»Schön, dass ich Sie endlich erreiche, Herr Fender.« Schröder schaltete den Lautsprecher seines Handys ein, damit Zorn mithören konnte. »Ich habe Sie hoffentlich nicht geweckt?«
Zorn hatte ihn noch nie schreien hören. Schröder schien sich immer unter Kontrolle zu haben; selbst in Extremsituationen wie damals, als er auf der Suche nach dem entführten Edgar einen Verdächtigen befragt hatte, war er nicht laut geworden (er hatte dem Mann dann das Knie zerschossen, aber auch in diesem Moment war ihm genau bewusst gewesen, was er tat). Jetzt war er wütend, sehr wütend, wie der tiefen Falte über der Nasenwurzel und den roten Flecken auf den pausbäckigen Wangen mehr als deutlich zu entnehmen war. Seine Stimme jedoch blieb ruhig, auch wenn der sarkastische Unterton nicht zu überhören war.
»Ich habe eben gesehen, dass Sie angerufen haben«, erwiderte Fender. »Ich war unter der Dusche und wollte Sie gerade …«
»Ach.« Die Röte breitete sich aus und ließ Schröders Glatze regelrecht aufflammen. »Dann haben Sie also deshalb nicht reagiert, als die Entführer sich gemeldet haben? Wir hatten Sie dringend gebeten, immer in Reichweite des Handys zu bleiben. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass Ihnen Körperpflege wichtig ist. Wenn Sie also das nächste Mal duschen, behalten Sie das Telefon bitte im Auge. Vielleicht ist es Ihnen entgangen, aber es handelt sich um ein Outdoor-Gerät. Sie können es sogar mit in die Badewanne nehmen. Wenn ich mich nicht irre, ist es bis zu einer Tiefe von zehn Metern wasserdicht. Womöglich etwas weniger, aber für Ihre Wanne reicht’s auf jeden …«
»Ich habe den Anruf nicht verpasst«, unterbrach Fender.
»Sondern?«
Ein Knarren drang aus dem Lautsprecher, als Fender sein Gewicht auf dem Stuhl verlagerte und etwas zurückrollte. Zorn erinnerte sich an das verchromte Untergestell, die ergonomische Nackenstütze und das cognacfarbene, farblich perfekt auf die Couch abgestimmte Leder.
»Ich wollte denen ein Zeichen geben«, sagte Fender. »Die sollen wissen, dass ich nicht nach ihrer Pfeife tanze. Die haben mich warten lassen. Was die können, kann ich auch.«
»Herr Fender.« Schröder holte scharf Luft. »Das war nicht abgesprochen.«
»Ich hab’s so entschieden.«
»Dann ersuche ich hiermit höflich, solcherlei … Entscheidungen nicht allein zu treffen.« Schröder nahm einen Bleistift, drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Jeder andere Mensch wurde mit steigender Wut lauter. Bei Schröder verhielt es sich umgekehrt. Obwohl er Zorn weniger als anderthalb Meter entfernt am Schreibtisch gegenübersaß, hatte dieser die letzten Worte nur mit Mühe mitbekommen.
»Herr Fender?«
»Ja doch, ich hab verstanden.«
»Fein.« Schröder umfasste die Enden des Bleistiftes. »Es gibt mindestens zwei Entführer. Eine Frau, nach der wir auf Hochtouren fahnden. Und den Mann, der Sie kontaktiert hat. Wir wissen absolut nichts über ihn, außer, dass es sich nicht um Ihren alten Schulfreund handelt. Das ist äußerst wenig, Herr Fender. Seine Stimme würde uns extrem helfen, dann könnten wir Aussagen über sein Alter machen, die Ausdrucksweise analysieren, den Dialekt oder vielleicht einen Akzent. Das sind sehr wertvolle Informationen. Die bekommen wir allerdings nur …«
Gleich, dachte Zorn, explodiert er.
»… wenn unsere Experten diese Stimme hören .«
»Ich wollte doch nur …«
»Ich habe verstanden, was Sie wollten. Und habe Ihnen jetzt deutlich erklärt …«
KNACK
»… was ich will.«
Der Bleistift war zwischen Schröders Fingern zerbrochen.
»Sorry«, murmelte Fender. »Ich hab Mist gebaut.«
Sein Atem drang aus dem Lautsprecher. Im Hintergrund erklang Vogelgezwitscher, ein Fenster stand offen, vielleicht auch die Balkontür. Zorn bemerkte noch etwas anderes. Etwas, das ihn aufhorchen ließ.
Fender wiederholte seine Entschuldigung. »Sie tun alles, um Holm zu finden. Ich wünschte, ich würde meinen verdammten Schädel endlich wieder unter Kontrolle kriegen, aber …«
Zorn öffnete den Mund, doch Schröders abwehrend gehobene Hand ließ ihn verstummen. Schröder schärfte Fender ein, das Gespräch mit dem Entführer so weit wie möglich in die Länge zu ziehen, wünschte einen angenehmen Nachmittag und unterbrach die Verbindung. Dann saß er eine Weile stumm da, die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, die Hände unter dem Doppelkinn gefaltet und den Blick nachdenklich auf sein Handy gerichtet.
»Hier stimmt was nicht«, murmelte er schließlich.
»Der verarscht uns«, sagte Zorn.
»Ach. Tut er das?«
Schröder war noch immer gereizt, also legte sich Zorn seine Worte sorgfältig zurecht. »Die Hintergrundgeräusche«, sagte er. »Da war Vogelgezwitscher.«
»Ist mir nicht entgangen.« Schröder deutete durch das Fenster auf ein paar Spatzen, die im Schein der tiefstehenden Sonne über den Streifenwagen umherflatterten. »Ich halte das nicht für ungewöhnlich.«
»Da war noch was, du hast’s bestimmt auch gehört.«
»Nein, habe ich nicht !«
Soweit Zorn es beurteilen konnte, war er der Einzige, gegenüber dem Schröder seine Gefühle zeigte und Frust oder Unsicherheit nicht verbarg. Selten, sehr selten, doch es war – obwohl er’s nie aussprach – sowohl Vertrauensbeweis als auch Zeichen tiefer Zuneigung. Zorn hatte das erst sehr spät erkannt und zu schätzen gelernt, im Moment allerdings hätte er gern darauf verzichtet.
»So was wie ’n Pling «, begann Zorn vorsichtig. »Du hattest was anderes zu tun«, wiegelte er ab, als Schröder irritiert die Stirn runzelte. »Du musstest dich auf das Gespräch konzentrieren, da achtet man natürlich nicht …«
»Was für ein … Pling ?«
»Wie gesagt, du warst abgelenkt. Außerdem warst du sauer, deshalb …«
»Chef!«
»Ein Signalton«, erklärte Zorn hastig. »Ich kenne den von Friedas MacBook, wenn sie ’ne Nachricht kriegt. Und außerdem war da ’n Klappern, als hätte Fender was in die Tastatur getippt.«
Schröder bewegte die Hände unter dem Kinn. Die Finger der rechten schlossen sich um die geballte linke, trommelten ein paarmal auf und ab.
»Möglich«, nickte er schließlich. »Ich glaube, ich hab’s auch gehört.«
»Klar«, versicherte Zorn. »Wenn ich’s mitgekriegt hab, dann hast du’s natürlich erst recht …«
»Aber was sagt uns das?«
»Ist doch logisch.« Zorn breitete die Arme aus. »Fender lügt.«
»Warum?«
»Äh … ich verstehe nicht, was du …«
»Ich habe eine einfache Frage gestellt«, blaffte Schröder. »Was ist daran nicht zu verstehen?«
»Nichts. Ich meine«, stammelte Zorn, »alles. Beziehungsweise …«
»Warum?«
Zorn traute seinen Ohren nicht. Sollte er, Claudius Zorn, etwas sehen, das Schröder nicht sah?
»Du bist immer noch genervt«, sagte er. »Von deinen … äh, Emotionen abgelenkt. Wer wütend ist, kann nicht klar denken. Ich kenne das«, er stieß ein gekünsteltes Lachen aus, »da kann ich ’n Liedchen von singen. Wenn du dich ein bisschen beruhigt hast, kommst du garantiert selbst …«
»Erklär’s mir!«
Das tat Zorn.