Kommissar Schröder stand auf. Bevor er zu seinen Kollegen ging, schärfte er mir noch einmal ein, ständig in Reichweite des Handys zu bleiben, und schlug vor, Mona solle bei mir in der Wohnung warten. Sie lehnte brüsk ab, offensichtlich entschlossen, meine Gegenwart keine Sekunde länger als unbedingt nötig zu ertragen. Ich bot trotzdem an, sie hinunter zur Straßenbahn zu begleiten. Sie stimmte zu, ohne ihren Widerwillen zu verbergen.
Als wir durch den Park liefen, hatten sich die Polizisten zurückgezogen. Auf dem Spielplatz bauten die beiden blonden Mädchen eine Sandburg, der junge Mann mit der Zeitschrift schlief auf der Bank. Sein Kinn war auf die Brust gesackt, selbst im Schlaf schob sein Fuß den Kinderwagen hin und her.
Monas Absätze klapperten neben mir, Vögel zwitscherten über unseren Köpfen in den Kronen der uralten Bäume. Sonnenlicht fiel in flirrenden Streifen schräg durch die Blätter. Früher mussten wir oft spazieren gegangen sein, manchmal händchenhaltend, manchmal die Arme um unsere Hüften gelegt. Wie jetzt hatte ich den Duft ihres Haares gerochen. Wir waren ahnungslos gewesen, klar, aber vor allem glücklich.
Weil wir ahnungslos waren.
Auf den ersten Blick waren keine Polizisten zu entdecken. Der alte Herr, der uns entgegenschlurfte und im Vorbeigehen höflich den Hut lüftete, gehörte definitiv nicht dazu. Anders jedoch die rothaarige Frau, die uns eilig überholte und ein wenig zu betont auf ihr Handy starrte. Auch der schnauzbärtige Glatzkopf auf der Bank zwischen den Blumenbeeten erschien mir etwas zu konzentriert in den Sportteil seiner Zeitung vertieft, ebenso wie die blonde Joggerin, die am Sockel einer Statue ihre Dehnübungen machte, so heftig bemüht war, uns zu ignorieren, dass man es nicht übersehen konnte.
Entweder Kommissar Schröders Leute waren doch nicht so gut, wie er behauptete. Oder Jakob Fender hatte einen Blick dafür.
Ich vermutete Letzteres.
Kaum zwei Minuten später sollte sich meine Ahnung bestätigen, denn nach wochenlanger zermürbender Quälerei löste sich die Blockade, wir erreichten die Haltestelle und verabschiedeten uns. Ich versuchte nicht, Mona die Hand zu geben – immerhin das hatte ich begriffen –, wandte mich um und erkannte endlich, wer Jakob Fender war.
Wer ich war.
Es geschah längst nicht so spektakulär, wie man hätte erwarten sollen. Kein Blitzschlag. Kein weißbärtiger Mann in wallenden Gewändern, der mit tiefer, hallender Stimme die Wahrheit verkündete. Weder Pauken, Trompeten noch jubilierende Engel. Auch kein brennender Dornbusch. Keine flammende Schrift an den Wänden. Nicht mal ein erbärmlicher Tusch.
Der Auslöser war äußerst profan, doch plötzlich wusste ich alles.
Fast alles. Ich war jetzt zwar sicher, wer hinter Holms Entführung steckte. Ich kannte ihn. Auch das Warum . Allerdings hatte ich keine Ahnung, wo mein Sohn festgehalten wurde.
Doch ich wusste sofort, was jetzt zu tun war.
Zuerst kümmerte ich mich um das Handy.
Kommissar Schröder behielt recht, der tätowierte Kriminaltechniker war tatsächlich ein Profi. Er hatte sich nicht nur auf die Software verlassen und, nachdem er die App installiert hatte, zusätzlich eine Wanze und einen winzigen Peilsender eingesetzt. Die App hätte ich manipulieren können, aber die GSM -Wanze war mit dem Akku des Handys verdrahtet. Ich konnte sie nicht entfernen, ohne dass es die Überwacher bemerkten. Also ließ ich alles, wie es war. Es verkomplizierte die Sache zwar, doch es gab andere Möglichkeiten. In weniger als zwei Minuten hatte ich das Gehäuse wieder zusammengeschraubt. Ich konnte nur eine Hand benutzen, doch meine Finger zitterten nicht.
Doktor Carlsson hatte gesagt, die Blockade könne sich jederzeit lösen. Wie genau, hatte sie nicht voraussehen können, ich selbst natürlich noch weniger. Ich hatte keine Zeit, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, wichtig war nur, dass es geschehen war. Jakob Fender war zurück, sein Verstand arbeitete kühl und präzise wie zuvor. Jetzt ging es darum, die Lage zu analysieren und die nächsten Schritte zu planen.
Hagen war tot. In den letzten Tagen war ich durch ein vernebeltes Chaos getaumelt, doch die Telefonate hatte ich mir nicht eingebildet. Eine Erklärung hatte ich nicht. Also nahm ich es als gegeben hin. Ich würde es später herausfinden, im Moment musste ich mich auf meinen entführten Sohn konzentrieren. Und was die Polizei betraf …
Nun ja, Kommissar Schröder war ein fähiger, hochintelligenter Mann. Aber selbst wenn ich gewollt hätte, von ihm durfte ich mir nicht helfen lassen. Ich war auf mich allein gestellt.
Mein Kopf funktionierte also wieder. Doch das nutzte nicht viel, wenn der Körper versagte. Schlimm genug, dass ich nur eine Hand zur Verfügung hatte; um den Rest kümmerte ich mich, so gut es eben möglich war.
Bevor ich unter die Dusche ging, verstaute ich die Schraubenzieher und das restliche Werkzeug wieder in dem kleinen Aluminiumkoffer und säuberte den Schreibtisch. Danach rasierte ich mich, gab die letzten Obstvorräte (drei Orangen, zwei Bananen und einen fleckigen Apfel) mit einem halben Joghurt in den Mixer und machte mir einen Smoothie. Ich trank langsam, Schluck für Schluck, kochte einen Espresso und ging mit der Tasse ins Wohnzimmer, um den Mac zu starten. (Wie erwähnt, hatte ich das Passwort oft genug auf dem Display des iPhones gelesen. Es bestand aus Monas Initialen, ihrer Handynummer und dem komplizierten Nachnamen ihrer tschechischen Stiefeltern, den sie vor unserer Hochzeit getragen hatte).
Auf dem Weg zum Schreibtisch fiel mein Blick auf das Sofa. Ich rückte die Kissen gerade, strich die Lederpolster glatt und bemerkte das Fotoalbum, das im Spalt zwischen Lehne und Wand steckte. Die Pergamentseiten waren zerknittert, einige Fotos herausgerissen. Während eines meiner nächtlichen Blackouts hatte ich das Album wutentbrannt gegen die Wand geschleudert.
Ich rückte das Sofa vor, klaubte die Fotos von den Dielen. Es waren drei, alle von meiner Mutter. Offensichtlich war ich sehr wütend gewesen, denn zwei der Bilder hatte ich in der Mitte zerrissen, das dritte in kleine Stücke zerfetzt.
Ich kannte jetzt auch den Grund.
Es war dieselbe Wut, die ich ein paar Tage nach Holms Geburt beim Verlassen des Krankenhauses gespürt hatte; während Monas Schreie über den Parkplatz gellten, war ich ins Taxi gestiegen und hatte mich nicht in meine – damals noch unsere – Wohnung, sondern zu meiner Mutter fahren lassen.