Drei Tage vor Heiligabend, am 21. Dezember 2015, war mein engster Mitarbeiter am Telefon. Ich wartete gerade vor der Gepäckkontrolle am Frankfurter Flughafen, so wie fast jede Woche. Und so wie seit 15 Jahren jeden Tag etwa zehn Mal telefonierte ich mit Holger Friedrichs, dem Leiter der PR-Abteilung meiner Firma »Dr. ZitelmannPB.«. Ich erzählte ihm eine gute Nachricht von einem Kunden, der seinen Vertrag um zwei Jahre verlängert hatte. Friedrichs ging gar nicht darauf ein, sondern erwiderte: »Ich habe auch eine Nachricht, aber eine schlechte. Ich gehe. Ende Januar bin ich weg.«
Das war ein Schock. Die geschäftliche Partnerschaft mit Holger Friedrichs hatte 15 Jahre gedauert. Und jetzt das. Völlig überraschend. Drei Tage vor Weihnachten. Aus heiterem Himmel. Meine Firma hatte im letzten Jahr viele gute Mitarbeiter verloren, vor allem durch meine Schuld. Ich hatte einige Fehler gemacht. Mich zu wenig um die Firma gekümmert, weil ich den rechten Spaß verloren hatte. Ich hatte mehr Freude daran, meine zweite Doktorarbeit zu schreiben. Und ich war immer schon ein schwieriger Chef, mit dem viele Mitarbeiter nicht zurechtkamen. Einer war mir immer treu geblieben und hatte Tag und Nacht für die Firma gearbeitet, als wäre es die eigene.
Und nun geht: er. Der Mitarbeiter, von dem fast alles abhängt! Was er konnte, konnte ich nie. Ein PR-Genie mit einer schlafwandlerischen Sicherheit für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Am 1. Oktober 2001 hatte ich ihn eingestellt. Ich hatte meine Firma ein Jahr zuvor gegründet. Weil ich ein guter Verkäufer bin, war es mir gelungen, sieben Kunden zu gewinnen, mit denen ich startete. Jeder zahlte 120.000 D-Mark im Jahr. Aber nach einem Jahr dämmerte es mir, dass ich eine Firma gegründet hatte, von der die Kunden mehr Kompetenz in der PR forderten, als ich selbst sie hatte. Ja, ich war vorher einige Jahre lang ein erfolgreicher und bekannter Journalist gewesen. Doch von PR verstand ich nur wenig, so wie übrigens die meisten Journalisten.
Damals bewarb sich eine junge Frau bei uns, die sich dann letztlich für einen anderen Job entschied. »Wenn Sie mir einen bringen, der was von PR versteht«, versprach ich ihr, »dann bekommen Sie 1.000 D-Mark Belohnung.« Sie brachte Friedrichs. Ich wusste sofort: Das war der richtige Mann. Mir gefiel seine Studienkombination – Philosophie und Chemie –, und er hatte vor allem mehrere Jahre PR-Erfahrung.
Friedrichs ist ein ruhiger Typ. Ganz das Gegenteil von mir. Der nur zehn Prozent von dem redet, was ich rede. Der wenig lacht – bzw. nur dann, wenn man dazusagt, dass man gerade einen Witz erzählt hat. Aber ein Mensch, dem man zu 100 Prozent vertrauen kann. Nur das und der große Fleiß – sowie eine gehörige Portion Selbstbewusstsein – verbinden uns beide. Jetzt stehe ich hier vor dem Gepäckband am Frankfurter Flughafen, und er sagt mir, dass er in wenigen Wochen weg sei. »Was wollen Sie machen?« Dazu wollte er nichts sagen.
Hatte ihn ein Kunde abgeworben? Würde er seine eigene PR-Firma aufmachen und vielleicht dabei einige Kunden und Mitarbeiter mitnehmen? Mehrere Kunden hatten sich sogar vertraglich zusichern lassen, dass sie sofort kündigen können, wenn Friedrichs die Firma verlassen sollte. Ich tippte spontan darauf, dass er sich selbstständig machen wollte. Diese Befürchtung hatte ich vor vielen Jahren manchmal gehabt, aber wenn das jemand über 15 Jahre nicht tut, rechnet man irgendwann nicht mehr damit. Vor allem, weil wir uns immer super verstanden haben – und bis heute super verstehen.
»Herr Friedrichs, wenn Sie schon gehen, dann bitte nicht sofort. Das geht auf keinen Fall. Sie wissen, in welcher schwierigen Situation die Firma ist. Das fliegt mir komplett um die Ohren.« Vielleicht war das ein wenig übertrieben, aber die Situation ohne Friedrichs wäre auf jeden Fall sehr schwierig geworden. Er war nicht zu erweichen: 31. Januar. Keinen Tag länger. »Dann bin ich weg.«
In einer solchen Situation kann man sehr unterschiedlich reagieren, zum Beispiel: »Warum passiert das mir? Was für eine Schweinerei! Wie undankbar ist der?! Lässt der mich von heute auf morgen im Stich …« Glücklicherweise habe ich nicht die Gewohnheit, so zu reagieren. Vor allem nicht, wenn es wirklich ernst wird. Dann überlege ich sofort: »Wofür könnte das Problem gut sein? Wie kann ich die Chance nutzen, die in dem Problem steckt?«
Zwei Minuten nachdem Friedrichs (ich sieze mich mit ihm wie mit allen Mitarbeitern und übrigens auch, bis auf vier oder fünf Ausnahmen, mit allen männlichen Freunden) mir eröffnet hatte, dass er geht, hörte ich mich sagen: »Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen die Firma verkaufe?« Mir schoss dieser Gedanke spontan durch den Kopf, als ich mich zwang zu überlegen: »Wo könnte die Chance in diesem Problem liegen?« Ja, liegt darin nicht eine Riesenchance für mich? Eine solche Firma, die den eigenen Namen trägt und von der jeder glaubt, sie sei nicht viel wert ohne einen selbst, ist schwer zu verkaufen. Man kann sie höchstens an eine andere Firma verkaufen, die dann aber in der Regel von einem verlangt, dass man noch einige Jahre an Bord bleiben soll. Als Angestellter! Das wäre so für mich, wie wenn ich mich scheiden ließe, und der Richter sagen würde: »Bedingung ist aber, dass Sie weitere vier Jahre mit dieser Frau zusammenleben.« Viele Firmenchefs machen so etwas. Für mich wäre das nichts.
Und nun kündigt mein engster Mitarbeiter. Das könnte eine Chance sein … Zwei Tage nach dem Telefonat saßen Friedrichs und ich mit einem Wirtschaftsprüfer und zwei Steuerexperten zusammen, danach führten wir Gespräche mit den Banken. Diskutierten, wie man den Verkauf strukturieren und finanzieren könnte. Fünf Wochen später unterschrieben wir beim Notar den Kauf- und Übertragungsvertrag für 100 Prozent der Firmenanteile sowie eine Beratungs- und Kooperationsvereinbarung für die nächsten drei Jahre.
Ich habe die Firma zu einem vernünftigen Preis verkauft, aber es kam mir nicht darauf an, das Maximum rauszuholen. Mit Immobilien hatte ich genug Geld verdient. Jetzt ging es nicht um eine Million mehr oder weniger, sondern darum, sauber aus der Sache rauszukommen. Den Mitarbeitern eine Perspektive zu geben. Die Kunden nicht im Stich zu lassen. Meinem engsten Mitarbeiter, dem ich viel zu verdanken habe, eine Chance zu eröffnen. Der Firma eine Zukunftsperspektive zu hinterlassen. Und selbst ganz frei zu werden. Wäre mir der Verkauf nicht gelungen, hätte ich die Firma im schlimmsten Fall abwickeln müssen. 40 Mitarbeiter wären ohne Job gewesen.
Durch den Verkauf der Firma fühlte ich mich frei, befreit. Ich flog erst einmal für sieben Wochen nach New York, wo ich 2012 eine Wohnung gekauft hatte, die sonst vermietet ist. Nun wohnte ich selbst dort und verbrachte die Zeit ohne Plan und ohne Programm. Ich wollte erst einmal die neue Freiheit und den Sommer in Manhattan genießen.
Ich musste nicht mehr von Termin zu Termin. In den letzten 15 Jahren war jeder Tag verplant, meist schon zwei bis drei Monate im Voraus. Zum Abschied haben mir die Mitarbeiter ein kleines Buch geschenkt und ausgerechnet, dass ich 468.845,44 Flugmeilen geflogen und 129.142,94 Kilometer mit der Bahn gefahren bin. Um 136 Kunden zu gewinnen und zu betreuen, 22 in Hamburg, 13 in Frankfurt, 23 in München, fünf in Stuttgart, sieben in Düsseldorf, vier in Köln, drei in Bonn usw. Mir hat diese Arbeit eine Riesenfreude gemacht, so wie die anderen Dinge, die ich zuvor im Leben gemacht hatte – als Historiker, als Verlagslektor und als Journalist. Aber es war nun einmal nie mein Konzept, das ganze Leben über nur eine Sache zu tun.