr Kopf war auf die linke Schulter gesunken, so dass ich die vier kleinen Leberflecken am Hals erkannte. Trapezförmig, wie bei Mona.

Sie war ins Bad gegangen, hatte den weißen Plastikhocker, auf dem ich mir als Kleinkind immer die Zähne geputzt hatte, unter dem Waschbecken hervorgeholt, in den Flur getragen und auf die Türschwelle gestellt. Dann war sie …

Etwas stimmte nicht.

Was?

Die Räder verhakten sich. Fast glaubte ich, den Rost in meinem Schädel herabrieseln zu hören.

»Wir werden es niemandem erzählen«, sagte Mona. »Auch nicht Kommissar Schröder.«

Nachdem sie den Brief meiner Mutter gelesen hatte, zögerte sie nicht lange. Als ich sie eine knappe Stunde später fand, war das Wasser noch warm. Bereits im Krankenwagen hatte man ihr literweise Bluttransfusionen verabreicht, dann hatten die Ärzte sie in ein künstliches Koma versetzt und unseren Sohn per Kaiserschnitt geholt.

Ich habe sie nur einmal im Krankenhaus besucht. Holm lag im Brutkasten, Mona war noch so schwach, dass sie kaum laufen konnte. Doch ihre Kraft reichte aus, bei meinem Erscheinen das Zimmer komplett zu verwüsten. Als ich später ins Taxi stieg, waren ihre Schreie bis auf den Parkplatz zu hören.

Unsere damalige Wohnung hat sie nie wieder betreten, auch ihre Sachen holte sie nicht ab. Anderthalb Jahre später rief sie Hagen an und ließ mir ausrichten, ich solle unseren Sohn zweimal pro Woche betreuen. Auch in der Folgezeit lief die Kommunikation fast ausschließlich über Hagen oder über Zettel mit kurzen Nachrichten (er braucht vielleicht eine Brille, jemand sollte mit ihm zum Augenarzt) . Offiziell waren wir noch immer verheiratet; nicht etwa, weil wir als Freunde auseinandergegangen waren (wie ich in meiner grenzenlosen Blödheit bis vor einer Stunde noch geglaubt hatte), sondern weil Mona selbst die flüchtigen Kontakte bei einer Scheidung – Briefwechsel, Telefonate, ganz zu schweigen von persönlichen Treffen – um jeden Preis hatte vermeiden wollen.

Niemand – fast niemand, denn eine Ausnahme gab es – wusste um unser Geheimnis. Wäre Holm nicht gewesen, wäre der eine aus dem Leben des anderen verschwunden. Doch wir liebten unseren Sohn. Und das Kind liebte seine … Eltern . Bis zu seinem siebten Lebensjahr war Holm ein fröhlicher, aufgeweckter Junge, der nicht ahnen konnte, dass …

»Du weißt es jetzt?«, fragte Mona.

Ich brachte kein Wort heraus, also nickte ich stumm.

»Ich will nur sichergehen, dass dir das klar ist«, sagte sie. »Du hast deine Schwester gefickt. Deine eigene Schwester . Ist dir das bewusst?«

»Ja.«

»Weißt du, was am schlimmsten ist?«

Kinderlachen drang von der Badestelle herauf. Am anderen Ufer ratterte die Inseleisenbahn unter den Baumkronen vorbei.

»Ich erinnere mich genau.« Sie senkte die Stimme. »An jedes einzige verdammte Mal

Die helle Stimme des Kommissars drang hinter uns durch das Gebüsch, gefolgt von seinen tippelnden Schritten.

»Wir werden’s ihm nicht erzählen«, wiederholte Mona. »Was immer hier auch passiert, es hat nichts mit uns zu tun. Niemand außer uns weiß es. Glaubst du, denen geht’s nur um das Geld?«

Ich musste nicht lange nachdenken: »Nein.«

»Die wollen mehr. Egal, was es ist, sie wollen’s nicht von uns beiden. Auch nicht von mir. Sondern nur von dir, Jakob. Ich will meinen Sohn zurück. Mir ist egal, wie du’s anstellst. Bring ihn einfach zurück.«

Kommissar Schröder erschien, nahm wieder zwischen uns Platz und reichte der schluchzenden Mona schweigend ein altmodisches, gebügeltes Taschentuch aus weißem Leinen.

Sie putzte sich geräuschvoll die Nase. Mona, meine Schwester, mit der ich noch immer verheiratet war. Das alles klang wie ein Groschenroman, doch es war mein Leben. Unser Leben. Dass sie im Grunde genommen »nur« meine Halbschwester war, tröstete kaum, aber mein gemartertes Hirn klammerte sich an jeden Strohhalm, so kurz er auch sein mochte.

Auch dieser Trost blieb mir nicht lange vergönnt.