Nach Promotion und Zweitem Staatsexamen bewarb ich mich für eine Stelle als Wissenschaftlicher Assistent. In der Zeitung fand ich zwei attraktive Angebote, und zwar vom Deutschen Historischen Institut in London und von der Freien Universität Berlin. Beide Städte wären mir recht gewesen. Ich mag Großstädte – je größer, desto besser. Ich bin in einer Großstadt, Frankfurt am Main, geboren worden und hatte in Dörfern und einer mittelgroßen Stadt – Darmstadt – gelebt. Danach wusste ich, dass ich ein Großstadtmensch bin. Ich bewarb mich für beide Stellen und bekam die Zusage aus Berlin. Allerdings hatte ich da auch ein wenig Glück, denn ich war – wie mir Professor Jürgen W. Falter, bei dem die Stelle angesiedelt war, in seiner ehrlichen Art erklärte – eigentlich nur die zweite Wahl. Der zuerst Auserkorene hatte eine andere Zusage angenommen und daraufhin in Berlin abgesagt.
Zunächst musste ich eine Wohnung finden, was auch damals in Berlin nicht so einfach war. Eines Abends saß ich in Darmstadt mit meinem Freund Uli Born in einem Café. Uli wurde der »Videokönig von Frankfurt« genannt, weil ihm schon mit Mitte 20 zahlreiche Videotheken in der Mainmetropole gehörten. Als ich ihm erzählte, ich plane, nach Berlin zu ziehen, meinte er: »Ich habe dort eine Wohnung, aber die ist untervermietet.« Er habe – so wie manche jungen Männer aus Westdeutschland damals – formal seinen ersten Wohnsitz in Westberlin angemeldet, da Westberliner nicht zur Bundeswehr mussten. Als sich herausstellte, dass die Wohnung zufällig nur fünf Minuten von meiner künftigen Arbeitsstelle entfernt war, bat ich ihn, mir sofort Bescheid zu sagen, wenn die Untermieterin irgendwann kündigen sollte. Es war wie sechs Richtige im Lotto, dass sie einige Tage später genau zu dem Datum kündigte, an dem ich umziehen wollte. Ich glaube nicht an Vorbestimmungen, aber in dieser Situation dachte ich doch, wenn es das Schicksal gibt, dann will es, dass ich nach Berlin gehe.
In der Stadt lebte ich mich schnell ein. Ich beging nicht den Fehler, den manche Menschen machen, die nach dem Umzug jedes Wochenende in die alte Heimat fahren und sich dann wundern, warum sie am neuen Wohnort nicht heimisch werden. Ich ging jeden Abend aus und lernte schon bald meine erste Berliner Freundin kennen, eine Deutschgriechin, mit der ich einige Jahre zusammenblieb.
Professor Falter, bei dem ich im November 1987 anfing, war und ist einer der bekanntesten Politikwissenschaftler und Wahlforscher in Deutschland. Er hatte mit »summa cum laude« promoviert und sich später unter anderem mit der historischen Wahlforschung einen Namen gemacht. Falter hatte erforscht, wer die Wähler der NSDAP waren, und zwar mit modernen EDV-gestützten Methoden. Eines seiner Ergebnisse war, dass viel mehr Arbeiter für die Nationalsozialisten gestimmt hatten, als man zuvor annahm. Seit 1983 leitete er den Bereich »Vergleichende Faschismusforschung« am Zentralinstitut für Sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin. Das war nun auch meine Arbeitsstelle.
Normalerweise arbeitet ein Hochschulassistent einem Professor zu. Falter ließ mir jedoch eine maximale Freiheit, mich um meine Dinge zu kümmern. Die Zuarbeit für seine Projekte erledigten andere Assistenten, die vielleicht weniger Ambitionen hatten als ich selbst. Ich empfand es als Glücksfall, mit ihm zu arbeiten, weil er hochintelligent, humorvoll und ehrlich ist. Es machte mir Spaß, mittags bei der Pizza mit ihm – durchaus auch kontrovers – zu debattieren. Ich liebe es, mit Menschen zu diskutieren, die eine hohe Auffassungsgabe haben und gut argumentieren können. Unterm Strich lagen wir gar nicht so weit auseinander. Wissenschaftlich waren wir auf einer Wellenlänge, politisch war ich inzwischen eher nationalliberal und er eher bürgerrechtsliberal.
Als Hochschulassistent musste ich Seminare geben, aber der Aufwand dafür war überschaubar. Ich musste nur vier Stunden in der Woche unterrichten, das waren zwei Seminare. Das machte mir Spaß. Ich unterrichte gerne. Zum Beispiel gab Falter gemeinsam mit mir im Sommersemester 1988 ein Seminar über die Auflösung der Weimarer Republik. Im Wintersemester 1988/89 veranstaltete ich allein ein Seminar zur »Nationalsozialistischen Wirtschafts- und Sozialpolitik« und eines über »Biografische Deutungsversuche des Nationalsozialismus«. In den nächsten Jahren gab ich, teilweise allein und teilweise zusammen mit Falter, Seminare über die Mitglieder der NSDAP, über die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland, über »Die Linke und die Nation«, über »Nationalsozialismus und Modernisierung«, über »Adenauers Deutschlandpolitik und ihre Kritiker« und über »Neutralismus in der Bundesrepublik«.
Zu dem letzten Thema wollte ich mich eigentlich in den nächsten Jahren habilitieren. Die Habilitation ist Voraussetzung, um Professor zu werden, was damals mein Ziel war. Worum ging es bei meinem Vorhaben? Nationalneutralisten waren Menschen und Gruppen, die sich für die Wiedervereinigung Deutschlands engagierten und der Meinung waren, die Chancen dafür seien am besten, wenn sich das wiedervereinte Land aus den bestehenden Militärbündnissen heraushielt, also weder Mitglied in der Nato noch im Warschauer Pakt war. Es gab Dutzende Gruppen – viele davon ziemlich weit links oder ziemlich weit rechts –, die ein solches Ziel anstrebten. Aber es gab auch in den großen demokratischen Parteien einzelne Politiker, die in den 50er Jahren einen solchen Ansatz verfolgten und die sich kritisch mit Konrad Adenauers Politik der Westintegration auseinandersetzten, weil sie glaubten, so sei die deutsche Einheit nicht zu erreichen.
Ich sammelte enorme Mengen an Material zu diesem Thema, wahrscheinlich zu viel. Ich stand Hunderte Stunden am Kopierer, kopierte Bücher, Aufsätze, Zeitschriften und Dokumente aus Archiven. Mein Zimmer quoll über von Aktenordnern. Letztlich habe ich jedoch nie angefangen, die Arbeit zu schreiben, doch dazu später. Das Material sollte gleichwohl nicht nutzlos gesammelt sein, ich gab es meinem mit Abstand begabtesten Studenten, Alexander Gallus, der es für seine Promotion nutzen konnte. Ich hatte ihn schon als Abiturient kennengelernt, weil er mich bat, mein Hitler-Buch, dessen Thesen in seinem Geschichtsunterricht diskutiert worden waren, als Abschiedsgeschenk des Oberstufenkurses für seinen Lehrer zu signieren. Später studierte er auch bei mir an der FU Berlin. Heute ist er selbst ein bekannter Professor für Politikwissenschaft, der sich nicht zuletzt mit intellektuellen Außenseitern im 20. Jahrhundert befasst.
Jemand wie Gallus war leider die Ausnahme unter den Studenten. Was mir am wenigsten Freude machte, war die Korrektur der Hausarbeiten und Abschlussarbeiten der Studenten. Ich fühlte mich so ähnlich wie ein hochmusikalischer Mensch, der den ganzen Tag Anfängern zuhören muss, wie sie auf einem hoffnungslos verstimmten Klavier spielen. Sätze fangen irgendwo an und hören nirgendwo auf, sind logisch nicht stimmig und zeugen eigentlich nur davon, dass der Student nicht richtig verstanden hat, was er da überhaupt schreibt. Das ist eher die Regel als die Ausnahme. Man kann solche Arbeiten kaum redigieren, denn zuvor müsste man erraten, was mit einem Satz gemeint sein könnte, und ihn dann ganz neu formulieren. Ich weigerte mich auch, die Praxis mitzumachen, dass eigentlich jeder eine 1 oder eine 2 bekommt. Für mich war es eine wirkliche Qual, viele dieser Arbeiten zu lesen.
Obwohl ich nie begonnen hatte, meine Habilitationsschrift zu verfassen, entstand doch als Abfallprodukt meiner Recherchen ein Buch, nämlich »Adenauers Gegner. Streiter für die Einheit«. Es enthielt biografische Skizzen über die Widersacher des ersten Bundeskanzlers – über die SPD-Politiker Kurt Schumacher und Gustav Heinemann, den FDP-Politiker Thomas Dehler, den CDU-Politiker Jakob Kaiser und den Publizisten Paul Sethe. Ich veröffentlichte das Buch 1991 und schrieb dazu eine Serie für »Die Welt«, weil ich der Meinung war, dass nach der Wiedervereinigung allzu einseitig Adenauers Politik gepriesen wurde. Ich fand damit begeisterte Zustimmung bei Sozialdemokraten, obwohl ich denen politisch sonst nicht nahestand. Für die Taschenbuchausgabe schrieb der SPD-Vordenker Erhard Eppler sogar ein Vorwort. Und die führenden SPD-Politiker Egon Bahr und Peter Glotz verfassten positive Besprechungen im »Tagesspiegel« und in der »Welt«.
Dagegen machte ich mir bei CDU-nahen Historikern und Politikwissenschaftlern mit diesem Buch keine Freunde. Sie fanden, Adenauer sei darin zu schlecht weggekommen. Vielleicht hatten sie nicht ganz unrecht und mein kritisches Urteil war in diesem Fall etwas getrübt dadurch, dass mir Adenauer nie so recht sympathisch war. Adenauers Gegner, die sehr viel nationaler eingestellt waren als er, waren mir schon aus diesem Grund sympathischer, ganz besonders Thomas Dehler von der FDP. Da ich jedoch – auch in diesem Buch – mit bewertenden Urteilen zurückhaltend war, hat es aus meiner Sicht bleibenden Wert, und ich muss an der Darstellung von Adenauers Kritikern nichts korrigieren, auch wenn ich manches heute selbst etwas anders bewerten würde.
Was machte ich sonst den ganzen Tag in den vier Jahren an der Uni – außer Lehrveranstaltungen geben, Hausarbeiten und Abschlussarbeiten redigieren und eifrig Material für meine Habilitation zu sammeln und auszuwerten? Als Erstes schrieb ich eine kleine Biografie über Hitler. Meine Dissertation war ja keine Biografie, sondern behandelte nur bestimmte Aspekte von Hitlers Weltanschauung. 1988 trat der Muster-Schmidt-Verlag an mich heran. In diesem Verlag gab es eine große, anerkannte Reihe mit Biografien, »Persönlichkeit und Geschichte«, die heute über 170 Porträts über bekannte Personen der Geschichte umfasst. Das Büchlein über Hitler war veraltet, und der Verlag, der durch die vielen positiven Besprechungen über meine Dissertation auf mich aufmerksam geworden war, fragte mich, ob ich für diese Reihe eine Hitler-Biografie schreiben wolle. Ich tat das gerne, zumal diese Reihe in vielen Schulen verwendet wurde und ich so meine wissenschaftlichen Forschungsergebnisse in einer einfachen Sprache für ein breiteres Publikum aufbereiten konnte. Auch über dieses Buch gab es eine Reihe positiver Besprechungen in Tageszeitungen und Fachzeitschriften, wobei die wissenschaftliche Leistung jedoch nicht annähernd vergleichbar war mit meiner Dissertation. Die kleine Hitler-Biografie erschien in Übersetzungen auch in Italien und Tschechien.
In den nächsten Jahren gab ich einige Sammelbände heraus, in denen viele Wissenschaftler zu Wort kamen. Über die Bände zur »Braunen Elite« habe ich schon berichtet. Ende der 80er Jahre lernte ich zwei Wissenschaftler kennen, mit denen ich 1990 einen viel beachteten Sammelband über »Die Schatten der Vergangenheit« herausgab. Es waren Eckhard Jesse und Uwe Backes, die heute beide Professoren für Politikwissenschaft sind (wobei Jesse inzwischen emeritiert ist). Wir sahen viele Dinge ähnlich, obwohl wir ein unterschiedliches Wissenschaftsverständnis hatten: Während Jesse und Backes eher normativ argumentierten, wollte ich Fakten sprechen lassen und historische Zusammenhänge rekonstruieren, ohne Bewertungen von außen heranzutragen.
Mit beiden entwickelte sich eine Freundschaft und eine intensive Zusammenarbeit. Jesse ist einer der führenden Extremismusforscher, beschäftigt sich also wissenschaftlich sowohl mit Links- als auch mit Rechtsextremisten. Politisch sind beide in der Wolle gefärbte Liberale mit einem konservativen Einschlag. Uns gefiel nicht, dass der einstmalige antitotalitäre Konsens, auf den die Bundesrepublik gründete, zunehmend durch einen einseitigen, nur »antifaschistischen« Konsens ersetzt wurde.
Wir gründeten gemeinsam den »Veldensteiner Kreis«, in dem sich junge Historiker und Politikwissenschaftler trafen, um sich über historische und politikwissenschaftliche Themen auszutauschen. Uns verband das Gefühl, als eine jüngere Generation das umzusetzen, was der bekannte Historiker Martin Broszat vom Institut für Zeitgeschichte in München einige Jahre zuvor als »Historisierung des Nationalsozialismus« bezeichnet und eingefordert hatte.
Unser wichtigstes Projekt war der 1990 gemeinsam herausgegebene Sammelband »Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus«. Im gemeinsamen Vorwort schrieben wir: »Den Anstoß zu diesem Sammelband gab die Beobachtung, dass die an sich unausweichliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vielfach in Form einer ritualisierten ›Bewältigungsstrategie‹ geführt wird.«
Ein Beispiel dafür war aus unserer Sicht der sogenannte Historikerstreit, der 1986/87 unter anderem durch einen FAZ-Artikel des Historikers Ernst Nolte ausgelöst worden war. Nolte wurde von seinen Kritikern vorgeworfen, den Nationalsozialismus durch Vergleiche zum Stalinismus zu »relativieren«. Ich selbst wurde später oft als Nolte-Schüler bezeichnet. In einer an der FU Berlin entstandenen Dissertation über die »Neue Rechte« schreibt Alice Brauner beispielsweise, »dass Zitelmann bei dem umstrittenen Historiker Ernst Nolte promoviert hat«. So wie manches andere, was über mich geschrieben wurde, war auch das falsch. Wahrscheinlich hatte die Autorin das einfach ungeprüft aus unzuverlässigen Quellen abgeschrieben. Dabei hatte sie bei mir studiert und hätte es daher durch eine einfache Rückfrage an mich herausfinden können. Ich habe in meinem ganzen Leben nie eine Vorlesung oder ein Seminar bei Ernst Nolte besucht und war auch nie sein Schüler.
Im Gegenteil. Noltes Deutung des Nationalsozialismus und meine eigene waren geradezu konträr, wie ich in meinem Beitrag für den Sammelband (»Nationalsozialismus und Antikommunismus«) zeigte. Nach Nolte war der Nationalsozialismus primär eine überschießende Reaktion des Bürgertums auf die Bedrohung durch den Kommunismus. In meiner Kritik zeigte ich überraschende Übereinstimmungen zwischen der marxistischen Faschismustheorie und Noltes Thesen auf. Ich betonte im Gegensatz zu Nolte und auch im Gegensatz zur marxistischen Faschismustheorie die Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden rivalisierenden Spielarten des Sozialismus – so wie das bereits der liberale Theoretiker Friedrich August von Hayek getan hatte.
Obwohl ich wissenschaftlich eine Gegenthese zu Nolte vertrat, gefiel mir der polemische und diffamierende Stil nicht, in dem sich seine – überwiegend linksorientierten – Kritiker mit ihm auseinandersetzten. Ich lernte Nolte in Berlin persönlich kennen. Er lud mich zu sich nach Hause ein, und wir diskutierten sachlich über unsere gegensätzlichen Sichtweisen.
Nolte war, wie er selbst einmal einräumte, eigentlich kein Geschichtsforscher, sondern eher ein Geschichtsdenker. Die Entdeckung und akribische Interpretation von Quellen war seine Sache nicht – eher die geschichtsphilosophische Reflexion. Ich hatte dabei nicht den Eindruck, dass er von unlauteren Motiven getrieben wurde. Ich plädierte also für eine sachlichere Auseinandersetzung mit ihm und ärgerte mich, dass es genau daran in den Debatten über die nationalsozialistische Zeit oft mangelte.
In dem Sammelband »Die Schatten der Vergangenheit« kamen 23 sehr unterschiedliche Autoren zu Wort – eher konservative Historiker wie Nolte, Liberale wie Imanuel Geiss und Linke wie Herbert Ammon und Wolfgang Kowalsky. Auch mein Chef, Jürgen Falter, steuerte einen Beitrag bei. Das Buch fand sehr große Beachtung in einer breiten Öffentlichkeit. In der liberalen »Zeit« erschien eine positive Besprechung mit der Überschrift: »Wider gängige Stereotypen. Ein Sammelband bemüht sich um eine Versachlichung der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit.« Auch die »Süddeutsche Zeitung«, der »Tagesspiegel« und die FAZ veröffentlichten positive Rezensionen. Brigitte Seebacher-Brandt, die Ehefrau von Willy Brandt, besprach den Band wohlwollend im »Rheinischen Merkur«, und Peter Brandt, der Sohn von Willy Brandt, schrieb eine positive Rezension in der »Welt«.
Sehr weit links orientierte Historiker sahen das allerdings ganz anders. Alexander Ruoff kritisierte den Sammelband als Teil einer Diskursstrategie einer »Neuen Rechten«, die eine Änderung des Geschichtsbewusstseins und der politischen Kultur der Bundesrepublik beabsichtige. Ziel sei dabei ein »Richtungswechsel von einer offen revisionistischen und apologetischen Linie zu einer Historisierung und Einordnung des Nationalsozialismus«. Wolfgang Wippermann, der bei Nolte promoviert hatte, jedoch weit links stand, attackierte den Band mit einem ähnlichen Tenor.
Ein Jahr danach gab ich – gemeinsam mit Michael Prinz von der Universität Bielefeld – einen weiteren Sammelband bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft heraus. Darin ging es um das Thema »Nationalsozialismus und Modernisierung«. Wir hatten mehrere Autoren versammelt, die die modernisierende Funktion des Nationalsozialismus belegten. Schon der bekannte liberale Soziologe Ralf Dahrendorf hatte die These vertreten, der Nationalsozialismus habe einen Modernisierungsschub in der deutschen Gesellschaft bewirkt. Der Nationalsozialismus habe »für Deutschland die in den Verwerfungen des kaiserlichen Deutschland verlorengegangene, durch die Wirrnisse der Weimarer Republik aufgehaltene soziale Revolution vollzogen«, argumentierte er. Die Menschen seien dabei aus überlieferten, engen Bindungen herausgelöst und »einander gleichgemacht« worden. Freilich, so Dahrendorf, sei Hitler nicht ausgezogen, um diese soziale Revolution auszulösen und zu vollenden. Seine Politik habe vielmehr das Gegenteil des Gewollten bewirkt.
Zwar stimmte ich Dahrendorf und anderen Autoren zu, die die modernisierende Funktion des Nationalsozialismus betonten. Mit der These von dem Widerspruch zwischen Intention und Wirkung, wonach also diese Modernisierung gar nicht beabsichtigt gewesen sei, hatte ich mich schon kritisch in meiner Doktorarbeit auseinander gesetzt. Dort wies ich nach, dass Hitler sich selbst als sozialen Revolutionär sah und durchaus kein Gegner der Modernität war.
Der Historiker Klaus Hildebrand kommentierte die Kontroverse um die Modernität des Nationalsozialismus später so: »Dass die nach wie vor andauernde Kontroverse überhaupt entstehen konnte, ja vielleicht sogar entstehen musste, hat, wie das oftmals in vergleichbaren wissenschaftlichen Streitfällen anzutreffen ist, mit den Begriffen zu tun, die für den umstrittenen Gegenstand benutzt werden: Die einen, wie Hans Mommsen und Heinrich August Winkler beispielsweise, binden das Projekt der Moderne, den Prozess der Modernisierung und den Befund von Modernität in normativem Sinn an Demokratisierung, Emanzipation und Humanität, die anderen, Rainer Zitelmann und Michael Prinz beispielsweise, lösen diesen positiv konnotierten Zusammenhang auf und testieren selbst einer zutiefst verwerflichen Existenz wie dem Nationalsozialismus moderne Absichten und modernisierende Wirkungen …«
Es handelte sich indes nicht lediglich um einen Streit um Begriffe. In meinem Beitrag für den Band von Prinz und mir wandte ich mich gegen den – nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme zwar verständlichen, aber naiven – Fortschrittsoptimismus. Verbreitet war damals eine Sichtweise wie in dem 1987 erschienenen Buch »Die demokratische Weltrevolution«. Darin schrieb der Staatsrechtler Martin Kriele, es gebe eine Gesetzmäßigkeit, nach der am Ende die Demokratie ihren weltweiten Siegeszug antreten werde. Er berief sich dabei auf die teleologische Geschichtsphilosophie von Hegel und Kant, wonach die Weltgeschichte eine Geschichte des Fortschritts der Freiheit und des Bewusstseins der Freiheit war.
Auch ich fragte 1991 in meinem Beitrag für den von Prinz und mir edierten Band: »Spricht der Zusammenbruch der Diktaturen in Osteuropa und der sich dort vollziehende Demokratisierungsprozess nicht für den unauflösbaren Zusammenhang von Demokratisierung und Modernisierung?« Meine Antwort darauf fiel jedoch, anders als bei Kriele und anderen Autoren, skeptisch aus: »Zweifelsohne besteht die Gefahr, dass wir uns zu sehr von der Faszinationskraft gegenwärtiger Entwicklungen beeindrucken lassen. Skepsis ist angebracht, wenn manche Beobachter vorschnell von einem Ende der Geschichte sprechen, das mit dem endgültigen Sieg der demokratischen Ordnung gekommen sei.« 26 Jahre nachdem ich diese Sätze schrieb, ist leider offenkundig, dass meine Skepsis begründet war. Der unaufhaltsame Fortschritt in der Technik erscheint als ein Gesetz, aber dass dies mit einem unaufhaltsamen Fortschritt in Richtung Demokratie und Freiheit einhergeht, hat sich leider als Irrtum herausgestellt.
Ich kritisierte damals nicht nur den aus meiner Sicht naiven Fortschrittsoptimismus, sondern ganz generell eine politisierte Geschichtswissenschaft. Mich störte die emotionale Aufgeladenheit und Aufgeregtheit der Diskussion, denn Wissenschaft sollte sich um Erkenntnis bemühen und dabei gegensätzliche Meinungen aushalten. Durch den Historikerstreit war die Debatte jedoch hochemotionalisiert. Das führte zu absurden Blüten: Nachdem ich den ersten Band der »Braunen Elite« bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft herausgebracht hatte, wollte ich das Projekt zusammen mit dem amerikanischen Historiker Ronald Smelser fortsetzen. Wieder war es uns gelungen, international renommierte Historiker aus vielen Ländern zu gewinnen, die 21 weitere Porträts über die führenden Männer des Nationalsozialismus schrieben.
Einer davon war der bekannte britische Historiker Ian Kershaw. Sein Beitrag für den Band wurde zum Problem. Inzwischen war leider der Lektor, der den ersten Band ausgesprochen professionell betreut hatte, verstorben. Seine Stelle bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft hatte ein Nachfolger eingenommen, bei dem das Engagement für eine vermeintlich gute Sache jedenfalls deutlich stärker ausgeprägt war als seine Fachkenntnisse der Geschichtswissenschaft. Der neue Lektor suchte offenbar krampfhaft mit dem antifaschistischen Eifer der richtigen (also linken) Gesinnung nach Belegen für rechtslastige Beiträge – und fand diese vermeintlich ausgerechnet in dem Beitrag des Autors Ian Kershaw, der heute der bekannteste britische Experte für den Nationalsozialismus ist und später eine voluminöse Hitler-Biografie veröffentlichte. Dass Kershaw selbst ein Linker war, wusste der fachlich wenig beschlagene Lektor indes nicht. Ich hatte den Eindruck, er halte Kershaw für einen rechten Geschichtsrevisionisten, obwohl er das natürlich nicht so deutlich sagte. So gab es Streit um Kershaws Beitrag, weil der Lektor dort Rechtslastigkeit witterte, wo zuallerletzt Anlass dafür gegeben war.
Ich war schließlich so entnervt durch den Lektor (dessen Name ich erfolgreich verdrängt habe), dass ich einen Freund, Enrico Syring, bat, das von mir initiierte und bis dahin begleitete Projekt zu Ende zu führen. Daher trägt der zweite Band dieses Sammelwerkes die Namen von drei Herausgebern. Mit dem Verlag überwarf ich mich endgültig, als er im November 1998 per Brief mit einer »auf den ersten Blick für Sie sicher ungewöhnlichen Anfrage« an mich herantrat, nämlich ob ich einverstanden sei, dass mein Name als Herausgeber auf dem zweiten Band gestrichen werde, weil ich mich inzwischen »einem völlig anderen Arbeitsfeld zugewandt« habe. Selbstverständlich, so hieß es weiter, »würden die Honorarvereinbarungen aufgrund Ihres großen Anteils am Zustandekommen der Bücher überhaupt von dieser Regelung nicht betroffen sein«. Natürlich lehnte ich den unverschämten Vorschlag, der mit den anderen Herausgebern auch nicht abgestimmt war, ab.
Zwar musste ich eine solche Erfahrung zum Glück nur ein einziges Mal machen, doch auch sonst bereitet die Herausgabe eines wissenschaftlichen Sammelbandes nicht nur Freude, sondern ist eine überaus anstrengende Sache. Nach jedem Sammelband schwor ich mir, dies sei der letzte gewesen. Denn kaum ein Autor gibt pünktlich ab, viele halten sich nicht an die Umfangsvorgaben und andere formale Regeln, manche können nicht gut schreiben, sind aber uneinsichtig und beleidigt, wenn man sie darauf hinweist, dass ihrem Text eine sprachliche Überarbeitung guttäte. Andererseits knüpft man durch eine solche Herausgebertätigkeit neue Kontakte zu Wissenschaftlern, womit das Netzwerk erweitert wird. Dennoch, wer nie einen Sammelband herausgegeben hat, unterschätzt die damit verbundene Arbeit. Ich jedenfalls kann viel schneller und problemloser ein Buch alleine schreiben, als einen Sammelband herauszugeben.
In den Jahren an der Freien Universität schrieb ich auch einige wissenschaftliche Aufsätze. 1989 erschien im Piper Verlag ein von Wolfgang Michalka herausgegebener Band über den Zweiten Weltkrieg, in dem 50 Historiker Vorgeschichte, Verlauf und Ergebnisse des Krieges analysierten. Mein Beitrag befasste sich mit der »Begründung des ›Lebensraum-Motivs‹ in Hitlers Weltanschauung«. Ich wies darin nach, dass der von Hitler nach außen propagierte »Kampf gegen den jüdischen Bolschewismus« nur eine Propagandaparole war, an die er selbst nicht glaubte. Zahlreiche Äußerungen Hitlers im vertrauten Kreis zeigten, dass er in Wahrheit in Stalin einen neuen Zaren sah, den er in vieler Hinsicht sogar bewunderte. Der Krieg gegen Russland war vor allem ökonomisch motiviert, weil Hitler Russland und die Ukraine als Rohstoffquelle und Absatzgebiet sah. Der Beitrag ist mir so wichtig, dass ich ihn 2017 im Anhang der Neuauflage meines Hitler-Buches abdrucke.
Neben wissenschaftlichen Fachbeiträgen publizierte ich häufiger Artikel in der Wochenzeitung »Rheinischer Merkur«. Erwähnen möchte ich den Beitrag, den ich im November 1988 zusammen mit Eckhard Jesse unter dem Titel »Die Tabus der Tabubrecher« veröffentlichte. Der Chefredakteur der Wochenzeitung, Thomas Kielinger, hatte uns eine prominente Stelle eingeräumt, nämlich die komplette dritte Seite. Es ging um die Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Philipp Jenninger, zum Gedenken an den 50. Jahrestag der Reichspogromnacht in Deutschland. Dessen Rede führte zu einem großen Skandal. Einige, die ihn bewusst missverstehen wollten, unterstellten ihm, er habe Hitler und den Nationalsozialismus beschönigt, weil er bei der Verlesung seiner Rede die Anführungszeichen zu manchen Begriffen nicht ausreichend betont habe. Es entstand eine hysterische Diskussion in Deutschland und im Ausland, und Jenninger musste sofort von seinem Amt zurücktreten.
In der damals aufgeregten Situation versuchten Eckhard Jesse als Politikwissenschaftler und ich als Historiker die Rede ruhig zu analysieren. Wir wandten uns in dem gemeinsamen Artikel gegen die immer wieder vorgetragene These, es gebe Themen, über die man nicht öffentlich sprechen dürfe. »Verbirgt sich dahinter nicht auch eine Arroganz jener, die selbst glauben, aufgeklärt und urteilsfähig zu sein, dies aber dem angeblich ›mündigen Staatsbürger‹ absprechen möchten? Sind solche Argumente nicht auch problematisch, weil sie kontraproduktiv wirken? Weil der Eindruck entsteht, wichtige Aspekte sollten verschwiegen, notwendige Diskussionen unterdrückt werden?«
Man warf Jenninger vor, er habe die Zustimmung der Deutschen zu Hitler überzeichnet, was jedoch eindeutig nicht der Fall war. »Aber war es nicht«, so fragten Jesse und ich, »der – bisher selten unternommene – Versuch des ›Verstehbarmachens‹ und des ›Verstehens‹ dessen, was geschah?« Damals gab es nicht viele, die es wagten, Jenninger gegen ungerechtfertigte Kritik zu verteidigen. Zu den wenigen Ausnahmen gehörte der CDU-Politiker Armin Laschet, der das lesenswerte Buch »Philipp Jenninger – Rede und Reaktion« (zusammen mit Heinz Malangré) herausgab. Dort wurde auch der Aufsatz von Jesse und mir erneut veröffentlicht. In der Folge wurden Jenninger und seine Rede rehabilitiert, unter anderem dadurch, dass der spätere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, demonstrativ umstrittene Passagen aus Jenningers Ansprache in eine eigene Rede übernahm, ohne damit Anstoß zu erregen.
Ebenfalls im »Rheinischen Merkur« veröffentlichte ich im Juni 1991 einen Beitrag unter dem Titel »Träume vom neuen Menschen«. Damals war die These verbreitet, mit dem Zusammenbruch des Kommunismus sei das »Ende des utopischen Zeitalters« (Joachim Fest) oder gar das »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) erreicht worden. Ich hielt nicht viel von diesen Thesen. »Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts vermittelt eine eindeutige Lehre: dass das Grauen im Gewand der hoffnungsvollen Verheißung daherkommt. Das hehre Ideal der klassenlosen Gesellschaft endete im Archipel GULag, die Utopie der geschlossenen Volksgemeinschaft in Auschwitz.« Der pessimistische Schluss meines Beitrages lautete: »Ob die leidvollen Erfahrungen mit den realen Experimenten des ›neuen Menschen‹ den wirklichen Menschen eine Lehre sein werden, ist jedoch zweifelhaft. Vermutlich lautet der Schluss eher, das Experiment müsse unter besseren Bedingungen und mit neuen Zielvorgaben wiederholt werden.«
Das war eine so ungewöhnliche Sicht, dass der Redakteur des »Rheinischen Merkur« sie nicht verstand und den Artikel so redigierte und umschrieb, dass am Schluss genau das Gegenteil dessen vertreten wurde, was ich geschrieben hatte. Durch die Umformulierung sah es so aus, als ob ich nicht befürchte, sondern mir selbst wünschte, dass das sozialistische Experiment noch einmal wiederholt werde. Zwar entschuldigte sich der Chefredakteur bei mir, und es gab eine Korrektur in der nächsten Ausgabe, aber Leser, die mich kannten, wunderten sich sehr.
Brigitte Seebacher-Brandt sagte mir, sie habe geglaubt, ich hätte einen über den Durst getrunken, als ich den Artikel verfasste. Und der »Spiegel« staunte: »Der Berliner Historiker Rainer Zitelmann hat allen Ernstes vorgeschlagen, das realsozialistische Experiment einer heilen Welt ›unter besseren Bedingungen und mit neuen Zielvorgaben‹ zu wiederholen.« Später veröffentlichte ich diesen Artikel, der mir besonders wichtig war, in der Ursprungsfassung in dem von Richard Saage herausgegebenen Band »Hat die politische Utopie eine Zukunft?«.
Neben den Sammelbänden, Aufsätzen und den Recherchen für meine Habilitation begeisterte ich mich immer mehr dafür, Buchbesprechungen zu schreiben. Ich hatte ja schon als Kind in meiner Schülerzeitung Buchtipps gegeben und später viele Bücher zusammengefasst und bewertet – allerdings damals nur für mich und einige Freunde. Nun hatte ich die Gelegenheit, in Tageszeitungen, Wochenzeitungen, Fachzeitschriften und im Rundfunk Buchbesprechungen zu publizieren.
Ich habe sie nicht gezählt, aber ich bin sicher, dass es Hunderte Besprechungen von historischen und politischen Büchern waren, die ich Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre veröffentlicht hatte. Die meisten von ihnen schrieb ich für die »Süddeutsche Zeitung« und die FAZ. Auch »Die Welt«, die »Neue Zürcher Zeitung«, der »Rheinische Merkur« und der Berliner »Tagesspiegel« druckten viele meiner Buchbesprechungen. Sogar die »Zeit« und die linke taz publizierten manchmal Rezensionen aus meiner Feder. Mir machte das Spaß, außerdem besserte ich damit mein Gehalt als Hochschulassistent nicht unerheblich auf, denn besonders die Rundfunksender und die überregionalen Tageszeitungen zahlten ordentliche Honorare. Vor allem aber erhöhte ich damit meine Bekanntheit, mein Netzwerk weitete sich aus. Kritiker witterten bald ein »Rezensionskartell«.
Die Wahrheit ist oft banaler. Der für Buchbesprechungen beim »Tagesspiegel« zuständige Redakteur erklärte mir mal in aller Offenheit: »Eigentlich teile ich Ihre Positionen nicht. Aber ich mag Sie als Mensch, und vor allem liefern Sie ausnahmslos Texte ab, an denen ich nichts mehr machen muss – und nie auch nur einen Tag später als versprochen.« Den verantwortlichen Redakteur bei der »Süddeutschen«, Peter Diehl-Thiele, freute es, wenn er mir hie und da ein riesiges Bücherpaket schickte und dann eine Menge Besprechungen bekam, die sprachlich und von der Länge passten, ohne dass er damit Arbeit hatte.
Nur bei der FAZ kam ich zunächst nicht weiter. Ich wollte unbedingt auch dort meine Besprechungen unterbringen. Immer wieder schickte ich Angebote, die unbeantwortet blieben. Manch einer hätte wahrscheinlich irgendwann frustriert aufgegeben. Es ist eine meiner Stärken, dass ich dazu gar nicht neige. Ich bin lieber zu penetrant, als die Flinte rasch ins Korn zu werfen. Also schickte ich unverdrossen weiter meine Besprechungen an die FAZ, und eines Tages bekam ich die positive Antwort, die Zeitung werde einen Text abdrucken. Der zuständige Redakteur hatte gewechselt und jetzt war Eckhard Fuhr (der später zur »Welt« wechselte) verantwortlich für die Besprechungen. Ihm gefielen meine Texte offenbar besser als seinem Vorgänger. Von da an war ich für einige Jahre einer der meistgedruckten Rezensenten politisch-historischer Bücher auch in der FAZ. Ich sah mich darin bestätigt, dass man nicht zu früh aufgeben soll.
Durch die Besprechungen und Bücher wurde ich so bekannt, dass Fernsehjournalisten auf mich aufmerksam wurden. So lud mich der ZDF-Historiker Professor Guido Knopp zu einer Diskussion über »Hitler heute« in prominenter Besetzung ein. Neben mir diskutierten die angesehenen Professoren Eberhard Jäckel und Klaus Hildebrand sowie die bekannte Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich und der deutsche Literatur-Papst Marcel Reich-Ranicki. Das war allerdings erst Mitte der 90er Jahre, als ich die Universität schon verlassen hatte.
Die vielen Besprechungen und Sammelbände, so muss ich heute zugeben, hielten mich leider von dem ab, worauf ich mich besser konzentriert hätte, nämlich von meiner Habilitation. Ich sammelte zwar eifrig Material, aber ich fing nicht an zu schreiben, weil ich immer noch einen neuen Sammelband herausgeben oder eine weitere Besprechung veröffentlichen wollte. Die Stelle, die ich angetreten hatte, war auf sechs Jahre befristet. Vermutlich hätte ich die Habilitationsschrift doch noch erstellt, aber ich kündigte den Vertrag zu Ende Februar 1992, 20 Monate bevor er ausgelaufen wäre. Dabei verstand ich mich mit meinem Chef sehr gut. Die Gründe für meine Kündigung waren andere.
Der wichtigste Grund war, dass ich durch die Wiedervereinigung zunehmend politisiert worden war. Seit vielen Jahren war ich ein vehementer Befürworter der Wiedervereinigung gewesen, was einem damals allerdings schon den Vorwurf des Nationalismus einbrachte. Die meisten Intellektuellen hatten die deutsche Zweistaatlichkeit als Endzustand der Geschichte verklärt oder als gerechte Strafe für Hitlers Verbrechen. Nur wenige, so wie Axel Springer, hatten an dem Gedanken der deutschen Einheit festgehalten.
Als ich im Fernsehen sah, dass die Mauer gefallen war, kamen mir die Tränen – was aus politischen Gründen bis dahin nie geschehen war. Am folgenden Tag ließ ich meine Lehrveranstaltung an der Uni ausfallen und ging mit meinen Studenten dorthin, wo sich Geschichte nunmehr live abspielte.
Die Welt erlebte in diesen Monaten einen epochalen Umbruch – den Zusammenbruch des kommunistischen Systems, die Wiedervereinigung Deutschlands. Sosehr mir die Beschäftigung mit historischen Themen Spaß machte, so spürte ich doch andererseits den Drang, selbst stärker in die politischen Debatten einzugreifen, zu gestalten und nicht nur zu analysieren. Sollte ich in diesen Jahren größter historischer Umbrüche meine Zeit in historischen Archiven verbringen und eine Habilitationsschrift über ein Thema verfassen, das sich politisch inzwischen erledigt hatte? Oder sollte ich mitten im Geschehen mitwirken und mich noch stärker an den bevorstehenden geistigen Auseinandersetzungen und intellektuellen Debatten beteiligen?
Aus meiner Sicht musste ich mich nun entscheiden, ob ich vor allem Wissenschaftler sein wollte oder jemand, der aktiv in die politischen und intellektuellen Debatten eingriff. Beides zugleich zu sein, davon hielt ich nicht viel. Denn ich fand, dass die Vermengung von Wissenschaft und Politik – egal welcher Couleur – ungut ist: Der Wissenschaftler soll sich um möglichst objektive Erkenntnis bemühen, der Politiker will aktiv verändern und gestalten. Wissenschaftler, die die Wissenschaft als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln betrachteten, waren mir stets suspekt, gleichgültig, ob diese Politik eher links oder eher rechts ist.
In dieser Situation bekam ich ein Angebot des Münchner Verlegers Herbert Fleissner, dem eine ganze Verlagsgruppe gehörte, unter anderem – gemeinsam mit dem Axel-Springer-Verlag – die Verlagsgruppe Ullstein-Propyläen. Fleissner hatte ich kennengelernt, als wir das Buch »Die Schatten der Vergangenheit« in seinem Verlag herausgaben. Und nun fragte er mich, ob ich Cheflektor für die Verlage Ullstein und Propyläen werden wollte.