»… Papa.«
»Was?«
Van der Graaf sah mich fragend an, das Handy noch immer so in den Fingern, dass ich mein schlafendes Kind auf dem Display erkennen konnte.
»Nichts«, murmelte ich.
Bis heute kann ich mir nicht erklären, was genau damals passiert ist. Am logischsten erscheint mir, dass Holm von unseren streitenden Stimmen geweckt wurde, sein Kuscheltier vermisste und aus der Wohnung zu Hagens Passat schlich, um den Teddy zu holen. Vielleicht ist er auf dem Rücksitz wieder eingeschlafen. Vielleicht bin ich kurz nach ihm in den Wagen gestiegen, und er hat sich aus Angst, ausgeschimpft zu werden, im Fußraum versteckt. Ich habe ihn jedenfalls nicht bemerkt. Erst als ich mit einer kopflosen Leiche in den Armen vor ihm stand.
Ob er den Mord beobachtet hat, kann ich nicht sagen. Es ist auch nicht wichtig. Er hatte genug gesehen, um vor seinem Vater in ein anderes Universum zu flüchten. An einen Ort, wo ihn niemand mehr erreichen sollte.
»Mit dem Kleinen ist doch alles okay?«, fragte van der Graaf. Seine Fürsorge wirkte in etwa so echt wie eine Rolex am Handgelenk eines Türstehers im Rotlichtviertel hinter dem Bahnhof.
»Klar«, erwiderte die mürrische Frauenstimme.
Holm lag in Embryonalstellung schlafend auf der Seite. Sein Mund war halb geöffnet, das blonde Haar klebte in verschwitzten Strähnen auf dem Gesicht. Ich sah Schokoladenreste in seinem Mundwinkel. Kekskrümel auf der Decke. Den Zauberwürfel in seiner rechten Hand. Ich sah, wie sich die Pupillen unter den geschlossenen Lidern bewegten. Holm musste ein ziemlich starkes Schlafmittel verabreicht bekommen haben, sonst hätte er sich geweigert, die kratzige, ölverschmierte Decke auch nur anzufassen.
Die Frau fragte genervt, wann die Scheiße endlich vorbei sei.
»Nicht mehr lange«, besänftigte van der Graaf. »Wir müssen nur noch was klären. Ich denke«, er blinzelte mir zu, »wir werden uns schnell einig, Paula.«
»Hoffen wir’s.«
Das Bild wackelte, das Handy wurde bewegt. Die Kamera streifte über eine fensterlose Wand, huschte über Stapel mit Kartons, Transportkisten und Thermoboxen in den Farben des Lieferdienstes. Vor einer schweren Isoliertür mit großen, hebelartigen Stahlgriffen erschien ein bleiches Gesicht auf dem Display. Es war die Frau von dem Foto, das Kommissar Schröder mir gezeigt hatte. Die Frau, die van der Graaf in der Hinterhofwohnung hatte besuchen wollen.
»Wir sind in zwanzig Minuten da«, versprach van der Graaf und legte auf.
Der Diesel brummte im Leerlauf. Van der Graaf hatte den Bus in einer hinteren Ecke des Parkplatzes im Schatten einer großen Ulme geparkt. Der Regen hatte nachgelassen, er schaltete die Scheibenwischer aus, stützte die Unterarme auf das Lenkrad und ließ seinen Blick über den Parkplatz schweifen. Ein paar Mietanhänger mit dem Logo des Baumarkts (ES GIBT IMMER WAS ZU TUN ) auf den Planen standen zwischen den Pfützen, Regenwasser tropfte von den überdachten Stellplätzen der Einkaufswagen. Abgesehen von einem Wachmann, der mit hängenden Schultern vor einem Stapel Betonsteine am Absperrzaun lehnte, war niemand zu sehen.
»Ich glaube nicht, dass uns jemand gefolgt ist«, sagte van der Graaf. »Du?«
Ich schwieg.
»Die Polizei war vorhin bei mir.« Er umfasste das Lenkrad, beugte sich weiter vor und ließ seinen Blick aus schmalen Augen über den Parkplatz schweifen. »Komisches Pärchen, ein Langer und ein Dünner, wie … Don Quichotte und Sancho Pansa. Kennst du die?«
»Ja.«
»Was hältst du von denen?«
Ich schwieg.
»Die sind nicht so trottelig, wie sie tun«, überlegte van der Graaf. »Zumindest der eine. Es sah nicht so aus, als würde er mehr wissen, als er sollte. Kann er ja auch nicht.« Er sah mich an. »Oder?«
»Er weiß nichts. Jedenfalls nicht von mir.«
»Du hast nicht noch mal mit ihm gesprochen? Nachdem du mich auf dem Plakat …«, seine Augen funkelten amüsiert, »erkannt hast?«
»Nein.«
Ein Windstoß fuhr über den Parkplatz. Aus der Baumkrone prasselte ein Regenschauer auf das Blechdach über unseren Köpfen.
»Der hat mir ’nen Kuli geklaut.« Van der Graaf klang nachdenklich, wie im Selbstgespräch. »Gesehen hab ich’s nicht, aber als die beiden weg waren, war er verschwunden. Das Ding war verdammt teuer, doch … Nee, ist bestimmt runtergefallen. So blöd kann der nicht sein.«
Nun, blöd war Kommissar Schröder definitiv nicht. Er tat nichts ohne Grund.
»Und du?«, fragte van der Graaf.
»Was soll mit mir sein?«
»Bist du sicher, dass du sie abgehängt hast?«
»Ja.«
Niemand hatte bemerkt, dass ich die Wohnung verlassen hatte.
Es war einfach gewesen.
Womöglich, ging mir plötzlich durch den Kopf, zu einfach?
Der Baumarkt-Wachmann lief mit gesenktem Kopf am Haupteingang vorbei und verschwand um die Ecke, um seinen Rundgang fortzusetzen. Hinten auf der Hauptstraße preschte ein Müllwagen in einer Gischtwolke stadtauswärts, in der Gegenrichtung fuhr ein Volvo vorbei.
»Auch einen?« Van der Graaf hielt mir eine Kaugummipackung entgegen. »Die sind zuckerfrei. Nicht nur gesund, sondern auch …«
»Was willst du?«
»Ich sag’s dir gleich.« Van der Graaf löste das Alupapier und steckte einen Kaugummistreifen in den Mund. »Vorher kurz noch zu Paula. Sie ist ziemlich genervt. Sie …« Er suchte kauend nach den richtigen Worten. »Na ja, sie kann deinen Sohn nicht leiden«, sagte er mit einem entschuldigenden, fast verlegenen Seitenblick. »Er war ’ne Zeitlang ziemlich unruhig. Sie war kurz davor, den Jungen in den Kühlraum zu sperren.«
Ich dachte an die Isoliertür mit den Stahlgriffen.
»Wahrscheinlich hat sie ihre Tage.« Van der Graaf hob scheinbar ratlos die Achseln. »Ich glaube nicht, dass es dazu kommt, aber falls wir uns nicht einigen, müsste ich sie anrufen. Und dann …« Ein weiterer Blick aus dunklen, traurigen Augen. »Paula würde nicht eine Sekunde zögern.«
Er musste es nicht aussprechen.
Van der Graaf wollte wissen, ob ich verstanden hätte. Ich bejahte. Er legte den Gang ein, steuerte den Bus auf die Hauptstraße wieder stadteinwärts. Als wir an der Tankstelle vorbeifuhren, sah ich den Volvo an einer Zapfsäule. Die weiße Karosse und die getönten Scheiben waren über und über mit Schlammspritzern bedeckt.
Der Mond brach durch die Wolken, spiegelte sich in den Pfützen auf dem Asphalt und verschwand wieder.
Morten van der Graaf bot mir einen Deal an.