Dass ich Geschichte und Politikwissenschaft studieren wollte, war für mich klar, da Politik seit frühester Kindheit mein Hauptinteressengebiet war. Besondere Berufsziele verband ich damit aber nicht. Ich wusste nicht, was ich werden wollte, und hatte mir darüber auch nie ernsthaft Gedanken gemacht. Hätte man mich als Teenager gefragt, dann wäre mein Traumberuf sicher der Berufsrevolutionär gewesen, wie ihn Lenin idealisiert beschrieben hatte. Nun gut, das war natürlich keine richtige Berufsperspektive, also studierte ich erst einmal.
Vorher hätte ich eigentlich zur Bundeswehr gemusst, doch ich drückte mich. Ich könnte das heute mit meinem damals linken politischen Standpunkt begründen, aber das wäre nur die halbe Wahrheit. Denn dann hätte ich ja den Kriegsdienst verweigern können, um beispielsweise in einem Altenheim zu arbeiten. Doch ich hatte weder zu dem einen noch zu dem anderen Lust.
Ich muss zugeben, dass ich damals geschummelt habe. Vor der Musterung für die Bundeswehr trank ich jede Menge Kaffee und hielt bei den Kniebeugen sowie beim Blutdruckmessen die Luft an, um den Blutdruck in die Höhe zu treiben. Ich hatte vorher sogar geübt, wie man ganz unauffällig die Luft anhalten kann. Mein Ziel, ausgemustert zu werden, erreichte ich nicht, ich wurde mit »T2« als »verwendungsfähig mit Einschränkung für bestimmte Tätigkeiten« eingestuft. Ich legte Widerspruch gegen den Bescheid ein und musste zum Facharzt der Bundeswehr, der mich offensichtlich für einen Simulanten hielt. Immerhin wurde ich für ein Jahr zurückgestellt und dann noch einmal zur Musterung vorgeladen.
Ich brachte ein Jahr später nicht nur das Attest eines mir wohlgesinnten Internisten mit, der vegetative Dystonie bescheinigte. Sondern ich hatte eine frische Narbe am Bauch und einen Gipsarm – die bereits erwähnte Sportverletzung war vom Kraftsport und eine andere vom Karatetraining, was ich allerdings verschwieg, da ich wahrheitswidrig behauptete, keinen Sport zu treiben. Diesmal wurde ich tatsächlich ausgemustert.
Ein Bekannter, der diese Passage im Manuskript las, war regelrecht empört über mein Verhalten, was ich auch verstehe: Ja, ich hatte geschummelt, um mich vor der Bundeswehr und vor dem Ersatzdienst zu drücken. Dass ich gelogen hatte, entsprach nicht meinem Charakter, weil ich ansonsten ein sehr ehrlicher Mensch bin. Aber dass ich alle Tätigkeiten, die mir keine Freude machten, sabotierte und stets nach einem Weg suchte, auf keinen Fall irgendwelche Dinge zu tun, die mir keinen Spaß machten, das war eine Haltung, die mich mein ganzes Leben lang begleitete.
Im Wintersemester 1978/79 schrieb ich mich für das Studium der Geschichte und der Politikwissenschaft ein, um das Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien zu erwerben. Zwar war Lehrer nie mein Traumberuf, schon damals nicht, aber ich interessierte mich eben für Politik, und so entschied ich mich für diese Studienfächer. Dennoch war ich in den ersten Semestern nicht besonders motiviert. Fast hätte ich das Geschichtsstudium sogar abgebrochen, weil ich es hasste, dass ich Latein nachlernen musste. Für Fremdsprachen hatte ich nie ein großes Talent. Das hing mit meiner ausgeprägten Aversion zusammen, irgendetwas auswendig zu lernen. In Mathe musste ich nichts auswendig lernen, da ging es einfach darum, dass man es verstand. Und so war es auch in Deutsch oder Sozialkunde. Aber bei Fremdsprachen muss man sich nun einmal Vokabeln eintrichtern. Das hatte ich schon in der Schule nicht gemocht, und deshalb war Französisch mein mit Abstand schlechtestes Fach. Und nun musste ich vier Stunden die Woche Latein nachlernen, was mich nicht im Geringsten interessierte. Ich bekam sogar regelrechte Bauchschmerzen in den Lateinstunden. Zum Glück hielt ich durch, machte mein Kleines Latinum und konnte Geschichte weiterstudieren.
Mit größerem Engagement als beim Studium war ich beim Bodybuilding-Training, zu dem ich nach Anfängen im Gewichtheben und Karate gewechselt war. In meinem Studium bekam ich zwar (mit einer Ausnahme) bei allen Scheinen eine »1«, aber richtig begeistert war ich anfangs nicht. Ich fühlte mich unterfordert. Das änderte sich durch zwei Professoren. Der eine hieß Klaus Bringmann und war ein angesehener Spezialist für Alte Geschichte. Bei ihm besuchte ich mehrere Seminare über Cäsars Diktatur. Bringmann sah in mir ein Talent und weckte meine Begeisterung für das Studium. Ich besuchte ihn häufig in der Sprechstunde, einmal kam er sogar zu mir nach Hause, wo wir intensiv über Probleme der Cäsar-Forschung diskutierten. Ich erinnere mich, wie er mir das größte Kompliment bereitete, das er wohl einem Studenten machen konnte: Er meinte, ich schriebe in einem Stil wie … Julius Cäsar.
Der andere Professor hatte den beeindruckend langen Namen Prof. Dr. Dr. h.c. Karl Ottmar Freiherr von Aretin. Er kam aus einer bekannten bayerischen Adelsfamilie, war mit Ruth Uta von Tresckow verheiratet, einer Tochter des Wehrmachtsgenerals und Widerstandskämpfers beim Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944, Henning von Tresckow. Bei von Aretin besuchte ich 1980/81 erstmals Seminare über die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, so etwa über die Rolle der Kirchen im Dritten Reich und über Geschichtsverfälschungen in der rechtsradikalen Literatur über die NS-Zeit.
Bis dahin hatte ich mich nicht sehr intensiv mit dieser dunklen Epoche der deutschen Geschichte befasst. Nach der marxistischen Theorie war der »Faschismus« eine Form der Diktatur des Finanzkapitals, sozusagen der letzte Versuch, das kapitalistische System vor dem Untergang zu bewahren. Zweifel an dieser Theorie kamen mir, als ich begann, mich näher mit dieser Zeit zu beschäftigen. Jetzt las ich die bekannte Hitler-Biografie des FAZ-Herausgebers Joachim Fest, die mich sehr beeindruckte. Die Einsicht, dass die marxistische Theorie das Phänomen des Nationalsozialismus nicht erklären konnte, trug dazu bei, dass ich mich generell vom Marxismus entfernte.
Die Idee zu promovieren hatte ich nicht selbst, sondern der Assistent des bereits erwähnten Althistorikers Bringmann. »Sie haben so großes Talent, Sie müssen promovieren«, meinte er. Ich fragte zwar zuerst einmal, wozu das gut sein solle, fand aber an dem Gedanken Gefallen, da mir die wissenschaftliche Arbeit Freude machte. Vielleicht wäre das ja auch eine Berufsperspektive, später mal Geschichtsprofessor zu werden. Doch das stand nicht im Vordergrund, sondern das wachsende Interesse an der Hitlerforschung. Ich las Hunderte Bücher über Hitler und den Nationalsozialismus und entschloss mich schließlich, über ein Thema der Hitlerforschung zu promovieren.
Neben von Aretin und Bringmann »entdeckte« mich ein anderer Hochschullehrer, Wolfgang Michalka, ein Experte für die Zeit des Nationalsozialismus, der viele Aufsätze und Bücher dazu veröffentlicht hatte. Zugleich war er Herausgeber der Zeitschrift »Neue Politische Literatur«. Er ermunterte mich, dort Buchbesprechungen zu veröffentlichen. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise schrieben dort anerkannte Wissenschaftler, nicht jedoch Studenten. Ich veröffentlichte in dieser angesehenen Fachzeitschrift schon im Alter von 25 Jahren einen langen Aufsatz zum Thema »Hitlers Erfolge – Erklärungsversuche in der Hitlerforschung«.
Bei der Lektüre all der Literatur über Hitler und das Dritte Reich hatte ich eine Forschungslücke entdeckt: Es gab zwar schon ein Büchlein und einige Aufsätze über Hitlers Weltanschauung, aber noch niemand hatte sich systematisch mit Hitlers Denken, insbesondere mit seinen sozial-, wirtschafts- und innenpolitischen Vorstellungen befasst. Warum interessierte mich das Thema? Mir war, so wie sicher den meisten Menschen, unbegreiflich, wie so viele Deutsche – Arbeiter wie Bürgerliche – einem Mann wie Hitler folgen konnten.
Mir war klar, dass seine fanatische Rassenideologie bestimmt nicht der Grund war. Als jemand, der sich intensiv mit Revolutionstheorien und politischer Ökonomie befasst hatte, nahm ich mir Hitlers sozialpolitisches und wirtschaftspolitisches Gedankensystem vor. Schon in meiner Staatsexamensarbeit, die ich 1983 verfasste, setzte ich mich mit dem Thema auseinander. Sie umfasste 250 Seiten und lautete: »Soziale Zielsetzungen und revolutionäre Motive in Hitlers Weltanschauung als Forschungsdesiderat.« Dort hatte ich ein Forschungsprogramm formuliert. Ich hatte die gesamte wissenschaftliche Literatur zum Thema aufgearbeitet, Fragen gestellt und Hypothesen entwickelt, denen ich dann in meiner Doktorarbeit nachgehen wollte.
Das Studium schloss ich mit der Bestnote 1,0 ab – »mit Auszeichnung bestanden«. Ich hatte mit meinen Eltern vereinbart, dass sie mich bis zum Abschluss des Studiums finanziell unterstützten. In einer der vielen harten Auseinandersetzungen, die ich mit Anfang 20 mit meinem Vater hatte und bei der er mir androhte, mich »rauszuschmeißen«, sagte ich: »Okay, ich ziehe aus, aber nur, wenn ich 1.000 DM im Monat bekomme.« Ich muss zugeben, dass ich darüber sogar eine rechtliche Vereinbarung beim Notar geschlossen habe. Ich hatte mir das selbst ausgedacht und den Inhalt der Vereinbarung vorformuliert: Meine Eltern sollten mir 1.000 DM im Monat geben – abzüglich des Betrages, den ich eventuell als Bafög erhalten würde. Damit ich das nicht ausnutzte und Dauerstudent würde, legten wir auf meinen Vorschlag hin fest, diese Vereinbarung gelte nur so lange wie die Förderungshöchstdauer für das Bafög. Eine solche Vereinbarung zu schließen ist sicher recht ungewöhnlich, aber hier zeigte sich schon mein Sicherheitsstreben, was finanzielle Dinge anlangt – und ein Faible für schriftliche Verträge, die mir lieber waren, als mich auf mündliche Zusagen zu verlassen.
Nach dem Ersten Staatsexamen musste ich, da die Vereinbarung mit meinen Eltern ausgelaufen war, auf eigenen Beinen stehen. Meine Eltern hatten sich an den Vertrag all die Jahre genau gehalten, und selbstverständlich hielt auch ich mich daran und kümmerte mich nun um eine »Anschlussfinanzierung«. Es gab mehrere Stiftungen, die besonders begabte Studenten für eine Promotion förderten. Für eine solche Förderung brauchte man einen sehr guten Studienabschluss und Gutachten von zwei Professoren.
Ich hatte das Glück, dass mein Doktorvater Professor von Aretin ein international sehr renommierter Wissenschaftler war, dessen Wort etwas zählte. Auf sein Gutachten vom Januar 1984 bin ich sehr stolz. Von Aretin schrieb: »Herr Zitelmann ist ohne Zweifel der begabteste Student, der mir in meiner 20-jährigen Lehrtätigkeit untergekommen ist … Zu dieser Begabung kommt ein enormer, an Besessenheit grenzender Fleiß, der ihn befähigt, sich auch in ganz andere, abgelegene Themen in kurzer Zeit einzuarbeiten.« Er schloss das Gutachten mit der Versicherung, er könne sich »dafür verbürgen, dass das Ergebnis (der Dissertation, R.Z.) für die Zeitgeschichte von großem Interesse sein wird«.
Ich hatte mich bei vier Institutionen beworben: Bei der Studienstiftung des deutschen Volkes, bei dem von Aretin geleiteten Institut für Europäische Geschichte in Mainz, bei der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung und beim Evangelischen Studienwerk Villigst. Die Studienstiftung lehnte trotz der sehr guten Noten und Gutachten zunächst den Antrag auf ein Stipendium ab.
Aus der Begutachtung ergebe sich ein »modifiziert negatives Votum«, so die Studienstiftung, die die Einwände des Gutachters (der in solchen Fällen nicht genannt wird) konkret benannte. Mein Motto war damals schon, kein »Nein« zu akzeptieren, und ich widerlegte in einem ausführlichen Brief die Einwände des Gutachters. Tatsächlich gelang es mir, mit meinen Argumenten zu überzeugen, und im Juli 1984 bekam ich doch noch eine Zusage der Studienstiftung für das Promotionsstipendium. Im Mai hatte ich jedoch schon eine Zusage der Villigst-Stiftung erhalten, die in den nächsten zwei Jahre meinen Lebensunterhalt finanzierte.
Ich nahm mir zunächst vor, alle Äußerungen von Hitler, also seine Bücher, Reden und Aufsätze, zusammenzutragen, und hoffte, dabei auch neues Material zu entdecken. Damals gab es noch nicht die großen wissenschaftlichen Editionen von Hitlers Reden und Aufsätzen. Ich musste also in viele Archive gehen, um das Material zu sammeln. Ich ging alle Ausgaben der NS-Zeitung »Völkischer Beobachter« aus zwei Jahrzehnten durch und kopierte im Bundesarchiv in Koblenz Tausende Seiten mit Hitler-Reden, sichtete im Institut für Zeitgeschichte in München Tagebücher und private Papiere von Hitler-Vertrauten und trug erstmals die bis dahin unbekannten Aufsätze zusammen, die Hitler 1928 bis 1930 in der NS-Zeitschrift »Illustrierter Beobachter« veröffentlicht hatte. Ich las auch Hitlers »Mein Kampf« und sein weniger bekanntes »Zweites Buch«, in dem er sich vor allem zur Außenpolitik ausgelassen hatte.
Mein Ziel war es, aus all diesen verstreuten Äußerungen Hitlers Denkweise zu rekonstruieren, insbesondere seine sozial-, wirtschafts- und innenpolitischen Vorstellungen. Dabei stellte ich immer wieder die Frage, was in den Reden bloße, nach außen gerichtete Propaganda war und was seinen wirklichen inneren Überzeugungen entsprach. Denn Hitler war ein Meister der Demagogie und verstand es oftmals, Anhänger und Gegner über seine wahren An- und Absichten zu täuschen.
In der Einleitung zu meiner Doktorarbeit hieß es: »Da Hitler der Meinung war, die Masse sei dumm und unfähig zu differenziertem Denken, sind seine Reden auch dann nach dem ›Schwarz/Weiß‹- und ›Gut/Böse‹-Schema aufgebaut, wenn er selbst wesentlich differenzierter über verschiedene Sachverhalte dachte.« Ich entwickelte eine Methode, ein dreifaches Raster, um festzustellen, ob Äußerungen des Diktators nur taktisch motiviert oder ernst gemeint waren. So verglich ich das, was Hitler im kleinen Kreis gesagt hatte, z.B. in seinen langen nächtlichen Monologen unter engen Vertrauten im Führerhauptquartier, mit dem, was er öffentlich erklärte. Ich untersuchte zudem, wie häufig und wie konstant sich bestimmte Gedankenmuster wiederholten, zu welchen Themen seine Meinungen gleich blieben und zu welchen sie sich änderten.
Ein weiteres Kriterium war schließlich die innere Schlüssigkeit seiner Aussagen. »Wir haben«, schrieb ich in der Einleitung meiner Doktorarbeit, »von bestimmten, axiomatisch festgelegten Grundannahmen Hitlers auszugehen, die ihm sein ganzes Leben hindurch als Fixpunkte dienten, von denen ausgehend er seine Stellungnahme zu allen konkreten Einzelproblemen entwickelte.« Das war beispielsweise seine Idee vom »ewigen Kampf«, die sich bei ihm sozialdarwinistisch begründete. Oder es gab da das »Persönlichkeitsprinzip«, wonach Geschichte immer nur von einzelnen herausragenden Persönlichkeiten gestaltet werde. »Wenn sich eine Ansicht Hitlers logisch und stringent aus den von ihm entwickelten Grundprinzipien ableiten lässt«, so folgerte ich, »liegt somit die Vermutung nahe, dass es sich hier um einen ernstzunehmenden Teil seiner Weltanschauung und nicht bloß um eine auf Propagandawirkung abzielende bzw. bloß taktisch gemeinte Äußerung handelt.«
Im Laufe meiner Forschungen entdeckte ich, dass Hitler sich viel intensiver mit sozial- und wirtschaftspolitischen Themen auseinandergesetzt hatte, als man dies bislang vermutete. Es gab ja das Hitler-Bild vom fanatischen »Teppichbeißer«, der auf eine irrationale Weise die Massen hypnotisiert habe. Dieses Bild war offenbar falsch. Und falsch war auch das marxistische Bild von Hitler als Kapitalistenknecht. Im Gegenteil. Er teilte viele antikapitalistische Ansichten der Linken, und seine Vorstellungen waren in mancher Hinsicht eher links als rechts, wie ich in meiner Doktorarbeit belegte. Dies war einerseits eine wichtige wissenschaftliche Erkenntnis für mich. Ich konnte dadurch die Massenwirksamkeit Hitlers und des Nationalsozialismus besser verstehen. Diese wissenschaftliche Erkenntnis trug aber auch dazu bei, dass ich mich politisch von meinen früheren linken Ideen zunehmend entfernte.
Auch eine andere bis dahin in der Forschung vorherrschende Meinung, Hitler habe als Endziel die Wiederherstellung einer vormodernen Agrarutopie angestrebt, erwies sich als falsch. Diese Theorie herrschte bis dahin in der Geschichtswissenschaft vor, aber meine Forschungen zeigten, dass das Gegenteil richtig ist. Hitler war vielmehr ein überzeugter Anhänger der modernen Industriegesellschaft und bewunderte sogar in mancher Hinsicht die Vereinigten Staaten. Das alles war neu.
Während die Arbeit in den Archiven viel Zeit verschlungen hatte, dauerte das eigentliche Verfassen der 709 Seiten umfassenden Dissertation weniger als drei Monate. Ich schrieb mit Schreibmaschine, oder besser gesagt: mit zwei Schreibmaschinen. Denn ich hatte meinen Schreibtisch mit zwei Stühlen und zwei Schreibmaschinen ausgestattet: eine Maschine für den normalen Text und eine für die etwa 1.700 Anmerkungen mit mehreren Tausend Fundstellen im hinteren Teil. Wenn eine der Anmerkungen mit all den Quellennachweisen kam, rutschte ich vom linken Stuhl auf den rechten.
Weil ich ungeduldig auf die Reaktion meines Doktorvaters war und nicht bis zum Abschluss der Arbeit warten wollte, brachte ich ihm jede Woche etwa 50 Seiten, manchmal auch mehr. Er sollte sie lesen und mir in der nächsten Woche ein Feedback geben. Als er zwei Mal hintereinander nicht dazu gekommen war, explodierte ich: »Hören Sie, das ist jetzt schon das zweite Mal hintereinander, dass Sie meine neuen Kapitel nicht gelesen haben, obwohl wir das doch so verabredet hatten. Ich möchte nicht, dass das noch einmal passiert.«
Das war ziemlich ungehörig – so sprach sonst mit Sicherheit kein Doktorand mit Professor von Aretin. Er blieb aber ruhig und fragte nur, was er bis zum nächsten Mal lesen sollte, und las künftig, was wir verabredet hatten. Meinem Freund, der auch bei ihm promovierte, sagte er später allerdings: »Der Zitelmann ist hochintelligent. Aber wenn Sie mal was nicht genau einhalten, was Sie besprochen haben, dann springt der über den Tisch und geht einem an die Gurgel.« Nun, das habe ich zwar nie getan, aber so kam es offenbar an. Ich reagiere bis heute oft extrem, wenn jemand sich nicht genau an eine Verabredung hält, und dabei habe ich keinerlei Respekt vor Autoritäten. Dass ich damit – wie in diesem Fall bei von Aretin – Erfolg hatte, bestätigte mich in diesem Verhalten. Ich verstand damals nicht, dass ich dennoch einen Preis dafür zahlte, weil die betroffenen Personen sich ihren Teil dachten. Vielleicht war es mir auch einfach egal, was sie dachten, weil ich mich im Recht fühlte, wenn ich darauf bestand, dass eine Verabredung eingehalten wurde.
Ich bin von Aretin dankbar, dass er mich dennoch weiter unterstützte, und zwar gegen den Widerstand von Kollegen. Der zweite Gutachter, Professor Hans-Christoph Schröder, sagte mir direkt ins Gesicht, er habe die Dissertation nach der Hälfte der Lektüre zunächst aus Verärgerung in die Ecke geworfen. Ihn, einen Sozialdemokraten, ärgerte es, dass in dieser Arbeit die linken Elemente in Hitlers Denken so stark betont wurden. Auch der Dekan des Fachbereichs Gesellschafts- und Geschichtswissenschaft, dessen Unterschrift auf meiner Promotionsurkunde steht, war nicht mein Freund. Helmut Dahmer war ein engagierter Trotzkist, in seinem Zimmer hing ein Bild des russischen Revolutionärs Leo Trotzki. Er hat in den 70er Jahren Trotzkis »Schriften über Deutschland« herausgegeben und war später spiritus rector einer kommentierten Edition von dessen Gesamtwerk.
Mein Doktorvater von Aretin setzte sich mit seiner Bewertung durch, und ich bekam die Bestnote »summa cum laude«. In seinem Gutachten begründete von Aretin diese Benotung: »Der wissenschaftliche Ertrag der Arbeit ist ungewöhnlich groß. Die Forschung wird in Zukunft an diesem Buch nicht vorbeikommen … Ich stehe nicht an, diese Arbeit, was am Anfang nicht zu erkennen war, für den wichtigsten Beitrag zur Hitler-Biografie seit dem großen Buch von Fest zu halten.« 1987 erschien die Dissertation als Buch mit dem Titel »Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs«. Wie würden Öffentlichkeit und Forschung es aufnehmen? Ich war gespannt. Es lag schon ein provokatives Element darin, dass ich weitgehend auf moralische Bewertungen verzichtete. Ich bin bis heute der Meinung, dass es nicht die Aufgabe des Historikers ist, Dinge zu bewerten, sondern Dinge zu verstehen. Und ich wollte Hitler so verstehen, wie die Geschichtswissenschaft andere Personen der Geschichte auch verstand. Das moralische Urteil über ihn, so fand ich, stand ja ohnehin fest – warum sollte ich das mit aufdringlichen Formulierungen ständig wiederholen?
Die Reaktion der Fachwelt auf meine Dissertation war überaus positiv. Schon vor der Veröffentlichung meiner Arbeit war ich von der »German Studies Association«, einer renommierten Vereinigung amerikanischer Wissenschaftler, die sich mit deutscher Geschichte und Politik befassen, zu einem Vortrag über die Ergebnisse meiner Forschung eingeladen worden. Wolfgang Michalka hatte mich als Referent empfohlen und mir bei der Beantragung der Finanzierung der Reise geholfen. Da ich kein Geld hatte, nach Amerika zu fliegen, wurde mir die Reise vom Auswärtigen Amt bezahlt.
Bevor ich die Reise antrat, kaufte ich mir einen Anzug – den ersten in meinem Leben. Ich konnte schlecht in Bluejeans vor den Wissenschaftlern sprechen. Ein stilsicherer Freund, mit dem ich einkaufen ging, empfahl mir, zu dem Anzug statt einer Krawatte (die ich auch nicht besaß) eine Fliege zu kaufen: »Die werden fast alle einen Schlips tragen, da fällst du mit deiner Fliege auf.«
Es war das erste Mal, dass ich nach Amerika flog, ja, sogar das erste Mal, dass ich überhaupt in meinem Leben in einem Flugzeug saß. Ich hielt Mitte Oktober 1986 auf dem Kongress in Albuquerque, New Mexico, einen Vortrag über die Ergebnisse meiner Doktorarbeit. Zugleich schrieb ich einen Bericht über die 10. Jahrestagung der Vereinigung in der FAZ – unter der Überschrift: »Der Sonderweg und die deutsche Frage«.
Eines Morgens, es war der 30. Mai 1987, rief mich Gerald Kleinfeld an, der Gründer der »German Studies Association«, der gerade in Deutschland war: »Herzlichen Glückwunsch! Haben Sie heute schon ›Die Welt‹ gelesen?« Nein, hatte ich noch nicht. »Die Welt« war die erste Tageszeitung, in der eine Besprechung meines Buches erschien: »War Adolf Hitler ein Revolutionär? Rainer Zitelmanns wichtiger Beitrag zur Zeitgeschichte.« Verfasser war der bekannte Historiker Professor Andreas Hillgruber, der das Buch als »einen der wichtigsten Beiträge zur Hitler-Forschung der letzten Jahre« lobte.
Es folgte eine Flut positiver Besprechungen. In dem traditionsreichsten, 1859 gegründeten Periodikum »Historische Zeitschrift« schrieb der Historiker Professor Peter Krüger: »Rainer Zitelmann hat eines jener Bücher geschrieben, bei denen man sich wundert, warum sie nicht schon seit langem vorliegen.« Und in dem führenden zeitgeschichtlichen Organ, den vom Münchner Institut herausgegebenen »Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte«, formulierte ein polnischer Historiker: »Zweifellos steht Dr. Zitelmann das Verdienst zu, dass er alle anderen Hitler-Biografen wesentlich ergänzt, wenn nicht überholt hat.« Das renommierte »Journal of Modern History« schrieb: »Sein Buch bildet einen Meilenstein in unserem Verständnis von Adolf Hitler.«
Insgesamt war der Tenor der Besprechungen ganz überwiegend positiv, ob nun in Tageszeitungen wie der »Süddeutschen« und der FAZ oder in internationalen Fachzeitschriften wie den französischen »Annales« oder in amerikanischen Fachzeitschriften. Daher wurde das Buch unter dem Titel »Hitler. The Policies of Seduction« ins Englische übersetzt.
Als wichtigste Bestätigung empfand ich das Werk des renommierten amerikanischen Historikers John Lukacs, »The Hitler of History« (deutsch: Hitler. Geschichte und Geschichtsschreibung, erschienen bei Luchterhand), das 1997 herauskam. Das Buch gab einen umfassenden Überblick über die weltweite Hitlerforschung. Keinen Hitlerforscher bzw. -biograf, mit Ausnahme von Joachim C. Fest, zitierte Lukacs häufiger als meine Arbeiten, deren Thesen er sich anschloss und die er außerordentlich positiv beurteilte.
Im Juni 2017 wird die 5. Auflage meines Hitler-Buches erscheinen – mit einem ausführlichen Beitrag über die Entwicklung der Hitler- und NS-Forschung in den vergangenen 20 Jahren. Als ich diesen Beitrag verfasste, sichtete ich das erste Mal seit zwei Jahrzehnten sehr umfassend die Forschungen über Hitler und den Nationalsozialismus. Ich wollte wissen, ob die Forschung die Thesen meines Buches über die Modernität der Vorstellungen Hitlers in den vergangenen zwei Jahrzehnten eher aufgenommen oder verworfen hat.
Viele bis dahin vertretene Auffassungen, wie etwa die, Hitler habe eine antimoderne Agrarutopie angestrebt, waren in meinem Buch mit einer großen Fülle von Quellen widerlegt worden. Die Belege, die ich für Hitlers Technikbegeisterung anführte, für seine wirtschaftlich begründeten »Lebensraum«-Vorstellungen oder für seine Bewunderung der amerikanischen Industriegesellschaft, waren so eindeutig, dass viele Autoren dem folgten und in ihren Studien auf die entsprechenden Stellen in meinem Buch hinwiesen. »Es ist unverständlich und wohl nur als Folge einer in hohem Maße ideologisch vordisponierten Quellenblindheit zu werten, wenn eine bestimmte Forschungsrichtung sich angesichts der Fülle derartiger Aussagen hartnäckig weigert, dem Hitler’schen Denken das Attribut einer spezifischen Form zeitgenössischer ›Modernität‹ zuzubilligen«, konstatierte zehn Jahren nach Erscheinen meines Buches der Historiker Frank-Lothar Kroll in seiner Habilitationsschrift.
Die Gründe, warum sich trotz dieser vielen Belege manche Historiker dennoch hartnäckig dagegen sträuben, Hitler und den Nationalsozialismus als »modern« zu bezeichnen, liegen darin, dass der Begriff häufig – anders als von mir – normativ-wertend verwendet wird. Der Historiker Wolfgang König konstatierte: »In den Sozialwissenschaften wurde Modernisierung als analytischer Begriff eingeführt, in der Öffentlichkeit war Moderne aber bereits politisch-moralisch besetzt. Moderne stand für das unvollendete Projekt der Aufklärung; es diente dem linken und liberalen Spektrum als Feldzeichen, um sich gegen konservativen Traditionalismus zu positionieren … Die enge Verbindung von Deskriptivem und Normativem … in den Begriffen ›Modernisierung‹ und ›Moderne‹ musste in Bezug auf den Nationalsozialismus zu Irritationen führen.«
Auch das Unbehagen vor allem bei linken Historikern, den Nationalsozialismus als »Revolution« zu bezeichnen, hängt damit zusammen, dass mit diesem Begriff ansonsten meist positive Konnotationen verbunden werden. Im allgemeinen Sprachgebrauch gilt der Begriff »Revolution« als positiv, im Gegensatz zu Begriffen wie »reaktionär« oder »Konterrevolutionär«. Keine Werbeagentur käme auf die Idee, von einer »Konterrevolution« im Autodesign zu sprechen, aber »Revolution« klingt nach Fortschritt. Ähnliches trifft für Begriffe wie »sozial«, »modern«, »egalitär«, »Wohlfahrtsstaat« oder »Sozialstaat« zu – allesamt Begriffe, die ich selbst durchaus nicht ohne Weiteres mit einer positiven Wertung verbinden würde, die jedoch bei vielen Historikern positiv belegt sind. Das Widerstreben, Hitler und den Nationalsozialismus mit diesen Begriffen in Zusammenhang zu bringen, speist sich aus der positiven normativen Besetzung dieser Begriffe und der damit verbundenen Inhalte. Unabhängig von meinen Forschungen kamen aber inzwischen viele Historiker zu ähnlichen Befunden und akzentuierten sehr viel stärker die sozialistischen, linken Elemente im Nationalsozialismus. Ein Beispiel dafür ist das 2005 erschienene Buch über »Hitlers Volksstaat« von Götz Aly, das auch jenseits der Fachöffentlichkeit große Aufmerksamkeit erregte.
Doch zurück in das Jahr 1987: Als ich 1987 nach Amerika flog, entwickelte ich zusammen mit dem Präsidenten der German Studies Association, Ronald Smelser von der University of Utah, die Idee für das nächste Buch. So wie ich mich über viele Jahre intensiv mit Hitler befasst hatte, gab es überall auf der Welt Historiker, die über das Leben der führenden Personen des Dritten Reiches geforscht hatten. Ich hatte viele dieser Bücher gelesen, Ronald Smelser hatte selbst eines geschrieben, und zwar über den Chef der »Deutschen Arbeitsfront«, Robert Ley. Meine Idee: Wir wollten auf der ganzen Welt den jeweils besten Experten finden und ihn bitten, in einer biografischen Skizze die wichtigsten Forschungsergebnisse auf etwa 20 Seiten zusammenzufassen.
Wir gewannen Autoren aus Deutschland, den USA, Frankreich, Großbritannien, Italien und anderen Ländern. 1989, zwei Jahre nachdem meine Doktorarbeit über Hitler erschienen war, kam bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft der Band »Die braune Elite. 22 biografische Skizzen« heraus. Das Buch war über lange Zeit das wichtigste Standardwerk über die führenden Persönlichkeiten des Dritten Reiches und erschien in zahlreichen Auflagen. Es enthielt unter anderem Aufsätze über den NS-Ideologen Alfred Rosenberg, die später in Hitlers Auftrag ermordeten Nationalsozialisten Ernst Julius Röhm und Gregor Straßer, über den »linken« Nationalsozialisten und Hitler-Gegner Otto Straßer, über Hitlers Chefarchitekten Albert Speer, Außenminister Joachim von Ribbentrop, SS-Führer Heinrich Himmler, Propagandaminister Joseph Goebbels, Hitlers Sekretär Martin Bormann, seinen »Stellvertreter« Rudolf Heß, über Hermann Göring und andere. Später folgten ein weiterer Band sowie einer über die führenden Männer des deutschen Widerstandes gegen Hitler.
Nach dem Abschluss meiner Promotion wollte ich zunächst das fertigbringen, was ich begonnen hatte, nämlich meine Ausbildung als Gymnasiallehrer. Eigentlich wollte ich schon damals kein Lehrer mehr werden, sondern Professor an einer Universität. Aber ich dachte, Lehrerfahrung und die Didaktik, wie man sie in einem Referendariat lernt, könnten auf jeden Fall nützlich sein. So trat ich im April 1986, zwei Monate nach meiner Promotion, eine Stelle als Studienreferendar an einer Schule in Darmstadt an.
Die eineinhalb Jahre, die ich an der Schule unterrichtete, machten mir Spaß. Die Schüler, die sonst manchmal sehr grausam mit Referendaren umgehen, akzeptierten mich, wohl weil ich einen Doktortitel hatte und es somit für sie keinen Zweifel an meinem Fachwissen gab. Außerdem imponierte ihnen, dass ich Bodybuilding betrieb, was man mir ansah. Ich war ein strenger Lehrer, denn da ich selbst früher ein extrem schwieriger und rebellischer Schüler war, wusste ich, dass man eher fertiggemacht wird, wenn man zu milde als wenn man zu streng ist. 1987 bestand ich die Zweite Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien, erneut »mit Auszeichnung«. Dass ich nunmehr drei Mal hintereinander, bei den beiden Staatsexamen und bei der Promotion, mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, machte mich stolz.
Das heißt nicht, dass ich keine Probleme gehabt hätte. Ganz im Gegenteil: Ich habe in diesen Jahren sehr viel getrunken. Während ich tagsüber studierte oder – später – meine Doktorarbeit schrieb, verbrachte ich die Nächte in Diskotheken und Bars und trank viel mehr, als mir gut tat. Viel Zeit verbrachte ich mit amerikanischen Soldaten, die in Darmstadt stationiert waren und die mir gerne einen ausgaben, weil sie mich lustig und unterhaltsam fanden und weil ich viele schöne Mädchen kannte. Außerdem verdiente ich Geld über die Amerikaner: Im Laden der US-Armee konnte ich nämlich steuerfrei Produkte einkaufen, die ich anschließend weiterverkaufte. Das war keine neue Idee – viele machten auf diese Weise mit Zigaretten oder Alkohol Geld. Ich kam auf die Variante, Vitamine (E, B6, B12) zu kaufen, die es dort in Megadosen gab. Für den vier- bis fünffachen Preis verkaufte ich sie im Sportstudio an Bodybuilder weiter. Bei Zigaretten war die Gewinnspanne wesentlich niedriger.
Paradoxerweise trainierte ich vier- bis fünfmal die Woche morgens früh, auch wenn ich in der Nacht davor total betrunken war. Oft war mir morgens noch schlecht, aber meine Disziplin brachte mich dann doch ins Sportstudio. »Du bist kein Mensch, sondern eine Maschine«, meinte mein Freund. Doch das sah nur so aus. So wie alle Alkoholiker wollte ich nicht wahrhaben, dass ich zunehmend abhängig wurde und ein ernstes Problem hatte. Ein Freund, der selbst einmal Alkoholprobleme gehabt hatte, sprach mich auf das Thema an und drückte mir einen Fragebogen der »Anonymen Alkoholiker« in die Hand, mit dem man selbst testen konnte, ob man gefährdet oder gar schon abhängig ist. Das Ergebnis war nicht ganz eindeutig, und ich trank weiter. Meine Lieblingsgetränke waren Bier oder Bacardi mit Orangensaft, am liebsten 50/50 gemischt. Sehr oft hatte ich Filmrisse, ich konnte mich nicht mehr an den Abend zuvor erinnern. In mehr als nur einer Nacht musste mir meine damalige Frau Andrea nachts einen Eimer ans Bett bringen, damit ich mich übergeben konnte. Andrea hatte ich im März 1983 geheiratet, ich war 25 Jahre, sie 19. Dass meine Ehe auseinanderging, war meine Schuld und hatte auch mit diesen Alkoholproblemen zu tun.
Zwei Gespräche waren entscheidend dafür, dass ich mit dem Trinken aufhörte. Das erste Gespräch führte ich mit Jürgen Rust, einem Freund, dem ich mein Leid klagte, dass ich seit ein paar Monaten keine neue Freundin fand. »Du hast früher immer die schönsten Mädchen gehabt, und du bist ein Typ, auf den die Frauen stehen. Aber du läufst jeden Abend mit einer Fahne rum, redest eine Menge Scheiß und jede merkt sofort, dass du ein Alkoholproblem hast. So jemand will doch keine haben.« Das war hart. Aber es stimmte. Ich hörte nach diesem Gespräch auf zu trinken.
Das Problem war nur: Das hatte ich häufiger schon versucht. So wie fast jeder Alkoholiker hatte ich immer wieder Trinkpausen eingelegt, die mir und anderen beweisen sollten, dass ich nicht abhängig sei. Inzwischen hatte ich aber gemerkt, dass die Schwierigkeit nicht so sehr darin besteht aufzuhören, sondern vielmehr darin, nicht wieder anzufangen. Etwa drei Wochen nach dem Gespräch rief ich nachts bei der Telefonseelsorge an, um über mein Problem mit jemandem zu sprechen.
Mein Gesprächspartner am Telefon legte mir nahe, was mir schon mein Freund empfohlen hatte, nämlich zu den »Anonymen Alkoholikern« zu gehen. Ich konnte schon damals ganz gut reden und erklärte ihm wortreich und wortgewandt, warum das nichts für mich sei. Er ließ sich nicht blenden und meinte: »Ich habe den Eindruck, Sie wollen gar nicht wirklich aufhören zu trinken.« Das saß. Ich spürte, er hatte Recht. Ja. Ich konnte mir ein Leben ohne Alkohol gar nicht mehr vorstellen. Was sollte ich nachts in den Diskos und Bars machen? Cola trinken? Und dann sagte er einen wichtigen Satz, der mir vielleicht das Leben rettete: »Schauen Sie sich das doch einfach mal an, es verpflichtet Sie zu nichts.«
Das tat ich dann auch. Zunächst war ich angenehm überrascht, dass es die »Penner«, die ich bei den »Anonymen« erwartet hatte, dort nicht gab. Das waren typische Mittelschichtsleute, so wie ich. Und in vielem, was sie erzählten, fand ich mich wieder. Nur mit einem Unterschied: Sie waren den traurigen Weg als Alkoholiker sehr viel länger gegangen als ich. Einer meinte: »Mit Alkoholismus ist es wie mit einer Schwangerschaft. Du bist schwanger oder nicht. Halb schwanger geht nicht.« Nun gut, ich war wohl erst in der dritten Woche schwanger.
Das fand ich auch, als ich mir erneut den Fragebogen vornahm, den ich zwei Jahre zuvor schon einmal ausgefüllt hatte. Einerseits kreuzte ich mehr Fragen mit »Ja« an als zwei Jahre zuvor. Das gab mir zu denken. Andererseits gab es Fragen, die ich glücklicherweise nicht mit »Ja« ankreuzen musste: Ob ich jeden Morgen zittere, ob ich schon mal Rasierwasser getrunken oder ob ich eine Entziehungskur hinter mir hätte. Mir wurde klar: Entweder du tust das, was dir diese Leute in der Gruppe sagen, die es geschafft haben, mit dem Trinken aufzuhören: »Lass das erste Glas stehen, geh regelmäßig in die Meetings«. Oder – ja, oder ich mache weiter, komme in zwei Jahren wieder und kreuze dann auch diese Fragen mit »Ja« an. Die nächsten Jahre ging ich regelmäßig in die Meetings, bald hatte ich auch wieder eine hübsche Freundin, und von da an habe ich in meinem Leben nie mehr Alkohol getrunken.
Manchmal werde ich gefragt, was die Gründe für meinen exzessiven Alkohol- und Haschischkonsum gewesen seien. Dahinter steckt die Vorstellung, es gebe bestimmte Gründe oder Problemlagen, warum jemand abhängig wird. Ich sehe das anders. Ich denke, es gibt dafür keine besonderen Gründe, außer dem, dass es eben einen gewissen Prozentsatz von Menschen gibt, die ganz generell zu einem Suchtverhalten neigen und deshalb an Substanzen hängenbleiben, die die allermeisten Menschen gefahrlos konsumieren können.
Etwa 90 Prozent der Deutschen trinken Alkohol, aber nur bei etwa 6,5 Prozent (bei Männern etwa 9,5 Prozent) liegen Alkoholmissbrauch bzw. Alkoholabhängigkeit vor. Etwa 16 Prozent der 18- bis 20-Jährigen konsumieren Cannabis (ich vermute, zu meiner Jugendzeit waren es mehr), aber die wenigsten tun es exzessiv oder werden davon psychisch abhängig. Ich habe bei den Anonymen Alkoholikern gelernt, dass es nicht um bestimmte Substanzen geht, von denen man abhängig wird. Diese sind beliebig austauschbar. Viele Menschen, die ich bei den Anonymen Alkoholiker kennenlernte, waren vor oder nach ihrer Alkoholsucht von anderen Substanzen abhängig, etwa von Medikamenten, Nikotin oder Drogen. Ich war sogar viele Jahre von Cola Light abhängig und trank oft schon am Vormittag drei bis vier Liter. Man spricht bei einem solchen Verhalten von Suchtverlagerung.
Für mich war es wichtig zu erkennen, dass ich zu den Suchtmenschen gehöre. Meine Folgerung lautete, mich von Dingen fernzuhalten, die süchtig machen können. Ich war beispielsweise nie im Leben spielsüchtig, würde aber auch niemals in ein Spielcasino gehen. Schließlich muss ich nicht alle Süchte ausprobieren. Mit dem Alkohol aufzuhören und mich von anderen Suchtmitteln fernzuhalten, war die wichtigste Entscheidung in meinem Leben. Denn ohne diese Entscheidung wäre mein Leben mit Sicherheit völlig anders verlaufen.