Ende 1993 kam Manfred Brunner zu mir. Er war fast drei Jahrzehnte in der FDP gewesen und zuletzt von 1983 bis 1989 Vorsitzender der bayerischen Liberalen. Doch Anfang Januar 1994 sollte er eine neue Partei gründen, den Bund Freier Bürger. Hauptthema des BFB war die Ablehnung der Einführung des Euro. Brunner war ein Nationalliberaler, davon gab es in der FDP einige. Er fragte mich, ob ich bei der neuen Partei mitmachen wolle. Ich lehnte ab: »Herr Brunner, ich zweifle nicht an Ihrer liberalen Gesinnung. Aber Ihrer Partei werden sich Leute anschließen, die früher mal ganz rechts standen oder immer noch stehen. Sie können doch nicht jeden überprüfen. Wenn Sie 1.000 vernünftige Leute haben und zehn Rechtsradikale, dann werden die CDU und die linken Medien nur über die zehn sprechen, nicht über die 990 anderen. Das Ergebnis wird sein, dass vernünftige Leute, die ein Reputationsrisiko haben, nicht mehr zu Ihnen kommen, dafür jedoch immer mehr Rechtsaußen-Leute. Und dann kippt Ihre Partei.« Genauso ist es gekommen. Aus Frustration über die Rechtsentwicklung, die er nicht verhindern konnte, verließ Brunner 1999 die von ihm gegründete Partei und trat wieder der FDP bei – leider nur für zwei Jahre.
Was war meine politische Position? Links war ich schon lange nicht mehr. Durch meine Auseinandersetzungen mit der politischen Linken hielten mich auch manche ganz Rechten für einen der ihren. Das war ich nie. Manchmal heißt es, man müsse aufpassen, dass man nicht den »Beifall von der falschen Seite« bekommt. Dagegen kann man jedoch nur schwer etwas tun. Aber man muss aufpassen, wie man selbst auf den Beifall von der falschen Seite reagiert. Leider lässt sich bei manchen, die zunächst zu Unrecht als zu rechts beschimpft wurden, dann tatsächlich eine Entwicklung in diese Richtung beobachten. Bekommt man von der einen Seite Prügel und wird von der anderen umarmt, ist es menschlich verständlich, dass man lieber dahin geht, wo man Zuspruch erhält. Aber genau das wollte ich nicht.
Deshalb prägte ich den Begriff der »demokratischen Rechten«, für die aus meiner Sicht im demokratischen Spektrum einer pluralistischen Gesellschaft ebenso Platz sein sollte wie für eine demokratische Linke. Diesen Begriff fand ich treffender als den von meinen Kritikern verwandten Begriff der »Neuen Rechten«, der mir sehr diffus erschien, weil darunter auch solche Leute gezählt wurden, die eine pluralistische Gesellschaft ablehnten und einem rechten Antikapitalismus huldigten. Ich hatte mich jedoch nicht vom linken Antikapitalismus meiner Jugendzeit verabschiedet, um nun einem rechten Antikapitalismus das Wort zu reden.
Für meine Gegner war ich der Wortführer der »Neuen Rechten«. Eine kleine Episode, die für viele andere steht: Ich saß im Flugzeug von Berlin nach Frankfurt. Der Flieger hatte Verspätung. Um Zeit zu gewinnen und meine unvermeidliche Verspätung beim nächsten Termin um einige Minuten zu reduzieren, rannte ich im Landeanflug nach vorne. Durch Lautsprecheransage wurde ich in harschem Ton zwei Mal ermahnt, mich sofort zu setzen. Was ich aber so lange ignorierte, bis ich vorne war und Platz nahm – zufällig neben Michael Naumann, ehemals Kultusstaatsminister und »Zeit«-Herausgeber, der Erste Klasse flog (ich fliege bei Inlandsflügen stets Economy). Obwohl ich vorher nie mit ihm gesprochen hatte, ging er mich sofort an: »Haben Sie den Ton gehört, in dem man eben mit Ihnen gesprochen hat? Das ist genau der Ton, in dem auch Ihre rechten Artikel geschrieben sind.« Ich fragte ihn, welche Artikel er denn meine. Er konnte keinen einzigen nennen. Auf meine Frage, ob er wenigstens wisse, in welchem Medium er die Artikel gelesen habe, deren Ton ihm so sehr missfalle, nannte er die »Junge Freiheit«.
Ich antwortete ihm, dass ich dort nie einen Artikel geschrieben hatte. Wie die Behauptung, ich hätte bei Ernst Nolte promoviert und sei dessen Assistent oder »Schüler« gewesen, war auch diese ständig wiederholte Behauptung frei erfunden. Nicht frei erfunden ist übrigens, dass Naumann, der mich so scharf wegen meines Tons anging, selbst kurz davor wegen Beleidigung des Berliner Generalstaatsanwaltes, den er als »durchgeknallt« bezeichnet hatte, zu einer Geldstrafe von 9.000 Euro verurteilt worden war.
Im Juli 1993 gab ich der Zeitung »Junge Freiheit« ein Interview. Viele, die mir das vorwarfen, fanden selbst nichts dabei, Zeitungen wie der linksextremen »Jungen Welt« oder dem »Neuen Deutschland« Interviews zu geben. In dem Interview mit der »Jungen Freiheit« äußerte ich mich übrigens durchaus kritisch zur »Neuen Rechten«. Ich erklärte, die Linken seien insofern den Rechten überlegen, weil es in ihren Reihen Nonkonformisten und Querdenker gebe: »Bei den Rechten verstaubt vieles, weil sie niemand in den eigenen Reihen haben, der den Staub wegwischt. Ich würde beispielsweise gerne mal in Ihrer Zeitung einen kritischen Beitrag über rechte Verschwörungstheorien oder über den Dilettantismus vieler sogenannter ›revisionistischer‹ Zeithistoriker lesen.«
Ich fügte hinzu, dass mir die Politisierung der Geschichtswissenschaft ganz generell »zuwider« sei, »wobei mir eine rechte Politisierung ebenso unsympathisch wäre wie die über viele Jahre zu beobachtende Sozialdemokratisierung der ›kritischen‹ Geschichtswissenschaft.«
In dem 1994 von Schwilk und Schacht herausgegebenen Band »Die selbstbewusste Nation« hatte ich einen Beitrag zum Thema »Position und Begriff. Über eine neue demokratische Rechte« veröffentlicht. Hier betonte ich: »Die demokratische Rechte sollte sich nicht deshalb von Rechtsextremisten abgrenzen, um damit der Linken zu gefallen, sondern weil sie ganz andere Ziele als diese verfolgt und sie sich nicht durch solche Kräfte instrumentalisieren lassen darf. Die demokratische Rechte darf nicht die Rolle des nützlichen Idioten für die extreme Rechte spielen, die so viele Linksliberale in den Kampagnen gegen ›Berufsverbote‹ und ›Nachrüstung‹ für die Kommunisten gespielt haben.«
Anfang 1994 lernte ich Alexander von Stahl kennen. Ich hatte ihn zu einer von mir initiierten Gesprächsrunde eingeladen, dem »Berliner Kreis«, in dem sich Wissenschaftler, Journalisten und Politiker regelmäßig trafen. Ehemalige DDR-Bürgerrechtler wie Freya Klier waren ebenso dabei wie die bekannten Journalisten Peter Hahne und Peter Merseburger oder Wissenschaftler wie Arnulf Baring.
Von Stahl folgte meiner Einladung, und als wir uns persönlich kennenlernten, war er mir auf Anhieb sehr sympathisch. Wir stellten rasch fest, dass wir über viele politische Themen ganz ähnlich dachten. Der FDP-Politiker und ehemalige Generalbundesanwalt liebäugelte vorübergehend mit der Gründung einer eigenen Partei. Ich war aus den gleichen Gründen dagegen, wie ich sie Brunner erläutert hatte. Stattdessen schloss ich mich der FDP an. Nicht, weil ich in allen Positionen mit der Partei übereinstimmte – welches Mitglied tut das schon? –, sondern weil sie mir politisch am nächsten war. Das galt zumindest für die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Im Bereich der inneren Sicherheit sah ich jedoch Korrekturbedarf. Ich hielt nichts von der Linie von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die das Thema »Sicherheit für den Bürger« zu geringschätzte.
So sahen das auch Alexander von Stahl und Jürgen Kittlaus, der frühere Polizeipräsident von Berlin. Und so sahen das viele in der Spandauer FDP, die von Wolfgang Mleczkowski geleitet wurde. Im Juni 1994 trat ich der FDP Spandau bei und erarbeitete zusammen mit von Stahl, Kittlaus, Mleczkowski und einem Bankdirektor ein Positionspapier, das wir »Berliner Positionen einer Liberalen Erneuerung« nannten. Den größten Teil dieses Papiers hatte ich geschrieben, und auch heute, mehr als zwei Jahrzehnte später, stehe ich zu den zentralen Positionen. Deshalb möchte ich diese hier etwas ausführlicher zitieren.
1.»Bekenntnis zur Marktwirtschaft«. Unter diesem Programmpunkt hieß es u.a.: »Eine Neidkampagne gegen Besserverdienende dient auch nicht den sozial Schwachen. Was sozial verteilt werden soll, muss zunächst einmal marktwirtschaftlich erarbeitet werden … Der Sozialstaat muss diejenigen schützen und unterstützen, die nicht arbeiten können. Er darf aber nicht jene unterstützen, die nicht arbeiten wollen.«
2.»Rückbau des Staates«. Hier hieß es, der Staat müsse sich auf seine ursprünglichen Aufgaben, die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit, konzentrieren, anstatt durch eine ausufernde Bürokratie und Subventionen die Marktkräfte zu lähmen.
3.»Keine Technologiefeindlichkeit«. Wir forderten, dass die ideologische Blockade z.B. der Gentechnologie ebenso überwunden werden müsse wie die »Kapitulation des Staates im Bereich der Kernenergiepolitik«. Und dann hieß es: »Umweltschutz ist richtig und wichtig … Ökohysterie darf jedoch nicht Leitfaden der FDP-Politik sein.«
4.»Europa der Vaterländer«. Wir traten für einen Staatenbund statt einem europäischen Bundesstaat ein. »Individuelle Bürgerrechte haben ihre Wurzel und ihre Existenz in den nationalen Staaten. Die Abhängigkeit von der Brüsseler Bürokratie ist jetzt schon erdrückend.« Zudem warnten wir vor einer Abschaffung der D-Mark und der Einführung des Euro, die 1992 im Vertrag von Maastricht beschlossen worden war.
5.»Abschied von Ideologien«. Unter diesem Stichwort kritisierten wir die Ideologie der multikulturellen Gesellschaft. »Ziel muss es sein, den nach der Änderung des Asylrechts sich fortsetzenden Asylmissbrauch einzudämmen und die hier friedlich lebenden Ausländer zu integrieren.« Zudem wandten wir uns gegen feministisch motivierte Quotierungsregelungen, Antidiskriminierungsgesetze und »akademische Frauenforschung«.
Die Reaktion auf dieses Manifest war ein Aufschrei in den Medien. Die überregionalen Tageszeitungen berichteten auf der Titelseite, in den abendlichen Nachrichtensendungen im Fernsehen und den Politmagazinen war das Papier ein großes Thema. Es wurde gewarnt, die FDP könne einen Rechtsschwenk vollziehen. Die Parteiführung distanzierte sich von unserem Papier. Aber wir bekamen auch sehr viel Zustimmung aus anderen Bundesländern, vor allem aus den Landesverbänden Hessen und Nordrhein-Westfalen. Und in der Berliner Partei sympathisierten etwa 40 Prozent der Mitglieder mit unseren Positionen. Als Alexander von Stahl im Januar 1996 für das Amt des Berliner Landesvorsitzenden kandidierte, unterlag er mit 114 Stimmen zu 170 Stimmen gegen Martin Matz, der später zu der Partei wechselte, zu der er viel besser passte, nämlich zur SPD.
Wegen meiner Tätigkeit als Journalist musste ich mich selbst eher im Hintergrund halten. In der Öffentlichkeit galt ich als »Chefideologe« der Nationalliberalen in der FDP, aber nach außen vertrat Alexander von Stahl diese Richtung. Das war nicht ganz glücklich, denn er war zwar als ehemaliger Generalbundesanwalt bekannt, aber rhetorisch nicht sonderlich mitreißend.
Die FDP entwickelte sich nie ganz dorthin, wo wir sie gerne gesehen hätten. Aber unter Guido Westerwelle entwickelte sie sich später zu einer Partei, die eher unseren Vorstellungen entsprach. Mitte der 90er Jahre war ich allerdings verärgert darüber, dass wir von der Parteiführung ausgegrenzt wurden. Daran beteiligte sich leider auch Wolfgang Gerhardt, der uns vor dem Mainzer Parteitag im Juni 1995, auf dem er zum neuen Vorsitzenden gewählt wurde, zum Parteiaustritt aufforderte. Sein Vorgänger Klaus Kinkel nannte unsere Thesen »totalen Quatsch«. Umso mehr freute mich, dass der von mir sehr verehrte FDP-Ehrenvorsitzende Otto Graf Lambsdorff diese Reaktionen der Parteiführung öffentlich scharf kritisierte und in einem Gespräch mit der FAZ betonte, ein »gewisser Teil Nationalliberalismus« habe immer zur FDP gehört. »Wir sollten vorsichtig mit einer Beinahe-Gleichsetzung [von Nationalliberalismus und Rechtsextremismus] sein; sonst müsste die FDP sich fragen lassen, ob sie sich nachträglich von Thomas Dehler trennen sollte, denn er war ein Nationalliberaler«, so der wegen seiner konsequent marktwirtschaftlichen Gesinnung als »Marktgraf« bezeichnete Lambsdorff. Er war von 1988 bis 1993 selbst Bundesvorsitzender der FDP gewesen und ärgerte sich so sehr über unsere Ausgrenzung, dass er am 2. August in der FAZ einen ausführlichen Gastbeitrag unter dem Titel »Deutschlands neue Denkverbote« veröffentlichte.
Darin kritisierte Lambsdorff die »Diktatur der Political Correctness«: »Selbst moderat konservative Äußerungen werden an den Rand des Abgrunds der öffentlichen Akzeptanz gedrückt und haben Schwierigkeiten, überhaupt diskussionswürdig zu sein.« Die FDP müsse Denkverboten entgegentreten. Und was die Nationalliberalen anbelangt, betonte Lambsdorff: »Nationalliberale sind immer Teil der FDP gewesen. Sie haben den Liberalismus in bestimmten Phasen der deutschen Nachkriegsgeschichte mitgeprägt oder sogar repräsentiert, wie Thomas Dehler als früherer Parteivorsitzender.«
Im Dezember 1994 erhielt ich vom ehemaligen Parteivorsitzenden der FDP, Erich Mende, einen langen, handschriftlichen Brief. Der 78-Jährige, den ich bis dahin nicht kennengelernt hatte, schrieb, er wolle mir »mit diesem Brief meine Seelenverwandtschaft aus der Seniorengeneration bekunden … Lassen Sie sich nicht entmutigen!« Mende stand für einen nationalliberalen Kurs und hatte der FDP 1961 mit 12,8 Prozent das bis dahin zweitbeste Ergebnis der Parteigeschichte beschert, das erst 2009 von Westerwelle überboten werden sollte.
Auch Hermann Otto Solms verhielt sich immer fair und beteiligte sich nicht an meiner Ausgrenzung. Im Gegenteil: Solms lud mich sogar am 8. Dezember 1997 als Redner zu einer Veranstaltung ein, die die FDP-Bundestagsfraktion zusammen mit der »Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland« aus Anlass des 100. Geburtstages von Thomas Dehler organisierte. Ich sprach neben so prominenten FDP-Politikern wie Hans-Dietrich Genscher, Hildegard Hamm-Brücher, Wolfgang Gerhardt und Wolfgang Mischnick. Thema meines Vortrages war das Verhältnis zwischen Konrad Adenauer und Thomas Dehler. Mit dieser Einladung hatte die Parteiführung ein Signal gegen meine Ausgrenzung gesetzt. Die Vorträge wurden später in dem Buch »Thomas Dehler und seine Politik« veröffentlicht.
Ich bin bis heute Mitglied der FDP und unterstütze sie finanziell sowie als kritischer Dialogpartner, gelegentlich auch mit meiner Expertise zu immobilienwirtschaftlichen Themen. So war ich Mitinitiator der »Liberalen Immobilienrunde«, mit der wir in der Immobilienwirtschaft um Unterstützung und Zuspruch für die FDP werben. Wir luden zu dieser Runde Politiker wie Hermann Otto Solms oder den Parteivorsitzenden Christian Lindner als Referenten ein, ebenso den ehemaligen FDP-Bundestagsabgeordneten Frank Schäffler, der 2011 ein Mitgliedervotum für eine Änderung der Euro-Politik initiiert hatte.
Aber zurück in die 90er Jahre: Etwa ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung des Liberalen Manifests startete ich eine weitere Initiative. Anlass war der 50. Jahrestag des 8. Mai 1945, an dem Deutschlands am Vortag unterzeichnete Kapitulation in Kraft trat. In der DDR war dieses Datum stets als »Tag der Befreiung vom Faschismus« gefeiert worden. Im Vorfeld des 50. Jahrestages entwickelte sich, wie der »Spiegel« am 24. April 1995 beobachtete, »eine nicht mehr überschaubare Basisbewegung …: Kirchengemeinden, Geschichtswerkstätten, Schulklassen, Anti-Rassismus-Initiativen oder Schwulengruppen überziehen das Land mit einem dichten Netz von Ausstellungen, Tagungen, Lesungen und Gedenkfeiern. … Auf Initiative Michel Friedmans, Präsidiumsmitglied im Zentralrat der Juden, und des Hamburger Intendanten Jürgen Flimm unterzeichneten ZDF-Chef Dieter Stolte, der ARD-Vorsitzende Jobst Plog, aber auch die Chefredaktionen von Brigitte, Focus, Stern oder Max den Aufruf ›8. Mai 1995: Die Freiheit hat Geburtstag. Engagieren wir uns!‹ Die Meinungsmacher proklamieren einen ›Tag der Erinnerung und Hoffnung, den wir nicht allein den Parteien und Politikern überlassen wollen‹. Den gern geschmähten Politikern mit ihren erstarrten Kranzabwurf-Ritualen Konkurrenz zu machen reizt so manchen guten Menschen. Und so werden Peter Maffay, die ›Toten Hosen‹,
Udo Jürgens und viele andere am 7. Mai im Hamburger Thalia Theater die Befreiung besingen. Das ZDF überträgt live.«
Das fand ich bedenklich und nicht angemessen, weil es der Komplexität und Ambivalenz dieses Tages in keiner Weise gerecht wurde. Daher formulierte ich einen Aufruf, der als Anzeige in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« erschien und für den ich – zusammen mit Heimo Schwilk, Ulrich Schacht und Klaus Rainer Röhl – Hunderte Unterschriften sammelte. Das Vorgehen entsprach meiner Meinung, die ich in diesen Jahren immer wieder prononciert vertreten hatte: Wer die öffentliche Meinung beeinflussen und Diskussionen auslösen wolle, müsse von den erfolgreichen Methoden der Linken lernen.
Der Aufruf begann mit einem Zitat des ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss (FDP). Der Text unter der Überschrift »8. Mai 1945 – gegen das Vergessen« war knapp gehalten – und doch haben keine anderen Sätze, die ich in meinem Leben verfasste, so viel Aufregung verursacht wie diese 128 Worte, die erstmals am 7. April 1995 auf Seite 3 der FAZ erschienen:
»›Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.‹ Die Paradoxie des 8. Mai, die der erste Bundespräsident unserer Republik, Theodor Heuss, so treffend charakterisierte, tritt zunehmend in den Hintergrund. Einseitig wird der 8. Mai von Medien und Politikern als ›Befreiung‹ charakterisiert. Dabei droht in Vergessenheit zu geraten, dass dieser Tag nicht nur das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft bedeutete, sondern auch den Beginn von Vertreibungsterror und neuer Unterdrückung im Osten und den Beginn der Teilung unseres Landes. Ein Geschichtsbild, das diese Wahrheiten verschweigt, verdrängt oder relativiert, kann nicht Grundlage für das Selbstverständnis einer selbstbewussten Nation sein, die wir Deutschen in der europäischen Völkerfamilie werden müssen, um vergleichbare Katastrophen künftig auszuschließen.« So weit der Anzeigentext.
Zu den prominenten Ernstunterzeichnern gehörten der damalige Entwicklungshilfeminister Carl-Dieter Spranger (CSU) und der Ehrenvorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Alfred Dregger
sowie der ehemalige Bundesminister Hans Apel (SPD). Unterschriften kamen auch von den ehemaligen Landesministern der CSU bzw. CDU, Peter Gauweiler und Heinrich Lummer, vom ehemaligen
Bundesminister Friedrich Zimmermann (CSU), einigen FDP-Politikern wie Alexander von Stahl, Heiner E. Kappel und Hans-Manfred Roth sowie dem einstigen bayerischen FDP-Vorsitzenden und damaligen Chef des Bundes Freier Bürger, Manfred Brunner. Auch eine ganze Reihe anderer Persönlichkeiten, etwa Professoren wie der bekannte Soziologe Erwin Scheuch oder General a.D. Günter Kießling unterschrieben.
Der Aufruf geriet umgehend zum Politikum. Der Sprecher der Bundesregierung, Peter Hausmann, äußerte ausdrücklich Verständnis für den Aufruf. An den 8. Mai, so der Regierungssprecher, knüpften sich viele Gefühle. Er sei ein Tag der Befreiung, aber auch der Trauer um die Opfer des Holocausts und auf den Schlachtfeldern. Für viele Menschen verbinde sich mit diesem Tag zudem die Erinnerung an den Beginn der Vertreibung. »Es gibt nicht nur ein Gefühl, das an diesem Tag herrscht«, sagte der Regierungssprecher.
Ähnlich differenziert äußerte sich Karl Lehmann, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz. Für ihn sei der 8. Mai zwar ein Tag der Befreiung, aber es sei ungerecht, so der Bischof, wenn nicht der vielen Millionen Vertriebener gedacht würde. »Wenn man darüber spricht, muss man ja noch nicht ein Rechter sein.«
Indes wandte sich der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, mit scharfen Worten gegen den Aufruf. Die SPD-Sprecherin Dagmar Wiebusch forderte, dass sich alle Unterstützer des Aufrufs aus demokratischen Parteien nachträglich distanzieren sollten. Der Grünen-Vorstandssprecher Jürgen Trittin warf der Union und der FDP vor, »ihren rechten Rand nicht mehr unter Kontrolle zu haben«. Mit dem Aufruf werde der einzigartige Charakter des NS-Regimes verdrängt.
Die öffentliche Erregung über den Aufruf war groß, wobei die Medien gespalten waren. Eckhard Fuhr verteidigte uns gegen die Kritik in einem Leitartikel der FAZ: »Es hat jetzt also, so will es die moralisierende Klasse in diesem Lande, der 8. Mai als Tag der Befreiung zu gelten. Und wehe dem, der das nicht in der gebotenen Plattheit täglich wiederholt.« In einem weiteren Artikel schrieb Fuhr: »Zitelmanns Unterschriftenaktion ist eben nicht nur das Erinnern an Selbstverständlichkeiten, sondern eine kühl berechnete politische Aktion. Die politisch-kulturell vorherrschende Linke sollte in ihrer pawlowschen Berechenbarkeit und Dürftigkeit vorgeführt werden. Das ist zu einem guten Teil gelungen.« Auch ein anderer führender Redakteur der FAZ, der für die Innenpolitik Verantwortliche Friedrich Karl Fromme, stellte sich auf unsere Seite.
Dagegen beschimpfte Heribert Prantl in der »Süddeutschen Zeitung« die Unterzeichner der Anzeige als »Relativierer« und »heimlich über die deutsche Niederlage vom 8. Mai 1945 Trauernde«. Die »Zeit« nannte den Text »widerlich«.
Der Publizist Ralph Giordano bezeichnete in der taz den Aufruf als Beleg für »das Krebsgeschwür eines demokratiefernen und durch und durch reaktionären Geschichtsrevisionismus auch noch im Deutschland des ausgehenden Jahrhunderts. Die Liste der Unterzeichner deutet auf Metastasen in nachgewachsenen Generationen hin.«
Auf prominente Unterzeichner wurde massiver Druck ausgeübt, sie sollten ihre Unterschrift zurückziehen. Von den 300 Unterzeichnern tat dies jedoch nur einer, Hans Apel von der SPD. Der Ex-Verteidigungsminister erklärte mir und anderen gegenüber später mehrfach, er habe dies schon kurz darauf bereut. Ihm tat es sehr leid, dem Druck nicht standgehalten zu haben.
Die Kritiker setzten sich weniger mit dem Text des Aufrufes auseinander als mit der Liste der Unterzeichner. Unter ihnen war auch eine Handvoll Funktionäre der Partei »Republikaner«. Unterschreiben konnte jeder, und wir stellten keine Nachforschungen darüber an, wer sich hinter welchem Namen verbarg. Kein einziger Republikaner hatte seine Parteizugehörigkeit hinzugefügt.
In einer SAT.1-Fernsehdiskussion im April 1995 in der damals beliebten Sonntagabend-Talkshow »Talk im Turm« (moderiert vom ehemaligen »Spiegel«-Chefredakteur Erich Böhme) wurde ich gefragt, ob es mir nicht zu denken gebe, dass auch Republikaner unterschrieben hätten. Ich entgegnete, ich könne doch nichts dafür, wenn ich sage, dass zwei und zwei vier ist, und mir dann jemand zustimme, dessen Meinungen ich ansonsten nicht teile. Jedenfalls dürfe das ja kein Grund sein, deshalb zu sagen, zwei und zwei seien fünf. Ich fand die Aufregung über diese Unterzeichner auch deshalb nicht sehr überzeugend, weil diejenigen, die sich am lautesten darüber aufregten, nie etwas dabei gefunden hatten, wenn unter »Friedensaufrufen« oder Initiativen gegen »Berufsverbote« neben SPD-Leuten Vertreter der kommunistischen DKP unterzeichneten.
Die Fernsehdiskussion gab mir eine gute Gelegenheit, meine tatsächlichen Positionen darzustellen. Meine Kritiker waren überrascht, dass das Zerrbild, das sie von mir kannten, nicht bestätigt wurde. Im Berliner »Tagesspiegel«, der mir kritisch gegenüberstand, hieß es: »Zitelmann live ist die freundliche Sachlichkeit in Person, das genaue Gegenteil der schreibenden Kunstfigur gleichen Namens.« Ich hätte in der Fernsehdebatte »gesiegt«, weil ich mich über nichts aufgeregt habe.
Wir hatten eine Gedenkveranstaltung in München für den 7. Mai 1995 geplant, zu der Alfred Dregger als Hauptvortragsredner zugesagt hatte. In den Wochen vor der Veranstaltung telefonierte ich immer wieder mit ihm, weil er massiv bedrängt wurde, seine Zusage zurückzuziehen. Dregger war angesichts des Drucks der Unionsführung sichtlich verunsichert, erklärte mir jedoch wiederholt, er »wackle« nicht und stehe zu seiner gegebenen Zusage. Öffentlich erklärte er, wie die FAZ berichtete, es gehe den Kritikern des Aufrufs darum, »alles auf den Begriff der Befreiung von Hitler zu reduzieren und alles andere, was an Schrecklichem mit diesem Tag verbunden sei, zu leugnen«.
Aber in den Telefonaten mit mir räumte Dregger ein, dass Bundeskanzler Helmut Kohl ihn bedrängte, seine Zusage zurückzuziehen. Grund war weniger der Anzeigentext oder das Thema 8. Mai als der geplante Auftritt von Manfred Brunner bei der Podiumsdiskussion. Der war Kohl ein Dorn im Auge, weil Brunner ein vehementer Gegner des Euro war – jenes Projektes, das Kohl besonders am Herzen lag.
Unter diesem Druck begann Dregger zu wanken. Nach jedem Telefonat mit mir schien er wieder gefestigt in seiner Zusage. Aber wenn danach Kohl und der damalige CSU-Vorsitzende Theo Waigel auf ihn einredeten, war er wieder verunsichert. Ich merkte, dass es für ihn ein schwerer Kampf zwischen innerer Überzeugung und Parteiraison war. Schließlich stellte er die Bedingung, wir sollten Brunner wieder ausladen oder die gesamte Podiumsdiskussion absagen. Das lehnten wir ab.
Die Zeitung »Die Woche« berichtete am 5. Mai: »Helmut Kohl, alarmiert vom öffentlichen Echo auf den rechten Aufruf, wollte nicht zulassen, dass am 8. und 9. Mai auch nur ein Schatten auf seine großen Auftritte in London, Paris, Berlin und Moskau fallen könnte … Er befahl seinem Parteifreund den geordneten Rückzug. Soldat Dregger gehorchte widerstrebend – und bekam dafür ein Lob: Inhaltlich, gestand Fraktionschef Schäuble ihm und der Parteirechten zu, gebe es gegen den Aufruf ›gar nichts einzuwenden, das ist erlaubt und notwendig‹.« Im »Focus« hieß es: »Gleich drei Spitzenpolitiker der Union setzten Dregger in Einzelgesprächen unter Druck«, nämlich Kohl, Waigel und Wolfgang Schäuble.
Am 28. April sagten wir schließlich die ganze Veranstaltung ab. Vorher hatte es zwischen Schwilk, Schacht und mir dazu Meinungsverschiedenheiten gegeben. Ich war gemeinsam mit Peter Gauweiler der Meinung, es bestehe die Gefahr, dass rechtsradikale Trittbrettfahrer aufspringen und medienwirksam an der Veranstaltung teilnehmen würden, ohne dass wir dies verhindern könnten. Das Signal, das davon ausginge, wäre fatal. Schacht und Schwilk sahen diese Gefahr auch, meinten jedoch, wir dürften all die, die uns unterstützt hatten, nicht enttäuschen und klein beigeben. Nach meiner Meinung hatten wir unser Ziel einer breiten Diskussion bereits erreicht, und das Risiko, all dies wieder durch die Veranstaltung zu gefährden, schien mir zu groß.
Wir gaben schließlich eine Presseerklärung heraus, in der wir schrieben: »Obwohl wir die Absage der Veranstaltung bedauern, ist doch ein wesentliches Ziel der Initiative erreicht, nämlich die Einheitssprachregelung von der ›Befreiung‹ zu durchbrechen. Neben den Schrecken der nationalsozialistischen Diktatur, an die die Erinnerung wachgehalten werden muss, wurden in den letzten Wochen in der öffentlichen Debatte auch die Vertreibungsverbrechen thematisiert.«
Es gab in der öffentlichen Diskussion in diesen Wochen nur wenige Zwischentöne. Eine Ausnahme war ein Kommentar von Ulrich Deupmann, einem späteren Redenschreiber des Bundesaußenministers (und heutigen Bundespräsidenten) Frank-Walter Steinmeier, im Feuilleton der »Süddeutschen Zeitung«. Der Tenor seines Kommentars war gerade deshalb bemerkenswert, weil Deupmann inhaltlich der Kritik an unserem Aufruf zustimmte. »Warum«, so fragte er jedoch, »ist die Provokation des Aufrufs ›Gegen das Vergessen‹ eigentlich so furchtbar? Sie hat letztlich etwas ganz Erstaunliches ausgelöst: Die Deutschen diskutieren an Theken und Stammtischen, in Wohnzimmern und Vereinsheimen zurzeit nicht nur über Fußball und die Verkehrsberuhigung der Goethestraße. Sie diskutieren die Frage, ob der 8. Mai 1945 … ein Tag der Befreiung war oder nicht. Lebendiger ist ein Gedenktag doch wohl selten begangen worden ... Nun wird diskutiert, werden Argumente ausgetauscht, auf die Waage gelegt und für gut oder schlecht befunden: ein herrlich demokratischer Vorgang.«
Warum, so fragte der Kommentator der »Süddeutschen Zeitung« weiter, fänden das denn ausgerechnet diejenigen so schlecht, die sich sonst oft als Wächter der demokratischen Grundrechte schätzen? »Und was soll dieser jakobinische Eifer, mit dem manche rufen: Wer den 8. Mai nicht als Tag der Befreiung begehen wolle, der sei nicht befreit und bereite den Boden für braunen Ungeist, aus dem einst alles wuchs?«