Kapitel 1:
Von der Galaktischen Zeitung zum Roten
Banner

Wir waren vier Geschwister. Für jedes Kind hatte meine Mutter ein Album angelegt. Neben Fotos schrieb sie dort in kurzen Berichten auf, wie sie ihren Sohn und ihre drei Töchter erlebt hat. Für 1964, ich war damals sieben Jahre, findet sich ein Foto, wie ich an meiner ersten Schreibmaschine sitze, die ich mir zu Weihnachten gewünscht hatte. Seitdem sind nur wenige Tage in meinem Leben vergangen, an denen ich nicht an der Schreibmaschine oder – später dann – am PC gesessen hätte.

Meine Berufswünsche als Kind wechselten. Mit sieben Jahren wollte ich unbedingt Archäologe werden. Das war mein großer Traum. Damals waren wir in ein Neubaugebiet in der Frankfurter Nordweststadt gezogen. Da konnten wir überall aufsammeln, was wir »Römerscherben« nannten, also Bruchstücke aus Krügen und anderen Gefäßen. Ich sammelte alles: Münzen, eine Pfeilspitze, Teile von Tongefäßen – all das war mehr als 1.600 Jahre alt. Ich war oft den ganzen Tag mit den Archäologen zusammen und sah zu, wie sie beispielsweise einen Keller aus der Römerzeit freilegten. Dort wurden bedeutende Funde einer ehemaligen Siedlung der Römer gemacht.

Für das Frühjahr 1966, ich war acht Jahre alt, finden sich drei ungewöhnliche Bilder und Kommentare meiner Mutter in dem Album. Eines zeigt mich neben einer riesigen Fotocollage. Für die Collage hatte ich Fotos von bekannten deutschen Politikern aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten und aufgeklebt. Ganz groß sieht man den für seine bissigen Zwischenrufe im Bundestag bekannten SPD-Politiker Herbert Wehner mit seiner markanten Pfeife. Meine Mutter überschrieb das Foto: »Das Interesse für Politik wächst«.

Daneben ein anderes Foto – wie ich als Achtjähriger im Grundgesetz lese: »Studium der Verfassung«, hatte meine Mutter dazu­geschrieben, und: »Seit Beginn der Wahl Herbst 1965 wird die Archä­ologie beiseitegelegt, Rainer ist nur noch ›SPD-Politiker‹. Jede Zeitung, Spiegel, Nachrichten usw. sind wichtig, allen voran Willy Brandt … Dein Zimmer hängt voller Bilder der Politiker, Rainer weiß darüber bestens Bescheid. Das Zimmer ist stets in guter Ordnung mit einem ›Bürotisch‹.«

Und dann schließlich ein ungewöhnliches Bild mit einem ungewöhnlichen Kommentar. Ich sitze in meinem Zimmer am Schreibtisch. Das Zimmer sieht nicht aus wie ein Kinderzimmer, sondern wie ein Büro. An der Wand hängt ein persönlich von Willy Brandt signiertes Foto. Und daneben schrieb meine Mutter: »Unser SPD-Abgeordneter in seinem ›Büro‹. Willy Brandt hochverehrt. Von ihm persönlich Brief + Bild erhalten.«

Kaum dass ich lesen gelernt hatte, las ich Magazine und Zeitungen wie den »Spiegel« und die »Frankfurter Rundschau«, die meine Eltern abonniert hatten. So wie andere Jungen die Fußball-Bundesliga verfolgten (die mich nicht im Geringsten interessierte), verfolgte ich gebannt jede Landtags- und Bundestagswahl. 1965 fieberte ich mit Brandt, dem Kanzlerkandidaten der SPD – er verlor. Warum ich mich so für Brandt begeisterte, kann ich nicht sagen. Er war ein charismatischer Politiker, und meine Eltern wählten SPD. Brandt wurde scharf von seinen konservativen Kritikern angegriffen – das machte ihn mir sympathisch.

Als Achtjähriger malte ich Hefte mit politischen Karikaturen und Zeichnungen. Die SPD und Brandt waren die Guten, die CDU und Ludwig Erhard die Bösen. Und die NPD-Leute malte ich mit Hakenkreuz. Vor allem finden sich in den Heften Entwürfe für die Wahlwerbung der SPD. »Man kann wieder wählen. Man wählt SPD«, lautete einer der Slogans, die ich aufzeichnete. Ob ich ihn mir selbst ausgedacht oder irgendwo aufgeschnappt hatte, weiß ich heute nicht mehr. Jedenfalls zeigte sich darin ein sehr frühes Interesse für Politik einerseits und Marketing andererseits. Beide Themen sollten mich mein Leben lang begleiten. Manche Zeichnungen waren sehr kindlich, z.B. »Erhard ist doof, Willy ist gut. Nur SPD«. Dazu eine Zeichnung von Erhard mit seiner Zigarre. Eine Zeichnung fertigte ich offenbar an nach dem enttäuschenden Ausgang der Wahl mit der tröstenden Prognose: »1969 wird Willy Brandt gewählt«.

Mein Vater und ich schickten die Hefte mit den Zeichnungen an Willy Brandt. Als ich diese Autobiografie schrieb, fand ich die Aufzeichnungen im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung – zusammen mit der Korrespondenz. Brandt schrieb mir am 5. November 1965: »Über deine Aufzeichnungen aus der Zeit des Wahlkampfes habe ich mich sehr gefreut, vor allem auch darüber, dass ein Junge in deinem Alter schon so regen Anteil am politischen Leben nimmt.« Dazu schickte er mir eine signierte Autogrammkarte. Im Archiv fand sich ein Entwurf des Briefes (wahrscheinlich durch einen Referenten) mit persönlichen Änderungen von Brandt. Der Leiter des Archivs der Friedrich-Ebert-Stiftung schrieb mir dazu: »Da der Entwurf des Antwortschreibens handschriftliche Einarbeitungen von Willy Brandt trägt, können Sie getrost davon ausgehen, dass er die beiden Büchlein auch tatsächlich gesehen hat.« Mein handschriftlicher Antwortbrief fand sich ebenfalls noch nach über 50 Jahren im Archiv.

Dass mein Vater mich darin bestärkte, meine Kritzeleien dem SPD-Vorsitzenden zu schicken, ist nur eines von vielen Beispielen dafür, dass er und meine Mutter der Meinung waren, ich sei ein besonderes Kind mit besonderen Fähigkeiten. Als meine Mitarbeiter nach dem Verkauf meiner Firma mir ein Büchlein mit einer Chronologie der vergangenen 15 Jahre als Abschiedsgeschenk machten, fand ich diese Anmerkung meiner Eltern darin: »Wir, deine Eltern aber, hielten den Atem an. Es existierte kein Ratgeber, der uns helfen konnte, mit einem überbegabten Kind in der Familie den normalbürgerlichen Alltag zu bestehen.«

Manche Psychologen kritisieren, wenn Eltern ihren Kindern immer wieder vermittelten, etwas ganz Besonderes zu sein, machten sie diese damit zu Narzissten. Vielleicht ist das tatsächlich so, aber manche Psychologen sind heute der Ansicht, eine kräftige Dosis Narzissmus sei keineswegs schädlich, sondern hilfreich. Ein hohes Selbstwertgefühl und die damit verbundene Überzeugung, etwas Besonderes zu sein, ist vielleicht die entscheidende Voraussetzung, um im Leben etwas Besonderes zu leisten.

Während im Alter von acht bis zehn Jahren bei mir die Politik im Vordergrund gestanden hatte, wechselte das – ebenso intensive – Interesse mit elf Jahren zum Thema Raumfahrt und Astronomie. Im Dezember 1968 startete die Apollo 8 zum Mond. Das erste Mal umkreisten drei Amerikaner den Mond, diesmal noch ohne auf ihm zu landen. Das faszinierte mich: Für mich gab es jetzt nur die Themen Astronomie und Raumfahrt. »Die Raumfahrt steht im Vordergrund«, schrieb meine Mutter in das Fotoalbum. Andere Jungen verkleideten sich zu Fastnacht als Indianer oder Cowboys. Ich wurde Astronaut. Damals gab es keine fertige Verkleidung für Astronauten zu kaufen. Meine Mutter nähte mir einen Raum­anzug, mein Vater bastelte mir aus Styropor einen Astronautenhelm und sogar eine Strahlenpistole, wie ich sie in der der Science-Fiction-­Fernsehserie »Raumpatrouille« über das Raumschiff Orion gesehen hatte.

Mit elf Jahren startete ich mein erstes Zeitungsprojekt, eine Zeitung über Raumfahrt und Astronomie. Meine Mutter schrieb 1968 in das Fotoalbum: »Eine Astronautenzeitung in eigener Herstellung zeigt Begabung für Druck, Schriftstellerei. Die Ausdauer bei Dingen, die interessieren, ist enorm. Fast ausschließliche Beschäftigung mit einem Interessengebiet über lange Zeit. Kritisch zur Umwelt, zu den Lehrern!«

Was meine Mutter schrieb, ist später in meinem Leben so geblieben: Die »fast ausschließliche Beschäftigung mit einem Interessengebiet über lange Zeit« ebenso wie eine kritische Haltung zur Umwelt und die Begabung für das Schreiben.

Das Projekt nannte ich »Galaktische Zeitung«. Ich habe noch einige dieser Ausgaben, etwa die aus dem Juni 1969, das war bereits die Nummer 30. Zu Weihnachten hatte ich mir eine Spiritus-­Umdruckmaschine gewünscht. Damals gab es keine Fotokopier­geräte, wer etwas vervielfältigen wollte, schrieb auf sogenannten Matrizen, die mit einem Spiritusdrucker vervielfältigt wurden.

Ich war bei dieser Zeitung alles in einer Person: Herausgeber, Redakteur, Drucker und Vertrieb. Nur die Abbildungen ließ ich lieber von einem Freund zeichnen, weil ich das selbst nicht gut konnte. Später ließ ich auch einzelne Artikel von Freunden schreiben. Damals entdeckte ich zwei Dinge, die mir bis heute Freude machen: erstens das Schreiben und zweitens die Akquisition: Wahrscheinlich staunten die Ladenbesitzer nicht schlecht, als ein 11-jähriger Junge zu ihnen hereinspaziert kam und fragte: »Haben Sie Interesse an einer Anzeige in einer Schülerzeitung?«

In einer Ausgabe, in der ich ausführlich die erste Landung auf dem Mond beschrieb (Apollo 11 im Juli 1969), gab es beispielsweise die Anzeige eines Buchladens: »Bücher Korb Nordwestzentrum«. Ich hatte mir überlegt, was für den Ladenbesitzer und für die Leser meiner Zeitung interessant sein könnte, das waren Bücher über die Mondlandung und über Astronomie. Der Anzeigentext lautete: »Hier einige der vielen Mondbücher, die im BÜCHER KORB nordwestzentrum erhältlich sind: Flug zum Mond (Burda-Verlag) für nur 10 DM, Hallo Erde (Metzler) usw.«

In der Nr. 32 informierte ich: »Liebe Leser, heute wollen wir etwas über Anzeigen sagen. Eine Anzeige ist Reklame … In dieser Zeitung kostet jede Zeile 20 Pfennige … Man kann sich folgende Farben aussuchen: Violett, grün, schwarz, rot, blau. Eine Anzeige auf der ersten Seite ist nur bis zu einer Größe von 3 Zeilen möglich, sie kostet 5 Mal so viel wie normal.« Dann gab es noch ein Sonderangebot für größere Anzeigen.

In der Zeitung findet sich auch eine Eigenanzeige für den »Astro­nautik-Club«, den ich gegründet hatte. Jahrzehnte später berichtete mir Ronny Kohl, ein bekannter Finanzjournalist, er sei damals Mitglied in meinem Club gewesen, in dem wir unsere Begeisterung für die Weltraumfahrt teilten. Ich hatte den Ronny Kohl, dessen Artikel ich in »Euro am Sonntag« las, gar nicht mit dem Ronny aus meiner Kindheit zusammengebracht.

Eine Eigenanzeige warb in der Zeitung für einen neuen »Sammelband der Galaktischen Zeitung, 5-farbig«, den man mit Preisvorteil kaufen konnte. Außerdem überlegte ich mir, wie ich mit meiner Umdruckmaschine Geld verdienen könnte. Deshalb eine weitere Eigenanzeige: »Wir drucken alles, 50 Blätter in 5 Farben, alles inbegriffen, nur 1,50 DM. Rufe sofort an! Nach 1 Stunde ALLES GEDRUCKT! ES LOHNT SICH!« Ob jemand von diesem Angebot Gebrauch machte, weiß ich nicht mehr.

Ich verschlang viele Bücher über Astronomie, wusste auswendig alles über jeden Planeten in unserem Sonnensystem – wie viele Monde er hat, wie hoch die Schwerkraft dort ist, wie groß er im Durchmesser ist usw. Damals begann ich meine ersten kleinen Buchbesprechungen zu verfassen. Die erste fand ich in Nr. 30 der Galaktischen Zeitung, besprochen hatte ich ein Buch mit dem Titel »Raumfahrt – das große Abenteuer«. In der Nr. 32 besprach ich das Buch »Der Mond« aus der Reihe »Was ist was?«: »Das Buch endet mit den Worten: ›Die Welt, in der wir leben, die Erde … ist schön, aber sie ist zu klein für den Menschengeist. Er wird nicht ruhen, bis er die Gestirne erreicht hat.‹« Später in meinem Leben würde ich viele Hundert Rezensionen schreiben, und heute habe ich ein eigenes Internetportal »Empfohlene Wirtschaftsbücher«, auf dem ich Buchbesprechungen veröffentliche.

1970, ich war damals 13, stand wieder die Politik im Vordergrund. Die Schülerzeitung, die ich jetzt herausgab, war schon professioneller hergestellt. Sie hieß »Yeah«, wurde im Offsetdruck produziert und auf der ersten Seite stand: »auflage 2000 Stück, preis: lehrer 1 dm. schüler 0,10 dm.« Die Zeitung entwickelte sich – so wie meine eigene Gesinnung – zunehmend nach links. Das war Ende der 60er bzw. Anfang der 70er Jahre nichts Ungewöhnliches, im Gegenteil. Die gesellschaftliche Atmosphäre war stark geprägt von der 68er-Bewegung. Ende der 60er Jahre waren linke Studenten in deutschen Universitätsstädten auf die Straße gegangen. Sie demonstrierten gegen den Krieg in Vietnam, aber auch ganz generell gegen den Kapitalismus, gegen die »Konsumgesellschaft« und gegen »autoritäre Strukturen«. Heute wird diese Bewegung überwiegend positiv gesehen – ich teile diese Einschätzung nicht. Viele negative Veränderungen unserer Gesellschaft hatten ihren Ausgangspunkt in dieser Kulturrevolution von 1968. Das analysierte ich später in meinem Buch »Wohin treibt unsere Republik?«

Auch meine Eltern waren links und an meiner Schule standen eigentlich alle mehr oder minder links, die Lehrer ebenso wie die Schüler. Es ging nicht darum, ob man links war, sondern zu welcher linken Fraktion man gehörte. Selbst die »Naturfreundejugend«, in der meine älteren Mitschüler engagiert waren, die die Zeitung »­tumor« herausgaben, stand sehr, sehr weit links. Ungewöhnlich war allenfalls, dass ich schon mit 13 Jahren stark politisch engagiert war, denn die Mitschüler aus der Naturfreundejugend, mit denen ich viel Zeit verbrachte, gingen alle in die 12. oder 13. Klasse, während ich erst in der 8. Klasse war.

Die erste Seite meiner eigenen Zeitung »Yeah« vom November 1970 zeigte eine zum kommunistischen Gruß geballte Faust, die Geldscheine zerknüllte. Darunter stand: »Einen Finger kann man brechen, fünf Finger sind eine Faust! Vereint sind wir stärker!« Und in der Zeitung findet sich ein Artikel über die »Rote Zelle«, die ich an meiner Schule gegründet hatte.

Ich hatte vorher andere Schülerzeitungen herausgebracht, und es war mir gelungen, die Firma Neckermann als Anzeigenkunde zu gewinnen. Da war die Zeitung allerdings noch nicht so extrem links. Der Marketingchef von »Neckermann Nordwest-Zentrum« traute seinen Augen nicht, als er in der vierten Ausgabe von »Yeah« neben seiner Anzeige (»Einkaufen im Nordwest-Zentrum. Da gibt’s nur eins: einkaufen bei Neckermann. Dem beliebten Familien-Kaufhaus«) ein Foto eines fetten Kapitalisten fand, der im Geld badete – mit der großen Bildzeile: »Macht den Unternehmern Dampf – Klassenkampf.« Als ich ihm das Belegexemplar vorbeibrachte und nach der nächsten Anzeige fragte, meinte er: »Also das musst du verstehen, dass wir unter dieser Voraussetzung keine Anzeigen mehr schalten können. Auch Neckermann ist ja ein Unternehmen. Und wenn da zum Klassenkampf aufgerufen wird, nein, also das geht nun wirklich nicht mehr.«

Das verstand ich, hatte aber schon neue Finanzierungsmöglichkeiten gefunden. Es gab in Frankfurt mehrere linksradikale Buchhandlungen, so etwa das »libresso« oder die »Karl-Marx-Buchhandlung«. Ich marschierte als 13-Jähriger ins libresso, eine große Buchhandlung in bester Lage, direkt am Opernplatz. Heute befindet sich dort ein teures Restaurant. Damals hingen an den Wänden riesige Poster von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao. Unter jedem Poster stand eine Parole, zum Beispiel: »Es lebe die Diktatur des Proletariats« (bei Stalin) oder »Dem Volke dienen« (bei Mao). »Haben Sie Interesse, eine revolutionäre Schülerzeitung mit einer Anzeige zu unterstützen?«, fragte ich den Besitzer der Buchhandlung. Beide Buchläden sagten zu.

Das war nicht selbstverständlich, denn die Leute, die hinter den Buchhandlungen standen, mochten sich überhaupt nicht. Bei der Karl-Marx-Buchhandlung waren das die Genossen vom »Revolu­tionären Kampf« – Daniel Cohn-Bendit, später Abgeordneter für die Grünen im Europaparlament, und Joschka Fischer, der spätere grüne Außenminister. Beim libresso war es die KPD/ML. Die rivalisierenden linksextremen Gruppen waren nicht so begeistert, dass eine Anzeige auch für die Buchhandlung der jeweils anderen Fraktion in meiner Zeitung erschien.

Ich war oft im libresso, denn die Buchhandlung war mit einem Café verbunden, in dem sich die ML-Szene traf. Bei einem der Besuche wunderte ich mich, warum an einem Regal ein Eispickel hing. Das war das Regal, in dem die trotzkistische Literatur lag. Daneben ein Zettel: »Die Trotzkisten sollen nicht vergessen, wie Trotzki umgekommen ist.« Das war makaber. Der russische Revolutionär Leo Trotzki war 1940 in seinem Exil in Mexiko von einem Agenten Stalins mit einem Eispickel ermordet worden. Die KPD/ML (Roter Morgen), die hinter dem libresso stand und auf Stalin und Mao schwor, schloss sich 1986 übrigens absurderweise ausgerechnet mit der trotzkistischen »Gruppe Internationaler Marxisten« (GIM) zur »Vereinigten Sozialistischen Partei« (VSP) zusammen. Sie ging 1996 in der PDS auf, die heute »Die Linke« heißt.

Zurück ins Jahr 1970: Ich ging auf die Ernst-Reuter-­Schule in der Frankfurter Nordweststadt. Das war eine der bekanntesten Schulen in Deutschland und mit 2.600 Schülern seinerzeit wohl auch die größte. Es gibt zu ihr sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag: »Sie wird ausdrücklich als Modell- und Experimentalschule angesehen, die den neuen gesellschaftspolitischen Bedingungen dadurch gerecht werden soll, dass sie kritische Bürger einer neuen Gesellschaft erzieht. Als Modell- und Experimentalschule sollte sie zum Ausstrahlungspunkt für weitere Schulen im gesamten Bundesgebiet werden.«

Wie erwähnt waren auf der Ernst-Reuter-Schule fast alle Lehrer sehr weit links. Der »rechteste« Lehrer, an den ich mich erinnern kann, gehörte der SPD an. Viele Lehrer waren Mitglied im »Sozia­listischen Lehrerbund«. Es gab zwei Lehrer, die mich »entdeckt« hatten und darum wetteiferten, wer mich für seine Gruppe gewinnen könnte. Einer hieß Dieter Kraffert, er war Mitglied der maoistischen KPD/ML. Er hatte gerade ein Haus im Frankfurter Westend besetzt und schrieb in meiner Zeitung einen »Augenzeugenbericht von der Besetzung des Hauses Liebigstraße 20«.

Die andere Lehrerin, die sich bemühte, mich zu »agitieren«, war Mitglied der »Roten Panther« und Freundin des ehemaligen SDS-Chefs Karl Dietrich »KD« Wolff. Sie brachte mir die Publikationen des März-Verlages sowie des Rote-Stern-Verlages mit. Diese Verlage gaben einerseits Schriften der amerikanischen Black-Panther-­Bewegung heraus, andererseits die Aufsätze und Reden des nordkoreanischen Diktators Kim Il Sung. Der Freund der Lehrerin hatte 1970 Nordkorea besucht und war begeistert zurückgekehrt.

Ich schloss mich zunächst keiner dieser Gruppen an, sondern gründete meinen eigenen Verein, die »Rote Zelle Ernst-Reuter-­Schule«. Das erste Treffen der Roten Zelle fand am 4. Dezember 1970 statt – ich war ein halbes Jahr zuvor 13 Jahre alt geworden. Auf die Idee war ich gekommen, als ich eine Folge des konservativen »ZDF-Magazins« sah. Dieses Magazin wurde von 1969 an von einem glühenden Antikommunisten moderiert, Gerhard Löwenthal. Damals war er für uns das Feindbild. Mitte der 90er Jahre sollte ich ihn persönlich kennen- und schätzen lernen, weil er einer der wenigen war, die nicht nur über die Unterdrückung im fernen Chile oder Südafrika berichteten, sondern auch über das Unrecht in der DDR.

Löwenthal hatte sich in einer seiner straff konservativen Sendungen heftig darüber erregt, dass sich überall an den Universitäten Rote Zellen gebildet hatten. Das gefiel mir. Rote Zelle. Das war offenbar etwas, worüber sich die Konservativen so richtig aufregten. »Wenn der Feind uns bekämpft, dann ist das gut und nicht schlecht«, war eines meiner Lieblingszitate aus der sogenannten Mao-Bibel – einem kleinen, roten Büchlein mit den »Worten des Vorsitzenden Mao Tse-tung«.

Löwenthals Sendung war für mich der Auslöser, selbst eine Rote Zelle an meiner Schule zu gründen. Ich überzeugte Mitschüler, mitzumachen. Wir trafen uns jede Woche, und ich gab Schulungen über die Schriften von Mao. Ich wurde zum Sprecher der Sekundarstufe 1 gewählt – das waren alle Schüler bis zur 9. Klasse.

Mit meiner Roten Zelle stand ich in der gewählten Schülervertretung (SV) gegen die Anhänger der SDAJ, die Jugendorganisa­tion der Moskau-treuen DKP. Wir schrieben allerdings D»K«P und »S«DAJ konsequent mit Anführungszeichen, weil diese aus unserer Sicht den Kommunismus längst verraten hatten. So wie Axel Springer in seinen Zeitungen »DDR« in Anführungszeichen setzte, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass sie nicht demokratisch war. Einmal war sogar das Fernsehen bei uns in der Schule und interviewte mich über die Rote Zelle – und mir war es am wichtigsten, in dem kurzen Interview gegen die SDAJ zu wettern, gegen die ich Artikel in meiner Zeitung schrieb. So berichtete ich empört, dass die SDAJ-Schülergruppe einen Genossen rausgeworfen habe, nur weil er das DDR-System kritisierte.

Unsere Zeitung benannte ich um in »Rotes Banner«, sie war nun das »Organ der Roten Zelle Ernst-Reuter-Schule«. Einmal half uns ein sympathisierender Lehrer, der nachts heimlich in der Schuldruckerei unsere Zeitung druckte. Ansonsten finanzierte ich die Zeitung und die Rote Zelle durch die Anzeigen der linksextremen Buchläden. Andere Anzeigen, wie etwa die Werbung für eine Fahrschule in der Ausgabe 4/71, bekamen wir nur noch selten. Eine neue Methode der Finanzierung, die ich mir ausgedacht hatte, war der Verkauf von Broschüren, Büchern und Postern aus China.

Dazu muss man wissen: Es gab in Peking einen »Verlag für fremdsprachige Literatur«. Da erschien beispielsweise die »Peking Rundschau« in deutscher Sprache, die ich jede Woche las. Zudem druckten die Chinesen Bücher von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Tse-tung in deutscher Sprache. Und sie druckten große farbige Poster dieser »Klassiker des Marxismus/Leninismus«. Ich schrieb im Alter von 14 Jahren einen Brief nach Peking: »Liebe Genossen, seit einiger Zeit beziehe ich die Bücher und Poster aus eurem Verlag. Ich habe eine Bitte: Könnt ihr uns diese Bücher und Poster kostenlos schicken? Ich würde sie gerne an unserer Schule verkaufen, um die revolutionäre Schülerarbeit unserer Roten Zelle zu finanzieren. Mit sozialistischem Gruß. Rainer Zitelmann.« Die Antwort aus Peking war positiv. So hatte ich nach dem Wegfall der alten Anzeigenkunden (wie Neckermann) einen Weg gefunden, die Zeitung und die Aktivitäten der Roten Zelle zu finanzieren.

Was mit den Chinesen geklappt hatte, funktionierte auch mit den Vietnamesen. Ich bestellte Schriften der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams in deutscher Sprache und verkaufte sie über Anzeigen im »Roten Banner«. In einer Anzeige wird beispielsweise »Das Testament des Präsidenten HÔ Chí Minh« für 50 Pfennige angeboten, ebenso eine Schrift über das Massaker von My Lai.

Ich besitze noch einige Ausgaben dieser Zeitung, und darin schrieb ich zum Beispiel über »Umweltverschmutzung«, »Hilfe für Indochina«, »Aktion Widerstand – ein Sammelbecken für Nazis« oder »Angela Davis: neues Opfer der US-Justiz«. Ein wichtiges Thema war der Vietnamkrieg: »Für den Profit der Reichen – geht Nixon über Leichen«, so überschrieb ich einen Artikel. In der gleichen Ausgabe veröffentlichte ich einen sehr kritischen Artikel über den »Sozialismus« in Polen. »Sozialismus« hatte ich in Anführungszeichen gesetzt. Es ging um Arbeiterdemonstrationen in Polen. Die westliche Presse verzerre die Wahrheit, wenn sie behaupte, die Streiks richteten sich gegen den Sozialismus, denn den hätten die Regierenden in Polen längst verraten.

Daneben gab es Artikel, die sich sehr kritisch mit einzelnen Lehrern auseinandersetzten. Ich griff Lehrer scharf namentlich an, was für einiges Aufsehen sorgte. So hieß es in einem Artikel über »Die Methoden von H. Murmann« (Name geändert, R.Z.): »Er stellt Schüler in die Ecke, zieht sie an den Haaren, stößt ihre Köpfe aneinander, greift Schüler persönlich an und duldet keine Verteidigung.«

Als meine Eltern von Frankfurt nach Messel umzogen (ein Dorf in der Nähe von Darmstadt), gründete ich an der Schule gleich eine Niederlassung der Roten Zelle. Da war das Klima ein ganz anderes als an der Ernst-Reuter-Schule. In der Nr. 3/71 berichtete ich: »An der Georg-Büchner-Schule in Darmstadt darf das Rote Banner nicht mehr verkauft werden! Einige Schüler der Georg-Büchner-Schule hatten dort auf dem Schulgelände das Rote Banner verkauft. Die Verkäufer fanden die begeisterte Zustimmung der Schüler für unsere Zeitung: Innerhalb von 10 Minuten wurden über 30 Exem­plare verkauft. Doch dann mussten wir aufhören. Eine Lehrerin erschien und beschlagnahmte ca. 15 Exemplare des Roten Banners und teilte uns mit, wir dürften diese Zeitung nicht mehr auf dem Schulgelände verkaufen … Dieses Verbot wurde später auch noch offiziell vom Direktor, Herrn Born bestätigt.«

Der Direktor meinte, wir würden die Ordnung der Schule gefährden, das könne er nicht dulden. Dazu schrieb ich in dem Artikel: »Wir gefährden also die Ordnung an der Schule. Das geben wir zu! Wir sind gegen die herrschende Ordnung, die uns Schülern fast keine und den Lehrern fast alle Rechte gibt. Vorerst werden wir unsere Zeitung vor dem Schulgelände verkaufen.« Auch das half nichts. Kurz darauf hatte ich einen Termin bei dem Direktor, der mir rundheraus erklärte, entweder würde ich die Schule freiwillig verlassen, oder er werde dafür sorgen, dass ich von der Schule verwiesen werde. Ich ging.

Die nächste Schule, in der ich mich anmeldete, war das Victoria-­Gymnasium in Darmstadt. Sofort gründete ich dort eine Rote Zelle. Ich habe noch die erste Ausgabe der »Roten Schülerpresse 1/72«, in der ich schrieb: »Am 9.11.72 hat sich an der Vico die Rote Zelle konstituiert.« Deren wichtigste Aufgabe sei der »Kampf gegen die bürgerliche Ideologie, wie sie täglich an den Schulen verbreitet wird«. Verantwortlich zeichnete ich allerdings nicht mehr selbst. Ich glaube nicht, dass mehr als eine Ausgabe dieser Zeitung erschienen ist. Denn ich hatte mich inzwischen entschieden, diese Aktivitäten einzustellen und mich einer der maoistischen Gruppen anzuschließen, die damals in Deutschland sehr aktiv waren.