4. Geheimwaffe

Tess

Ich liege in meinem Bett und stelle ich mich schlafend. Ich traue mich nicht, die Augen zu öffnen, die Kameras schüchtern mich ein. Also spiele ich Vogel Strauß und hoffe, dass mich niemand mehr sieht, wenn ich die Augen schließe.

Das ist doch von einer unumstößlichen Logik.

Die anderen Mädchen unterhalten sich. Ich werde mich morgen darum kümmern, die anderen besser kennenzulernen. Umso mehr als Amber und Jess mir ganz cool vorkommen, aber Beverly und Karmen nicht unbedingt die positivsten Gefühle bei mir auslösen. Vor allem Karmen.

Vertrag hin oder her, es wird nicht einfach werden, die Königin der Luder vom Thron zu stoßen.

Um Pierce einen Gefallen zu tun und Karmen klarzumachen, dass es nur eine Bitch in town gibt, werde ich zu Kräften kommen müssen. Und das heißt vor allem schlafen. Wenn ich erst einmal acht Stunden durchgeschlafen habe, sollte es für mich ein Leichtes sein, diesem Biest das Maul zu stopfen. Das Problem ist nur, dass ich trotz Müdigkeit vor lauter Anspannung nicht einschlafen kann.

Wenn doch bloß Mr. Sexbombe hier wäre, um sich um mich zu kümmern! Dann würde es mir leichter fallen, Schlaf zu finden …

Ich vergrabe meinen Kopf im Kissen und versuche so mein Lächeln zu verbergen. Es gelingt mir einfach nicht, mir die vergangene Nacht aus dem Kopf zu schlagen. Mein Körper ist noch ganz elektrisiert von Colins Körper, seiner Stimme, seinen sanften Händen und den intensiven Stößen.

Wenn ich nur daran denke, dass ich für diesen Kerl beinahe meine Zukunft aufs Spiel gesetzt hätte! Das ist eigentlich so gar nicht meine Art, etwas so Dummes zu tun …

Wenn jemandem vom Produktionsteam aufgefallen wäre, dass ich getürmt bin und – schlimmer noch! – eine Barbekanntschaft mit in mein Zimmer genommen habe, hätte ich meine Teilnahme bei Kleine Geheimnisse abschreiben können. Aber glücklicherweise hat nicht einmal Kate etwas geahnt.

Meine Nanny war von ihrer eigenen Nacht so entzückt zurückgekommen, dass ihr die zerwühlte Bettwäsche, meine Augenringe, meine zerzausten Haare und mein entrückter Gesichtsausdruck gar nicht aufgefallen sind. Das war um 6 Uhr morgens. Danach ging alles ganz schnell. Um 11 Uhr sind wir in eine Limousine mit getönten Scheiben gestiegen, die uns zu den Cooper Studios brachte. Kaum waren wir dann aus dem Auto geklettert, als uns schon eine übereifrige Assistentin abfing und Kate mit einem einzigen Satz verabschiedete.

„Miss Wilson, Ihre Mission ist hiermit beendet. Sie können nun ins Büro der Personalabteilung gehen und Ihren Scheck abholen.“

„So schnell?“, protestierte ich.

Die Assistentin warf mir einen ziemlich verächtlichen Blick zu.

„Sollen wir die Show etwa um einen Tag verschieben, nur damit Sie die Zeit haben, sich voneinander zu verabschieden?“

Na warte. Wenn du weiter so mit mir sprichst, wird mein Cappuccino noch mitten in deinem Gesicht landen.

Kate, die spürte, dass ich schon anfing, innerlich zu kochen, umarmte mich auf die Schnelle.

„Geh schon, Süße“, murmelte sie mir zu. „Hau sie von den Socken, hol dir die Kohle und wir sehen uns in acht Wochen wieder.“

„Werden wir uns wiedersehen, Kate? Versprichst du mir das?“

„Versprochen. Und zwar woanders als in einem Hotelzimmer!“

Ich drehte mich noch ein letztes Mal um, als die unausstehliche Assistentin schon anfing, mich ins Gebäude zu ziehen.

„Kate, vergiss nicht, nach meiner Großmutter zu sehen und ihr Grüße auszurichten. Violetta Harper! Ich habe dir ihre Nummer in eins der Bücher geschrieben.“

„Geht klar, Süße! Viel Spaß, Violetta und ich werden dich abholen, wenn du wieder rauskommst!“

„Das klingt ja, als würde ich in den Knast wandern“, kicherte ich und schielte in Richtung der Assistentin.

Letztere tat als ob sie nichts hören würde.

„Stellen Sie sich vor“, fuhr ich fort und kniff die Augen zusammen, um gefährlich zu wirken, „ich war schon mal im Knast. Das ist mein großes Geheimnis. Geben Sie es zu: Es ist das erste Mal, dass Sie allein mit einer Mörderin sind!“

Ich spürte, wie die Assistentin sich ein wenig versteifte, aber sie ignorierte mich weiterhin, während sie mich durch das Labyrinth der Flure zog, bis wir bei einer Art Loge angelangt waren.

Dann hieß es warten. Warten und warten und dabei von Colin träumen. Und als ich die Schnauze voll vom Warten hatte, wartete ich weiter. Ich habe ungefähr 70 Tassen Kaffee getrunken – was vielleicht auch meine Schlaflosigkeit erklärt. Ich knabberte an meinen Fingernägeln, weil man mir nichts dagelassen hatte, um mich abzulenken. Doch ich bereute es gleich wieder – Ich würde im Fernsehen wie ein Bauerntrampel aussehen.

Schließlich kam eine ganze Horde von schwarz gekleideten Frauen in den leeren Raum. Sie zogen große Koffer und Kleiderständer voller Klamotten hinter sich her, trugen Schminkkoffer, Haarsprays, Glätteisen und Lockenstäbe. Eine von ihnen, ausgestattet mit einem Walkie-Talkie, fragte mich:

„Sind Sie zu allem bereit?“

„Wie meinen Sie das?“, antwortete ich misstrauisch.

„Die Loge von ‚Zu allem bereit‘, sie ist doch hier?“, wiederholte sie ungeduldig.

Ich bin ganz rot geworden – wegen dem Missverständnis, dem Geheimnis, das mir die Produktion aufs Auge drücken wollte, dieser Identität, in der ich mich nur mit Mühe erkenne. Und doch, ich bin es: Tess Harper, bereit, alle Kröten zu schlucken.

Irgendetwas sagt mir, dass ich mich in dem Wunsch, aus Watts auszubrechen, auf direktem Wege in eine andere Art von Ghetto begeben habe.

„Tess“, habe ich geantwortet. „Sie können mich Tess nennen.“

Jetzt fing die Meute von schwarz gekleideten Frauen an, sich eifrig um mich herum zu schaffen zu machen. Sie waren zu fünft, unterschiedlichen Alters, aber alle gleich aufgebaut: megaflink, i-Phone-Stöpsel im Ohr, verschlossene Gesichter, ziemlich mager und nicht wirklich gesprächig. Die Chefin mit dem Funkgerät konsultierte mit konzentrierter Miene ihr Tablet, ging dann zu einem der Kleiderständer und holte ein fuchsiafarbenes Crop Top und ein Highwaist-Höschen aus weißem Satin. Ja, doch, ich habe tatsächlich Höschen gesagt.

„Schlüpfen Sie da mal rein.“

Schüchtern sah ich mich nach einem Paravent um. Die Chefin verdrehte die Augen.

„Verstecken Sie sich hinter einem der Kleiderständer, damit wir vorankommen!“

Also wirklich! Selbst eine Reality-TV-Kandidatin hat das Recht auf ein bisschen Privatsphäre!

Sobald ich angezogen war – nun, wenn man das sagen kann –, fing eine der Frauen an, sich um mein Make-up zu kümmern, während zwei andere sich in sadistischer Weise einen Spaß daraus machten, mir (der Reihe nach):

- die Haare zu toupieren;

- sie mit Wicklern zu glätten;

- sie zu Korkenzieherlocken zu drehen;

- sie mit der Babyliss zu glätten;

- den Ansatz mit Haarlack zu besprühen;

- sie mit Gel glatt zu streichen.

Mensch, entscheidet euch doch mal!

Als die Foltersession endlich vorbei war, traute ich mich nicht, einen Blick in den Spiegel zu werfen.

All das war … too much.

Plötzlich kam ein Produktionsassistent vorbei, um mich abzuholen. Wir gingen gefühlt kilometerlang durch die Flure, bis dann endlich eine Tür aufging und ich in einen großen Raum stolperte, wo meine Augen Probleme hatten, sich an das blendende Licht zu gewöhnen, während eine Stimme meinen Namen brüllte.

Es geht los!

Die ersten Minuten auf der Bühne waren extrem unangenehm. Um sicherer zu wirken, habe ich mir das Mikro des Moderators gekrallt, um eine kleine Dankesrede zu halten, aber das war total schlimm. Ich kam wie eine totale Zicke rüber. Verlegen ging ich zu meinem Platz, während die neun anderen Kandidaten mich kritisch musterten.

Die Premierenshow erschien mir wie ein Traum. Eine Art surrealistische Träumerei, zäh und nicht besonders angenehm. Der Moderator stellte uns ständig neue Fragen, ohne unsere Antwort abzuwarten. Dann kündigte er kurze Einspielfilme über jeden Kandidaten an. Die Leute im Publikum, die uns vorher neugierig anstarrten, wandten plötzlich den Blick ab und schauten gebannt auf die Bildschirme, während die Kameras unsere Reaktionen filmten. Als ich an die Reihe kam, hatte ich das Gefühl, vollkommen neben der Kappe zu sein, benommen vor lauter Erschöpfung und Aufregung.

Dann betraten wir schließlich das Flüsterhaus – na ja „Haus“ … Eher ein riesiger Schuppen, der eine Reihe von Fernsehstudios beherbergte, die wie Zimmer einer Designerwohnung eingerichtet waren.

„Aber gibt’s denn keinen Pool?“, protestierte Karmen mit K.

„Zu dem haben wir Zugang, sobald einer von uns seine erste Challenge bestanden hat“, erklärte der sympathische große Blonde namens Devin.

Gut. Wenn es einen Pool gibt, gibt es einen Garten. Und wenn es einen Garten gibt, gibt es Tageslicht.

Spontan begaben wir uns alle in Richtung Wohnzimmer und setzten uns schüchtern um einen Tisch. Der Master of Secrets kündigte per Lautsprecher im Haus an, dass uns bald Pizzen in die Durchgangsschleuse geliefert würden.

„Na gut, in der Zwischenzeit können wir ja mal den Kühlschrank inspizieren!“, schlug Devin vor.

Er holte zwei Flaschen Chardonnay heraus.

„Aperitif gefällig, Leute?“, fragte er augenzwinkernd.

Lächelnd nahmen wir alle das Angebot an. Nach dem ersten Glas Chardonnay lösten sich glücklicherweise unsere Zungen. Dann verkündete der Master of Secrets, dass unsere Sachen und die Pizzen geliefert worden seien, wir sie jetzt holen und uns gegenseitig unsere Talismane zeigen könnten.

Ich muss gestehen, dass ich den Talismanen der Jungs keine besondere Beachtung schenkte, aber der von Jess gefiel mir: Ein MP3 -Player mit ihren 100 Lieblingsliedern.

„Oh, es gibt sogar eine Stereoanlage“, rufe ich begeistert und springe auf, um ihren Player anzuschließen.

Zum Glück hat die Produktion an alles gedacht! Jess und ich fingen an, lachend miteinander zu tanzen.

Amber hatte ein Bernstein-Medaillon mitgebracht.

„Meine Großmutter hat es mir geschenkt, als ich klein war“, erklärte sie uns.

Es mag idiotisch sein, aber es erinnerte mich an Violetta, und das hat mich berührt. Von diesem Augenblick an sagte ich mir, dass ich Amber mögen würde.

Karmen mit K schnaufte geringschätzig und verzog dann ihr Gesicht zu einer betroffenen Grimasse.

„Das Ding ist echt hässlich. Und außerdem ist es nix wert. Ein wertloses Schmuckstück, echt, geht’s noch?“

Beverly zückte eine Barbie-Figur.

„Sie ist mein Idol“, erklärte sie und streichelte ihrer Puppe über die platinblonde Mähne.

Überflüssig zu sagen, dass Beverly, ebenso wie ihr Idol, zu 90 % aus Plastik besteht.

Karmen mit K wie Katastrophe stand auf und schaltete die Musik ab.

„Da platzt einem ja der Schädel“, bellte sie in Richtung Jess, die vor Schreck zusammenzuckte. „Ich“, fuhr Karmen fort, „wollte mein Smartphone mitnehmen, weil mein ganzes Leben da drin ist. Aber die Produktion war nicht einverstanden, also hab’ ich mich für ein Foto von meinem Hund Lullaby entschieden. Schaut mal, sie zählt zu den kleinsten Chihuahuas der Welt!“

Bestürzt starrte ich auf das Foto des winzigen, zerbrechlich aussehenden Köters, der in ein rosafarbenes Mäntelchen gehüllt war.

„Witzig, Karmen, ich hätte mir bei dir eher einen Pitbull vorgestellt …“, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen.

Karmen mit einem K wie Krach warf mir einen vernichtenden Blick zu, während die anderen vor sich hin glucksten.

„Und du?“, fragte mich Devin, um das Thema zu wechseln. „Was ist dein Talisman?“

Albtraum.

Gespielt lässig warf ich die Schachtel Kondome auf den Tisch. Sofort brachen meine neuen Mitbewohner in lautes Lachen aus und die Typen fingen an, mich aufzuziehen und schlüpfrige Witze zu reißen. „Ah, ok, so bist du also drauf“, „Krass, Mädchen!“, „Ist dein Geheimnis, dass du eine Geschlechtskrankheit hast?“

„Jetzt ernsthaft“, fragte Alex, „warum eine Schachtel Gummis?“

„Weil ich eine unverbesserliche Optimistin bin. Ich hatte gehofft, die Produktion hätte ein paar brauchbarere Typen als euch gecastet, Jungs.“

Und peng!

Die ganze Runde schaute mich verdutzt an.

Vielleicht bin ich ein bisschen zu weit gegangen …

Jess brach als Erste in lautes Lachen aus, dicht gefolgt von Amber.

„Ha ha ha! Da hat sie’s euch echt gegeben, Jungs!“

Alex als guter Verlierer fing nun auch an, sich halb kaputtzulachen, während er Devin und Mason auf die Schultern klopfte.

„Du bist ja nicht auf den Mund gefallen. Gut so, ich hatte Angst, mit langweiligen Hühnern festzusitzen, aber ihr kommt mir so vor als hättet ihr Charakter, Mädels.“

„Übrigens“, grinste Devin, „ich habe festgestellt, dass die Packung geöffnet ist … und dass vier Kondome fehlen! Ja ja!“

„Wo ist das Problem?“, erwidere ich schulterzuckend. „Der Tag war lang und die Crew war nett …“

„Aha!“, lachte Mason lauthals auf, „das wird ja immer besser! Gut, aber was sollen wir mit deinen Parisern machen, wenn du uns doch hässlich findest?“

Ein schelmisches Funkeln huscht durch meine Augen. Schon habe ich eine Verpackung geöffnet und bin zum Wasserhahn gestürmt.

„Wasserbomben!“, rief ich lachend.

Und so habe ich die erste Wasserschlacht in der der Geschichte von Kleine Geheimnisse ausgelöst, die in allseits guter Laune endete.

Na, was? Sie hätten uns nur gleich von Anfang an zum Pool lassen brauchen.