Zweiundneunzig

Er war bereits seit über zwei Stunden im Büro, als Schröder von der Pressekonferenz kam. Sichtlich gereizt – logisch, es gab Wichtigeres zu tun, als die Fragen einer Herde aufgescheuchter Journalisten aus allen Landesteilen zu beantworten. Und Fragen hatte es gegeben, sehr viele sogar. Nach dem Zustand des entführten Jungen, der sich nach seiner Befreiung an einem unbekannten Ort in psychologischer Betreuung befand (stabil). Nach Paula Hecht (ebenfalls stabil) und natürlich dem zweiten Entführer, dem mutmaßlichen Drahtzieher, dessen Identität bisher unter Verschluss gehalten worden war. Die Nachricht, dass es sich um Morten van der Graaf handelte, schlug erwartungsgemäß wie eine Bombe ein.

»Die Plakate hängen immer noch überall.« Zorn deutete durch das Fenster in den regenverhangenen Morgen. »Bin gespannt, wie lange noch. Unsere …«, er hob sarkastisch die Stimme, »neue Stimme im Rathaus. Ich hab von Anfang an gewusst, dass mit dem was nicht …«

»Du konntest ihn nicht leiden«, unterbrach Schröder. »Ich würde das weniger als Vorahnung oder gar kriminalistisches Gespür bezeichnen, sondern eher als Ergebnis einer – mit Verlaub – kindischen Abneigung.«

Er hievte seine Aktentasche auf den Schoß und reichte Zorn ein mehrseitiges Formular über den Schreibtisch. »Ein Antrag auf Kostenübernahme«, erklärte er und fügte auf Zorns fragenden Blick hinzu, dieser habe sein Privatfahrzeug in heroischer Ausübung der Dienstpflichten beschädigt und somit Anspruch auf Erstattung der Reparaturkosten.

»Aha«, brummte Zorn.

Der Volvo würde einige Zeit in der Werkstatt sein. Was Zorn betraf, konnte er dort bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag bleiben. Die Blechschäden wurden natürlich repariert, aber irgendwann würde Frieda den Brandfleck auf dem Fahrersitz entdecken. Das Rauchen gestattete sie zwar, doch Wohnung und Auto waren tabu, und die Rechtfertigung, Zorn habe sich während der nächtlichen Verfolgungsfahrt in einem mentalen Ausnahmezustand befunden, würde sie wohl kaum akzeptieren.

Obwohl es der Wahrheit entsprach. Nachdem Schröder klargeworden war, dass das Wahlplakat etwas bei Jakob Fender ausgelöst hatte, war er mit Zorn nicht zu einer Befragung in van der Graafs Wahlbüro gefahren. Er hatte den auffälligen Seidenschal unter die Lupe nehmen wollen, seinen Verdacht bestätigt gesehen, als er den Verband unter dem Schal bemerkte, und einen Peilsender in van der Graafs Jacke deponiert. Als sie im Volvo saßen, hatte er Peymann, den jungen Kriminaltechniker angerufen, sich vergewissert, dass sowohl das Signal als auch das Mikrophon funktionierten, und war mit Zorn ins Präsidium gefahren, wo sie bereits von einem Labortechniker erwartet wurden. Dieser hatte die Fingerabdrücke auf dem Kugelschreiber mit denen auf dem Baseballschläger verglichen, festgestellt, dass sie von ein und derselben Person stammten, und Schröders letzte Zweifel beseitigt.

Und dann war Zorn ins Spiel gekommen. Während Schröder neben dem Kriminaltechniker im Präsidium saß und sowohl das Gespräch zwischen van der Graaf und Fender als auch die Fahrt des Kleintransporters über einen Monitor verfolgte, war Zorn im Volvo unterwegs. Als Joker, hatte Schröder gesagt, der die Einsatzwagen der SEK -Kollegen per Funk koordinierte und dafür sorgte, dass diese zwar ständig in der Nähe des Transporters, doch außer Sichtweite blieben. Da er sich nicht gänzlich auf die Technik verlassen wollte, dirigierte er Zorn ebenfalls durch die Stadt, und als klarwurde, dass sich die Fahrt ihrem Ziel näherte, war Zorn in gebührendem Abstand gefolgt, um im Falle eines Signalverlustes sofort zu übernehmen. Die Pistole, die er auf Schröders Anweisung mitnehmen musste, war natürlich nicht zu seiner Verteidigung, sondern als Anreiz gedacht. Ähnlich wie bei einem Kind, dem man bei der Nachtwanderung eine Taschenlampe in die Hand drückt, um Spannung und Motivation zu erhöhen.

Zorn beugte sich über das Formular und schob es nach einem kurzen Blick missmutig beiseite.

Das Festnetztelefon schrillte. Der Anruf kam aus der Rechtsmedizin. Laut vorläufigem Obduktionsergebnis war Morten van der Graaf weder ertrunken noch an den Folgen des Unfalls gestorben, sondern ermordet worden. Und zwar mit der Garotte, die man im Wrack sichergestellt hatte.

»Fender hat also die Wahrheit erzählt«, sagte Zorn.

»Naturalmente .« Schröder hob die Schultern. »Warum sollte er lügen?«

So paradox es auch klang, Jakob Fender schien seine Verhaftung als eine Art Befreiung zu empfinden und legte mit seinem Geständnis zugleich eine Beichte ab – was auch erklärte, warum er ausschließlich mit Schröder sprach. Alles, was er erzählte, passte zu dem abgehörten Gespräch und fügte sich mit den bisherigen Erkenntnissen nach und nach zu einem einheitlichen Bild.

»Er wusste, dass wir den VW -Bus überwachen«, sagte Schröder. »Van der Graaf hat nicht verstanden, warum wir bei ihm waren, Fender irgendwann schon. Als er dein Auto erkannt hat …«

»Dreckskarre.«

»… war er sicher. Dass wir auch mitgehört haben, konnte er nur hoffen. Aber er ist davon ausgegangen, deshalb hat er auch so laut gesprochen, als er über das Versteck seines Sohnes geredet hat.«

»Aber …« Zorn legte die Stirn in Falten. »Was sollte der Unfall? Wenn Fender wusste, dass wir wussten …« Er verhedderte sich in den eigenen Gedanken und setzte noch einmal an: »Fender glaubte also, wir hätten mitgehört, wo der Junge versteckt war.«

»Womit er richtig lag.«

»Warum hat er sich nicht hinfahren lassen und auf uns gewartet?«

»Tja.« Schröder kratzte sich am Doppelkinn. »Seine Prioritäten sind ein wenig … anders gelagert.«

»Und wo genau, wenn man fragen darf?«

»Jakob Fender legt Wert auf Ordnung.«

»Ach.«

»Hätte er auf unser Eingreifen gewartet, wäre van der Graaf höchstwahrscheinlich noch am Leben. Jakob Fender hatte allerdings einen Auftrag zu erledigen.«

»Was er auch getan hat.«

»Er hätte nie im Leben für van der Graaf gearbeitet. Das Geschäft ist ihm zu unsauber, er verabscheut harte Drogen.«

»Echt?« Zorn lachte auf. »Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Ob man nun Koks verscherbelt oder diesen veganen Drecksfraß, läuft das nicht auf das Gleiche …«

»Bitte, Chef.«

»Schon gut. Van der Graaf hat jedenfalls nicht nur … Essen ausliefern lassen, sondern auch Drogen. Wie haben die das angestellt? In der Kompottschachtel? In der Sojatüte? Als Nachtisch gegen einen kleinen Aufschlag?«

»Das ist nicht unser Problem.«

»Sondern?«

»Das des Drogendezernates.«

»Gott sei Dank!«, entfuhr es Zorn.

»Jedenfalls haben wir jetzt eine Erklärung für den Mord an Björn Kuchta«, sagte Schröder. »Van der Graaf war dabei, nach Tschechien zu expandieren. Er hat zwar behauptet, Paula Hecht zufällig getroffen zu haben, aber das kann ich mir kaum vorstellen. Es ging ihm von Anfang an darum, an Kuchta heranzukommen. Der wurde in Prag observiert, als er sich mit der Drogenmafia getroffen hat. Nachgewiesen hat man ihm nichts, doch ich wette, er wollte dort ins Geschäft einsteigen. Vielleicht hat Paula Hecht tatsächlich seinen Tod gefordert, aber vor allem hat van der Graaf einen Konkurrenten ausgeschaltet.«

»Dann«, stellte Zorn fest, »habe ich also richtiggelegen.«

»Womit?«

»Mit der Mafia.«

Grundsätzlich schon, stimmte Schröder zu. Abgesehen vom geographischen Unterschied, der angesichts der Entfernung zwischen Kolumbien und der Tschechischen Republik nicht unerheblich sei.

»Mafia bleibt Mafia.« Zorn wischte den Einwand mit einer energischen Handbewegung vom Tisch. »Van der Graaf hat einen Gegner aus dem Weg geräumt und seine anderen Konkurrenten gewarnt. Mit Fenders Garotte hat er uns auf ’ne völlig falsche Spur gelockt. Und dass er in einem seiner Transporter durch die Gegend gekurvt ist, war besonders clever. Die bunten Kisten sind dermaßen auffällig, dass sie eben nicht auffallen. Kein Mensch würde damit rechnen, dass da jemand irgendwelche Drogen durch die Gegend kutschiert. Oder einen gefesselten Neonazi. Und mit dem Baseballschläger wollte er noch cleverer sein und ’ne Spur zu irgendwelchen Rechtsextremisten legen. Aber seine Fingerabdrücke …« Zorn verstummte stirnrunzelnd. »Warum haben wir die eigentlich gefunden? Van der Graaf hätte doch Handschuhe tragen oder das Ding wenigstens abwischen können.«

»Das hat er getan. Aber nicht sorgfältig genug.«

»Der war doch nicht blöd, oder …«

»Das nicht, aber überheblich«, sagte Schröder. »Er war felsenfest überzeugt, wir würden ihm nie auf die Schliche kommen.«

»Er hat sich für clever gehalten.«

»Hat er.«

»Zu clever.«

»Yep .«

»Er hat was vergessen. Denn wir «, Zorn lehnte sich zurück, »sind auch clever.«

»Sind wir.«

»Nicht nur clever«, überlegte Zorn, »sondern cleverer.«

»Cleverer?«

»Als van der Graaf. Sonst hätten wir ihn nicht überführt.«

»Das«, nickte Schröder, »ist richtig.«

»Tja«, seufzte Zorn, »er hätte sich nicht mit uns anlegen sollen.«

»Niemand sollte das, Chef.«

»Wir sind einfach die Cleversten.«

Die Mittagspause ließen sie ausfallen und arbeiteten durch – Zorn verzichtete sogar auf die zwei üblichen, hastig auf der Bank unter der alten Kastanie inhalierten Zigaretten. Kurz bevor es Zeit wurde, Edgar abzuholen, erinnerte ihn Schröder an das Antragsformular.

»Die Reparatur wird bestimmt nicht billig, Chef.«

Zorn streifte das engbedruckte Deckblatt mit einem angewiderten Blick durch die dicken Gläser der Lesebrille.

»Scheiß drauf.«

Er zerknüllte das Formular und warf es in den Papierkorb. Bevor er sich die restlichen Finger wundschreibe, teilte er auf Schröders Nachfrage mit, werde er den Mist lieber selbst zahlen.

*

Der Saal war beinahe leer, außer ihnen hatte sich kaum eine Handvoll Zuschauer in die Nachmittagsvorstellung verirrt. Edgar hockte mit einer Popcorntüte auf dem Schoß in seinem gepolsterten Stuhl und plapperte mit vollem Mund unentwegt auf Schröder ein. Als das Licht ausging, steckten die beiden noch immer kichernd die Köpfe zusammen, und Zorns Ahnung, dass es Edgar nicht um den Film, sondern um das Zusammensein mit Schröder ging, bestätigte sich.

Was, wie Zorn feststellte, einer gewissen Logik nicht entbehrte. Warum sollte der Junge auch auf einen Schauspieler vorn auf der Leinwand starren, wenn ein echter Superheld direkt neben ihm saß? Schröder trug zwar weder Strumpfhose, flatterndes Cape noch Maske, aber mit der zerbeulten Cordhose, dem karierten Baumwollhemd und den braunen Sandalen war sein Outfit nicht weniger schräg. Auch Schröder hatte eine dunkle Seite (eine sehr dunkle), doch er flog nicht an Seilen durch die Gegend und hatte es auch nicht nötig, sich von einer mutierten Spinne beißen zu lassen. Irgendwelchen Blödsinn wie Röntgenblick, Zauberschwert oder Hightechwaffen brauchte er nicht. Auch kein Batmobil, ein altes Rennrad reichte völlig aus, um gegen das Böse zu kämpfen.

Superman, Spiderman und wie sie sonst noch so heißen mochten – dieser kleine, kahlköpfige Mann mit dem Kugelbauch stach alle aus.

Alle .

Weil er Schröder war.

Einfach nur Schröder.